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Roma, Amarcord, Il Casanova di Fellini, Prova d’orchestra
1972–1980
Sind dir im Film Roma irgendwelche Aspekte der Stadt entgangen?
Massenhaft, um nicht zu sagen, alles oder fast alles. Bei anderen Filmen hatte ich nach Abschluss der Dreharbeiten das Gefühl, die mir vorgenommenen Themen bis zum Gehtnichtmehr behandelt zu haben. So kam es mir nach Le notti di Cabiria absurd vor, dass es die Passeggiata Archeologica15 überhaupt noch gab. Und so war die Via Veneto16 für mich vorbei, nachdem die letzten Filmbauten davon abgerissen worden waren. Wenn ich später in der Gegend vorbeikam, wunderte ich mich immer, dass sie noch da war, dass das Café de Paris, das Excelsior, das Caffè Doney noch da waren. Dass es heute mit der Via Veneto vorbei ist, hat mich kein bisschen berührt, eher hat mich erstaunt, wie lange sie sich gehalten hat.
Nach Abschluss der Dreharbeiten für Roma hingegen hatte ich sofort das frustrierende Gefühl, die Stadt kaum gestreift zu haben. Sie existierte weiter, faszinierend, nicht erkennbar, sie ignorierte souverän den Film, den ich ihr gewidmet hatte, als hätte er nichts mit ihr zu tun. Ich bin wie in einer Tauchkugel unterwegs. Mein Blick ist seltsam: Er sieht nur die Dinge, wovon ich will, dass er sie sieht, vielleicht solche, die mich erschrecken oder entsetzen.
»Nach Abschluss der Dreharbeiten für Roma hatte ich das frustrierende Gefühl, die Stadt kaum gestreift zu haben. Sie existierte weiter, sie ignorierte souverän den Film, den ich ihr gewidmet hatte.«
Du bist zu bescheiden: Du hast Dinge von Rom gesehen, die vor dir niemand gesehen hatte.
Ich sah mich unermesslich viel Material gegenüber und wollte darin nicht ertrinken, nicht Schiffbruch erleiden wie die Medusa. Da waren Rom, wie ich es mir als Schüler in Rimini aufgrund der Schulbücher vorgestellt hatte, der Faschismus, Julius Cäsar, das amerikanische Kino, Rom aus der Sicht von Riminis Müßiggängern, eine Art Damaskus, Bagdad, Ninive, eine Art Pop-Pastiche all dieser verzerrten Vorstellungen; das Rom von 1938/39, als ich in der Stadt ankam, ein Rom, gesehen mit den dürstenden und geblendeten Augen eines Provinzlers, mit dem Krieg, dem Varieté, den Vorprogrammen in den Kinos, den Römerinnen, üppig und schmachtend wie Odalisken; das Rom der Fünfziger- und Sechzigerjahre mit seinem Wahnsinn, seiner explosiven Spannung, mitreißend bis zum Delirium; das zeitlose Rom mit seiner unmenschlichen Schönheit, seiner Sirenenhaftigkeit, dem Licht einer Fata Morgana, seinen Palästen, seinen Schatten, seinen Höfen, seinen Farben, seinen absurden und überwältigenden Perspektiven.
Was hättest du noch mit drinhaben wollen, was jetzt nicht drin ist?
Unglaublich viel, wie gesagt. Ich hätte gern eine Sequenz über den Verano17 gemacht, respektive darüber, wie man in Rom mit dem Tod umgeht. In Rom hat auch der Tod etwas Vertrautes, Intimes, Häusliches, man nennt ihn »la comare secca«18, als handle es sich um einen Verwandten. Römer sagen: »Ich gehe Papa besuchen«, und dann stellst du fest, dass sie auf den Friedhof gehen. Oder, wenn jemand stirbt, sagen sie: »Er ist zu den spitzen Bäumen gegangen«, als habe er einen Ausflug gemacht. In Rom sind Friedhöfe wie große Wohnungen, in denen man auch im Pyjama und in Pantoffeln herumspazieren kann. Manchmal atmet Rom auch eine tiefe Ruhe, wie Afrika, der Raum ist hier anders, der Rhythmus, das Zeitgefühl.
Sag mal, wo lebst du eigentlich? Ist dir nie aufgefallen, dass Rom immer neurotischer und chaotischer geworden und an ein Durchkommen nicht mehr zu denken ist?
