Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887
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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887

  1. 265 Seiten
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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887

Über dieses Buch

Eines der einflussreichsten Bücher des 19. Jahrhunderts ist heute - völlig zu Unrecht - beinahe vergessen: Edward Bellamys "Looking Backward, Or: Life in the Year 2000". | Dutzende spätere Autoren ließen sich von dem Werk inspirieren und schrieben Fortsetzungsgeschichten und Rezensionen. Auch die heute bekanntesten Werke der Gattung utopischer Romane, Orwells 1984 und Huxleys Brave New World sind von Looking Backward deutlich beeinflusst. Genau wie der nur sieben Jahre später erschienene Science-Fiction Roman "Die Zeitmaschine" von H. G. Wells. | Hier wie dort begibt sich der Protagonist auf Zeitreise - bei Bellamy allerdings nicht durch eine Maschine, sondern durch einen über hundert Jahre währenden Schlaf, in den er versehentlich während einer Hypnose-Sitzung versetzt wird. © Redaktion eClassica, 2017 | Für die eBook-Ausgabe völlig neu überarbeitet und in aktualisierter Rechtschreibung

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Achtundzwanzigstes Kapitel

»Es ist etwas später geworden, Herr West, als ich Sie wecken sollte. Sie sind nicht so schnell erwacht, wie gewöhnlich.«
Die Stimme war die meines Dieners Sawyer. Ich fuhr im Bette empor und starrte um mich. Ich war in meinem unterirdischen Gemache. Das milde Licht der Lampe, welche stets in dem Zimmer brannte, wenn ich es benutzte, beleuchtete die mir vertrauten Wände und Möbel. An meinem Bette, mit dem Glase Sherry in der Hand, welches ich nach Doktor Pillsburys Vorschrift gleich nach dem Erwachen aus dem magnetischen Schlafe einzunehmen hatte, um die erstarrten Lebensgeister wieder in Tätigkeit zu versetzen, stand Sawyer.
»Nehmen Sie es nur schnell ein, Herr West,« sagte er, als ich ihn verständnislos anstarrte. »Sie sehen ganz verstört aus, Herr West, Sie haben es nötig.«
Ich schluckte den Trank hinunter und begann mir klar zu machen, was denn mit mir vorgegangen sei. Es war natürlich sehr einfach. Alles das vom zwanzigsten Jahrhundert war ein Traum gewesen. Nur geträumt hatte ich von jenem erleuchteten und sorgenfreien Menschengeschlecht und seinen sinnreich-einfachen Einrichtungen, von dem herrlichen neuen Boston mit seinen Domen und Zinnen, seinen Gärten und Springbrunnen und seinem überall herrschenden Wohlstande. Die liebenswürdige Familie, die ich so gut kennen gelernt hatte, mein freundlicher Wirt und Mentor, Dr. Leete, seine Gattin und ihre Tochter, die zweite und schönere Edith, meine Braut, – auch diese waren nur Gebilde der Phantasie gewesen.
Eine geraume Zeit verblieb ich in der Stellung, in welcher diese Erkenntnis mich überkommen hatte: ich saß im Bette aufrecht und starrte ins Leere, versunken in der Erinnerung an die Szenen und Begebenheiten meiner Traumvision. Sawyer, den mein Aussehen beunruhigte, fragte mich inzwischen besorgt, was mir fehle. Seine lästigen Fragen brachten mich endlich völlig zu mir; ich raffte mich mit Anstrengung zusammen, fand mich in meine wirkliche Lage und versicherte dem treuen Burschen, dass alles mit mir in Ordnung sei. »Ich habe einen außerordentlichen Traum gehabt, Sawyer, das ist alles,« sagte ich, »einen ganz außer-ordent-lichen – Traum.«
