Teil 1
Cameron Crowe: Im Laufe der Jahre haben Sie so viele hervorragende weibliche Charaktere geschaffen. Sie hatten keine Schwestern. Gibt es in irgendeinem der Filme eine Figur, die Ihrer Mutter ähnelt?
Billy Wilder: Nein. Meine Mutter war anders. Also, Sie müssen wissen, wir waren keine Familie von Lesern, Sammlern oder Theatergängern. Mein Vater war jemand, der auf vielen Hochzeiten tanzte. Ihm gehörte eine Kette von Bahnhofsrestaurants. In jenen Tagen gab es noch kein Fast Food, ich spreche hier von der Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie. Er betrieb Restaurants in verschiedenen Bahnhöfen. Da kam ein Typ mit einer Klingel: »Wir halten hier für fünfundvierzig Minuten.« Die Reisenden steckten fest. Die Speisekarten waren schon gedruckt. Also aßen sie dort.
Hatten Sie jemals das Bedürfnis, einen autobiographischen Film über Ihre Kindheit zu drehen?
Nein. Ich habe die schlechteste Schule von Wien besucht. Die Schüler waren entweder zurückgeblieben oder verrückte Genies. Das Traurige an der Sache ist, dass ich, als ich vor drei Jahren das letzte Mal in Wien war, den Zeitungsleuten sagte: »Bitte schreibt, dass jeder, der mit mir zur Schule gegangen ist, sich bei mir melden soll. Ich wohne im Hotel Bristol.« Nicht ein Einziger hat sich gemeldet. Fünf Jahre zuvor war ich auch in Wien. Ich hatte ein umfangreiches Mittagessen zu mir genommen und sagte dem Concierge: »Falls jemand nach mir fragt, ich bin nicht da. Ich lege mich jetzt hin.« Eine Viertelstunde später klingelt das Telefon, und der Concierge sagt: »Es tut mir sehr leid, Mr. Wilder, aber hier ist ein Mann, der mit Ihnen zur Schule gegangen ist – sein Name ist Martini.« Und ich sagte: »Martini, ja klar! Martini! Schicken Sie ihn rauf!« Dann kam der Typ. Verbeugte sich. Kahlköpfig. »Guten Tag, Mr. Wilder.« Und ich sage: »Martini! Erinnerst du dich an diesen Kerl, diesen Lehrer? … Erinnerst du dich an all die Sachen?« [Leise] Und er schaut mich an und sagt: »Ich glaube, Sie meinen meinen Vater. Er ist vor vier Jahren gestorben.« Sein Sohn sah ihm sehr ähnlich. Die Jungs leben nicht mehr, verstehen Sie.
Ich bin jetzt neunzig Jahre alt. Wenn jemand zu mir gekommen wäre, als ich zwanzig war, und gesagt hätte, »Wie würde es Ihnen gefallen, siebzig Jahre alt zu werden?«, hätte ich gesagt: »Ist in Ordnung! Siebzig!« Jetzt bin ich zwanzig Jahre älter, und keiner würde mehr eine Wette mit mir abschließen. [Er lacht.]
»Ich habe die schlechteste Schule von Wien besucht. Die Schüler waren entweder zurückgeblieben oder verrückte Genies.«
Hatten Sie das Gefühl, dass Sie ein langes Leben haben würden?
Überhaupt nicht, nein. In meinem Leben sind so viele verrückte Dinge passiert. Aber es hätte nie mit einem Selbstmord geendet. Ich wäre auch nie mit der Frau eines anderen erwischt worden oder etwas in der Art. Dazu bin ich zu clever. Dazu habe ich zu oft solche Sachen geschrieben.
Das ist interessant, denn als ich meinen ersten Film als Regisseur machte, sagte mir jemand: »Also weißt du, deine Lebenserwartung ist gerade gesunken, denn das Durchschnittsalter eines Regisseurs liegt bei achtundfünfzig Jahren.«
Sagen Sie bitte keinem, wie alt ich bin. Pssst!