Ich habe versucht, auch diese Aspekte von Rom in ein paar Filmen zu schildern, doch dann hat man mich beschuldigt, die Stadt nicht zu lieben. Wie Jung lehrt, kann ein Anfall von Neurose, wenn er nicht gar zu heftig wird, als positives Zeichen dafür gesehen werden, dass wir in Kontakt treten sollen mit entlegenen, unbekannten Aspekten von uns selbst. Für einen Künstler stellt der pathologische Aspekt der Neurose eine Art Reichtum, einen verborgenen Schatz dar.
Andererseits ist Rom für mich immer das Rom, das ich geschaffen habe, beziehungsweise das Rom, das mich geschaffen hat und das ich wieder geschaffen habe wie einander spiegelnde Spiegel.
Außerdem ist Rom ein Mythos, und Mythen werden kultiviert, weil sie der Selbsterkenntnis dienen, wie eine unterirdische Reise, Forschungen unter Wasser, ein Abstieg in die Unterwelt auf der Suche nach den Ungeheuern, die im tiefsten Innern des Menschen hausen. Wenn Lyriker, Schriftsteller, Maler sich durch ihre Kunstform ausdrücken, berichten sie von nichts anderem als den Abenteuern dieser Reise, den Qualen dieser Forschung, den überwältigenden Gefühlen bei diesem Abstieg in die Unterwelt.
»Rom ist für mich immer das Rom, das ich geschaffen habe, beziehungsweise das Rom, das mich geschaffen hat und das ich wieder geschaffen habe wie einander spiegelnde Spiegel.«
Aber kollektive Neurosen, wie man sie in Rom feststellen kann, haben andere Folgen als individuelle Neurosen oder Neurosen, wie Künstler sie erleben.
Rom ist viel weniger neurotisch als andere Großstädte, eben weil es etwas Afrikanisches, Prähistorisches, Zeitloses an sich hat. Rom verfügt über eine uralte Weisheit, die eine Art Rettung darstellt vor den Übeln, die andere große moderne oder postmoderne Metropolen plagen. Ich bin kein Römer, aber meine Mutter war wie schon erwähnt Römerin. Ihre Familie lebte seit sieben Generationen in Rom. Meine Mutter hat mir sehr dabei geholfen, die Mentalität, die Psychologie, die Lebensart der Römer zu begreifen. Erste römische Wörter, Sätze, Redensarten habe ich aus ihrem Mund gehört. Ich könnte unendlich viele Anekdoten erzählen über die Ruhe, die Trägheit, die schläfrige Reglosigkeit von Rom und den Römern.
Die Faulheit der Römer ist ein Klischee. Ruft man morgens früh einen Maler, einen Schriftsteller, einen Bildhauer an, sind die schon bei der Arbeit. Morgens um sieben sitzt Moravia bereits am Schreibtisch. Du selbst stehst ja auch um sieben auf und bist um acht bereits unterwegs, auch wenn du nicht drehst.
Klischees entstehen nicht von ungefähr. Eben weil sie über große Weisheit verfügen, tendieren Römer dazu, keine Energie zu vergeuden, sich Mühseligkeiten, unnützes Hin und Her zu ersparen. Als ich noch ziemlich neu in Rom war, befand ich mich eines Tages im Stadtteil Prati und sollte zur Via Montecristo im Viertel Nomentano. Ich ging zu einem Mann, der an eine Wand gelehnt dasaß und sich mit einer Zeitung Luft zufächelte, weil der mittägliche Wind vom Meer noch nicht aufgekommen war. Ich fragte ihn, ob er wisse, wo die Via Montecristo sei. Immer weiterfächelnd, sah er mich an, fragte mich, woher ich sei, ob ich aus dem oberen Italien komme. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Er öffnete den Mund, als wollte er mir den Weg zur Via Montecristo beschreiben, schloss ihn dann aber wieder. Schließlich fragte er mich: »Müssen Sie da wirklich hin?«
»Ja«, antwortete ich.
»Das ist weit, weit weg. Was wollen Sie denn dort?«, sagte er.
Seit einiger Zeit wird Rom mit Kalkutta, Istanbul, Jerusalem zur Zeit von Barabbas, dem Jerusalem von Pär Lagerkvist verglichen. Auf den Straßen und in den Hauseingängen des Zentrums wimmelt es von Herumtreibern, Bettlern, Müttern, die mit Neugeborenen auf der Straße liegen, Jungen und Alten, die in Pappschachteln übernachten.
