THOMAS CAMPANELLA
DER SONNENSTAAT
EINE AUSWAHL
Der Genuese berichtet:
In einer weltgestreckten Ebene erhebt sich ein mächtiger Hügel, auf dem der größte Teil der Stadt staffelförmig angelegt ist. Die vielfachen Umkreise der Stadt erstrecken sich eine lange Strecke über den Fuß des Berges hinaus, so daß der Durchmesser der Stadt zwei, ihr Umfang aber über sieben Meilen beträgt. Infolge ihrer hügeligen Lage nimmt sie mehr Raum ein, als wenn sie in der Ebene läge. Sie ist in sieben große Kreise eingeteilt, die nach den sieben Planeten benannt sind. Aus einem in den andern gelangt man auf vier Wegen und durch vier Tore, die nach den vier Weltgegenden gerichtet sind. Diese Stadt ist so gebaut, daß, wenn jemand den ersten Kreis erobert hätte, er die doppelte Anstrengung daranwenden müßte, um den zweiten zu erobern, und noch größere, um den dritten in die Hand zu bekommen, und so hätte er immerfort gesteigerte Bemühungen und Anstrengungen aufzubieten, so daß die Stadt siebenmal von ihm erobert werden müßte. Ich bin aber der Ansicht, daß nicht einmal der erste Kreis eingenommen werden könnte, mit so breiten Erdwällen ist er eingefaßt und mit Bollwerken aller Art befestigt und bewehrt, wie Türmen, Gräben, Bombarden. Als ich nun durch das nördliche Tor eingetreten war, das mit Eisen überzogen und so gearbeitet ist, daß es In die Höhe gezogen und herabgelassen werden kann und sich mit Leichtigkeit und völliger Sicherheit schließen läßt, indem seine Angeln sich höchst kunstvoll in den Rinnen starker Balken bewegen, erblickte ich einen ebenen Zwischenraum von siebzig Schritt, der die erste Mauer von der zweiten trennt. Dann sieht man großartige Paläste, die alle an die Mauern des zweiten Kreises angebaut sind, so daß man sie sämtlich für einen einzigen Gebäudekomplex halten könnte. In halber Höhe der Paläste sieht man den ganzen Kreis entlang fortgeführte Schwibbogen mit Spazierdächern auf denselben, von schönen, unten breit auslaufenden Säulen getragen, die wie Peristyle oder Klosterräume eine Säulenhalle umsäumen.
Unten sind nur Eingänge in den konkaven Partien der Mauern, in die unten belegenen Zimmer gelangt man ebenerdig und in die oberen Stockwerke auf Marmortreppen, die zu Spazierdächern im Innern führen, von denen man wieder in die oberen prächtigen Stockwerke gelangt. Diese empfangen Licht durch zierlich gestaltete Fenster, die sich im konkaven und im konvexen Teile der Wände befinden.
Die konvexe, d. i. die sich ausbauchende oder vorspringende Mauer, hat eine Dicke von acht Spannen, die konkave auf der Innenseite von nur drei Spannen, die Zwischenmauer nur von einer Spanne oder vielleicht noch einer halben.
Wenn man über die erste Ebene hinüber ist, gelangt man auf die zweite, die etwa um drei Schritte schmäler ist. Von hier aus erblickt man die erste Mauer des zweiten Kreises, mit ähnlichen Wandelgängen oben und unten geschmückt, und mehr nach rückwärts ist eine zweite Mauer, welche die dort befindlichen Paläste umfängt, und unten befinden sich von Säulen getragene Erker und Peristyle, oben aber, wo die Ausgänge der höher gelegenen Häuser sind, sind ausgezeichnete Gemälde angebracht. So geht man durch ähnliche Kreisrundgänge und doppelte Mauern, die Paläste zwischen sich einschließen und mit Wandeldächern nach außen geschmückt sind, die von Säulen gestützt werden, und gelangt zum obersten Rundgang, immerfort auf gerader Fläche. Nur wenn man durch die Tore der einwärts und der auswärts gebogenen Mauer schreitet, steigt man über Stufen, was man aber kaum gewahr wird, da sie sehr schräg angehen und die Steigung der einzelnen Stufen kaum merkbar ist.
Am Gipfel des Berges aber ist eine geräumige Ebene, in deren Mitte ein Tempel errichtet ist, der sich als ein wunderbarer Kunstbau erhebt.