Aber manchmal sage ich mir, ich könnte auch Zahnarzt sein und zwanzig Jahre länger leben.
Das glaube ich. Ein Regisseur – ein ernsthafter Regisseur, nicht einer, der Fernsehen macht oder so – wird von innen aufgefressen. Man muss so viel runterschlucken. Und man muss für andere Leute den Kopf hinhalten. Die Formel ist ganz, ganz einfach. Man muss mit ihnen leben, wenn man einmal angefangen hat, mit ihnen zu arbeiten. Wenn ein Film halb fertig ist und etwas nicht stimmt, werden sie mich feuern, nicht einen der Schauspieler.
Daran musste ich denken, als Tom Cruise den Vertrag für Jerry Maguire unterschrieb. Mein erster Gedanke war: Wenn es ein ernsthaftes Problem geben würde, wäre ich weg vom Fenster, er aber immer noch dabei. Ich würde auf einer einsamen Insel aufwachen, jemand würde mir einen Drink mit einem Schirmchen drin reichen, und ich würde sagen: »Entschuldigung, führte ich nicht gestern noch Regie bei einem Film mit Tom Cruise?« [Wir lachen.]
Aber das ist ja nicht geschehen. Er ist ein Schauspieler, der mitdenkt. Er lässt alles so leicht aussehen. Rain Man zum Beispiel. Es hat einige Jahre gedauert, bis man gemerkt hat, dass die Rollen hätten getauscht werden können. Das wäre ein Film, den ich gerne sehen würde – der verrückte Typ ist der Gutaussehende. Tom Cruise hat auch die schwersten Rollen mit einer solchen Leichtigkeit bewältigt. Er ist wie Cary Grant. Er schafft es, die schweren Sachen mühelos einfach aussehen zu lassen. Auf der Leinwand konnte Cary Grant in ein Zimmer kommen und »Tennis, jemand?« sagen wie sonst niemand. Man schätzt diese Fähigkeit nicht, bis man einen weniger fähigen Schauspieler sieht, der dasselbe versucht. Reines Gold.
»Ich renne flink wie ein Wiesel vor unerfreulichen Leuten davon.«
Es gibt eine Geschichte über einen großen König, der lange Jahre regiert hatte. Als er im Sterben lag, fragte man ihn, wie viele Tage reinen Glücks er in den Jahren seiner Regentschaft wirklich erlebt hatte. Und der König antwortete: »Vielleicht einen.« Vielleicht einen Tag reinen Glücks.
Ja. Das ist es. Und das erfährt man, wenn man am Tag nach einer verheerenden Vorabvorführung ins Studio zurückkommt. Der Pförtner kennt einen nicht mehr. Er schaut in die andere Richtung. Man bekommt das Gefühl, dass man nicht mehr dazugehört.
War Glück jemals ein Ziel? Waren Sie glücklich in all den Jahren großer Aktivität?
Ja, ich meine, im Vergleich zum Leben anderer Menschen schon. Ja, ich hatte ein gutes Leben. Ja. Ein sehr gutes Leben. Ich bin mehr als vierzig Jahre mit einer Frau verheiratet, die ich liebe. Ich hatte eine gute Karriere. Irgendwie … Ich weiß, dass es irgendwann ein Ende haben wird. Mir geht es immer noch gut. Ich habe immer noch gute Einfälle. Und nein, keine schlimmen Erinnerungen, und keine Leute, die ich hasse. [Er macht eine Pause, als hätte er gerade das Geheimnis verraten, wie man in Hollywood seinen Lebensabend in Frieden verbringen kann.] Die kommen nicht in meine Nähe, weil ich flink wie ein Wiesel vor unerfreulichen Leuten davonrenne. Und ich bin gesund. Neunzig ist ziemlich gut. Ich hätte gerne einige dieser ganz großen Filme gemacht, die andere gemacht haben … Es gibt einige sehr wunderbare Filme, und da wünschte ich mir, ich hätte sie gemacht. Aber was soll’s. Ich bin nun mal ehrgeizig, ich würde nichts anfassen, was nicht gut riecht, selbst wenn man mir das Zehnfache bezahlen würde. Das würde ich nicht tun. Ich meine es gut. Ich wünsche allen meinen Co-Regisseuren, sowohl denen, die vor mir Erfolg hatten, als auch denen, die heute erfolgreich sind, alles Gute und applaudiere ihnen. Wenn man das mit neunzig sagen kann, dann hatte man ein gutes Leben.