Das ist ein weiterer Aspekt, der mir die Stadt sympathisch macht. Rom ähnelt nicht nur Kalkutta, Istanbul und Jerusalem, sondern auch New York, Rio de Janeiro und Mexiko-Stadt. Für jemanden mit meinem Beruf ist es anregend, in einer Stadt zu wohnen, die gleichzeitig auch Cinecittà ist, deren Perspektiven, Bauten und menschliches Elend ältere Zivilisationen in Erinnerung rufen, andere Epochen, andere Gesellschaften.
Bevor ich die Sequenz über den U-Bahn-Tunnel drehte, den ich in der Cinecittà nachbauen ließ, nahm mich der Ingenieur, der den Bau des echten Tunnels leitet, mit auf eine Rundfahrt durch den Untergrund von Rom. Der Ingenieur war Holländer, der überall auf der Welt schon Deiche, Wälle und Zyklopenmauern gebaut hatte. Nun war er aber dermaßen am Verzweifeln, dass er mehrmals kurz davor war, das Unternehmen aufzugeben. Roms Untergrund war heimtückischer als der Urwald im Amazonasgebiet: Es gab bestimmt acht verschiedene Schichten, deren tiefste an manchen Stellen mehr als hundert Meter unter der Oberfläche lag. Wegen der Erschütterungen durch den mechanischen Maulwurf19 drohten Paläste, Denkmäler, Kirchen, Säulen, Kapitelle und Simse einzustürzen, die sich wundersamerweise über zweitausend Jahre lang gehalten hatten.
Aber jetzt stürzt Rom auch ohne Erschütterungen durch den mechanischen Maulwurf ein.
Ich gehöre nicht zu den Ästheten, die finden, man solle nichts gegen Roms Zerfall unternehmen, ja man solle ihn eher noch beschleunigen, aber ich betrachte dieses Panorama der Zersetzung, des Zusammenbruchs und der Katastrophen gern. Die zerrissenen Straßen, die in Käfige eingesperrten Denkmäler, die archäologischen Ruinen, die kosmopolitischen Menschenmassen verleihen ihm den Anschein eines Filmstudios, eines Sets, einer Bühne, die abgebaut wird, einer Stadt, die anderswohin verlegt wird. Rom ist ein geheimnisvoller Planet, der alles anzieht, der durch seine Auflösung genährt und bereichert wird. Diese Tendenz zur Selbstzerstörung macht die archäologische Szenerie der Stadt noch apokalyptischer.
Ausländische Beobachter sagen, Rom sei eine tote Stadt geworden.
Der Tod ist natürlich allgegenwärtig in einer Stadt, die über ein derart spektakuläres Kulturerbe verfügt. Er ist nicht nur in den Ruinen gegenwärtig, sondern auch in der Strenge der Barockpaläste, der Kirchenfassaden, der religiösen Rituale. Er ist, wie gesagt, sehr präsent im Leben der Römer.
Die ausländischen Beobachter sagen, Rom sei kulturell tot.
Rom muss keine Kultur hervorbringen. Rom ist Kultur, prähistorische, historische, etruskische Kultur, Renaissance-, Barock-, moderne Kultur. Jeder Winkel der Stadt ist gleichsam ein Kapitel aus einer Universalgeschichte der Kultur. In Rom hat Kultur nichts Akademisches an sich. Sie ist auch nicht museal, obschon die ganze Stadt ein enormes Museum ist. Es ist eine menschliche Kultur, da sie vollkommen frei ist von modischem Kulturgetue, von neurotischem Erneuerungswahn.
Alberto Moravia wird nicht müde zu behaupten, Rom sei eine der am wenigsten kreativen und am wenigsten spirituellen Städte der Welt. Er sagt, wie Manets Olympia sei es eine faule, träge, gleichgültige Kurtisane.
Ja, ja, eine große schläfrige Kurtisane, aber sonst bin ich mit Moravia überhaupt nicht einverstanden. Fast alle großen italienischen Schriftsteller, nicht zuletzt er selbst, lebten oder leben in Rom. Viele italienische Maler, Bildhauer und Architekten arbeiteten oder arbeiten in Rom. Filme werden in Rom gedre...