Der oberste Fürst bei ihnen ist ein Priester, den sie in ihrer Sprache Sol (Sonne) nennen; wir würden ihn in unserer Sprache Metaphysikus nennen. Er ist der höchste Machthaber in geistlichen und weltlichen Dingen; alle Angelegenheiten und Streitigkeiten werden durch sein Urteil entschieden.
Ihm stehen drei andere Häupter gleichberechtigt zur Seite: Pon, Sin und Mor, in unserer Sprache: Macht, Weisheit und Liebe.
Dem »Macht« liegen die Interessen des Krieges und Friedens ob, so alle militärischen Angelegenheiten; darin ist er unbedingter Herr, doch nicht über dem Sol. Er hat die Oberaufsicht über die militärischen Behörden, über das Heer, über die Kriegsvorräte, die Befestigungen, die Belagerungen, die Kriegsmaschinen und über alle dahin einschlägigen Dinge.
Dem »Weisheit« unterstehen die freien und die mechanischen Künste und die Wissenschaften, die betreffenden Behörden und die Unterrichtsanstalten.
Sie haben nur ein einziges Buch, das sie »Weisheit« nennen, ein Kompendium aller Wissenschaften, die mit wunderbarer Leichtigkeit zusammengefaßt sind. Dieses lesen sie dem Volke nach der Weise der Pythagoräer vor. »Weißheit« hat die Mauern der ganzen Stadt von außen und von innen, sowohl oben wie unten mit ausgezeichneten Gemälden schmücken lassen, welche in herrlicher Anordnung die Wissenschaften darstellen. Auf den äußern Wänden des Tempels und auf den Vorhängen, die herabgelassen werden, wenn der Priester predigt, damit der Schall seiner Stimme nicht zerstreut wird, sind die gemalten Sterne zu erblicken, und in drei Verschen sind ihre Große, ihr Lauf, ihre Bahnen und ihre geheimen Kräfte geschildert. Auf der Innenseite der Mauer des ersten Kreises sind alle mathematischen Zeichen und Zahlen abgebildet.
Auf der konvexen Außenseite dieser Mauer befindet sich eine Beschreibung der ganzen Erde. Darauf folgen Speziallandkarten der einzelnen Provinzen, worauf die Sitten und Gebräuche, die Gesetze, der Ursprung und die Streitkräfte jedes Volkes in einem kurzen Prosa-Auszug angegeben sind und die verschiedenen Alphabete der Völker stehen über dem Alphabet des Sonnenstaates.
Auf der Innenseite der Mauer des zweiten Kreises sind mit Hilfe der Malerei alle möglichen Steine abgebildet, sowohl Edelsteine als gewöhnliches Gestein und alle Arten von Mineralien, sowie die Metalle, woneben ein wirkliches Stück von jedem Naturerzeugnis angebracht ist, dazu eine Erklärung in zwei Versen.
Auf der Außenseite der Mauer dieses Kreises sind sämtliche Meere, Flüsse, Landseen und Quellen der Welt verzeichnet, auch Weine und Öle, sowie andere Flüssigkeiten mit Angabe ihres Herkommens und ihrer Eigenschaften. Flaschen, die Flüssigkeiten zur Heilung der verschiedenen Krankheiten enthalten, sind in in die Mauer eingelassenen Nischen aufgestellt und werden so seit hundert Jahren, bis zurück zu dreihundert Jahren aufbewahrt. Hagel, Schnee, Donnerwetter und andere Luftphänomene sind gleicherweise durch Gemälde und kurze Verse erläutert. Auf der Innenseite der dritten Kreismauer sind alle Arten Bäume und Pflanzen abgebildet und einige lebende Exemplare derselben sind in Vasen auf die Schwibbogen der äußeren Mauer gestellt. Eine Inschrift besagt, wo ihre ursprüngliche Heimat ist und gibt ihre Kräfte und Eigenschaften an, ihre Beziehungen zu den Metallen, zu den Gestirnen und den menschlichen Körperteilen, sowie zu den Produkten des Meeres, auch ihren Gebrauch in der Heilkunde u. s. w.
Auf der Außenseite finden sich alle Fluß-, See- und Meerfischgattungen, ihre Lebensweise und -Gewohnheiten, sowie ihre Fortpflanzungsverhältnisse, ihre Aufzucht, ihr Nutzen für das Weltall, insbesondere...