Ich möchte auf einige Gerüchte zu sprechen kommen, die Sie bestätigen oder dementieren können. Hier ist eines. Man sagt, in Ihrer Zeit als »Gigolo« in Berlin hätten Sie mehr getan, als nur mit Ihren Partnerinnen zu tanzen.
Nein, nein.
Also endete der Abend beim Essen?
Absolut, denn die Damen kamen mit ihren Ehemännern. Sicher. Und es waren korpulente Damen, ältere Damen. Ich war nicht gerade der beste Tänzer, aber ich führte die besten Gespräche mit den Damen, mit denen ich tanzte. Nachmittags trug ich einen dunklen Anzug, abends einen Smoking. Es wurde zum Cocktail getanzt zwischen fünf und sieben, und abends nach halb neun. Ich erinnere mich daran, dass ich mich eines Tages beschwerte, wie sehr meine Schuhe zu leiden hatten. Als ich am nächsten Tag kam, gab mir der Concierge ein Paket mit zwölf Paar alten Schuhen des Ehemanns der Dame. [Er lächelt.] Aber sie waren viel zu groß für mich. Ich habe mich allerdings gefragt, ob ich es auch getan hätte, wenn ich kein Zeitungsmann gewesen wäre, der vorhatte, darüber eine Artikelserie zu schreiben. Ich weiß es nicht, aber jedenfalls war das ganz neu damals. Ich hatte eine Freundin, eine Amerikanerin, und die brachte mir einen neuen Tanz bei, den man Charleston nannte. Das war in den Zwanzigerjahren, wissen Sie, und danach gab ich Charleston-Unterricht.
Lassen Sie uns über einen Ihrer Lieblingsschauspieler sprechen, jemanden, der Ihre Dialoge und Ihren Stil zum Leben erweckte – Jack Lemmon. Wie sind Sie auf ihn gekommen?
Ich wusste, dass er da war. Er hatte Mr. Pulver in Keine Zeit für Heldentum gespielt [1955] und dafür einen Oscar bekommen. Er war zum Schreien komisch und er war ganz neu. Er stand bei Columbia unter Vertrag, machte drei oder vier Filme im Jahr, und ich mochte ihn. Mir gefiel seine Qualität. Als er zum ersten Mal im Studio vor der Kamera stand [Die unglaubliche Geschichte der Gladis Glover, 1954] unter der Regie von George Cukor, lief er auf Hochtouren. Er rattert eine halbe Seite Dialog herunter, ratatatatat, dann kommt das »Cut« und er sieht zu Cukor hinüber. Cukor geht zu ihm hin und sagt: »Es war ganz wunderbar, Sie werden ein großer Star sein. Aber … bei dieser großen Rede, bitte, bitte, ein kleines bisschen weniger, etwas weniger. Wissen Sie, im Theater gibt es nur die Totale, und da müssen Sie sich reinhängen. Aber beim Film schneiden wir auf eine Großaufnahme, und da können Sie nicht so stark sein.« Also macht er es wieder, nimmt sich zurück. Und wieder sagt Cukor: »Wunderbar! Ganz phantastisch, und jetzt machen wir’s noch mal, und bitte etwas weniger.« Nach dem zehnten oder elften Mal, nachdem Mr. Cukor ihn ermahnte, »etwas weniger« zu geben, sagt Mr. Lemmon: »Mr. Cukor, um Himmels willen, Sie wissen, wenn das so weitergeht, werde ich gar ...