Ich zog mich mechanisch an. Merkwürdig gestört fühlte ich mich und unsicher, ob ich denn wirklich ich selbst wäre. Ich setzte mich zum Kaffee, den Sawyer mir zu meiner Erfrischung zu bringen pflegte, bevor ich das Haus verließ. Die Morgenzeitung lag neben meinem Gedeck, ich nahm sie auf und mein Auge fiel auf das Datum: Den 31. Mai 1887.
Von dem Augenblicke an, da ich die Augen öffnete, hatte ich natürlich gewusst, dass meine langen und umständlichen Erlebnisse in einem anderen Jahrhundert ein Traum gewesen waren; und doch stutzte ich, als ich einen so bündigen Beweis davon sah, dass die Welt, seit ich mich zum Schlafen niedergelegt hatte, nur einige Stunden älter geworden sei.
Ich warf einen Blick auf das Inhaltsverzeichnis an der Spitze der Zeitung, welches eine Übersicht der Tagesneuigkeiten enthielt, und las Folgendes: »Auswärtige Angelegenheiten. – Der bevorstehende Krieg zwischen Frankreich und Deutschland. Die französischen Kammern fordern einen neuen Kredit für die Armee, um der Vermehrung des deutschen Heeres zu begegnen. Wahrscheinlichkeit, dass ganz Europa in den Krieg verwickelt wird, falls es zu einem solchen kommt. – Großes Elend unter den unbeschäftigten Arbeitern in London. Sie verlangen Arbeit. Eine Massendemonstration soll stattfinden. Die Behörden in Unruhe. – Große Aufstände in Belgien. Die Regierung bereitet sich vor, etwaige Gewalttaten zu unterdrücken. Empörende Tatsachen hinsichtlich der Beschäftigung von Mädchen in den belgischen Kohlenbergwerken – Massenaustreibungen der Pächter in Irland.
»Innere Angelegenheiten. – Die Betrugsepidemie dauert fort. Unterschlagung einer halben Million in New-York. – Veruntreuung durch Testamentsvollstrecker. Waisen des letzten Pfennigs beraubt. – Geschickte Diebereien eines Bankkassierers: 50 000 Dollars fort. – Die Kohlenbarone beschließen einen Preisaufschlag der Kohle und Verminderung der Förderung. – Spekulanten in Chicago treiben die Weizenpreise in die Höhe. – Eine Kaffeepreissteigerung. – Enorme Ländereien von Assoziationen im Westen annektiert. – Enthüllungen über die entsetzliche Korruption unter den Chicagoer Beamten. Systematische Bestechung. – Die Untersuchungen über gewisse Stadtverordnete in New-York werden fortgesetzt. – Große Bankerotte von Geschäftshäusern. Befürchtung einer allgemeinen Geschäftskrisis. – Eine große Menge von Diebstählen und Einbrüchen. – Eine Frau kaltblütig ihres Geldes wegen in New Haven ermordet. – Ein Hausbesitzer hier in der vergangenen Nacht von einem Einbrecher erschossen. – In Worcester erschießt sich ein Mann, weil er keine Arbeit finden konnte. Eine große Familie im Elend hinterlassen. – Ein altes Ehepaar in New-Jersey begeht Selbstmord, um nicht ins Armenhaus zu kommen. – Schreckliche Armut der Lohnarbeiterinnen der großen Städte. – Erstaunliche Zunahme der Unwissenheit in Massachusetts. – Mehr Irrenhäuser nötig. – Reden am Dekorationstage. Professor Brown über die moralische Höhe der Zivilisation des neunzehnten Jahrhunderts.«
Es war in der Tat das neunzehnte Jahrhundert, zu dem ich erwacht war; darüber konnte keinerlei Zweifel mehr sein. In dieser Übersicht der Tagesneuigkeiten stellte sich sein ganzer Mikrokosmos dar, selbst bis auf jenen letzten, nicht misszuverstehenden Zug aberwitziger Selbstgefälligkeit. Da derselbe hinter einem solchen Verdammungsurteil kam, wie es in jener Chronik eines einzigen Tages mit ihren Berichten über Mord, Habsucht und Tyrannei in der ganzen Welt lag, so war er ein Hohn, würdig eines Mephistopheles. Und doch war ich unter Allen, welche diese Zeilen heute lesen, vielleicht der Einzige, der den Hohn gewahrte; und noch gestern würde ich ihn so wenig wie die andern bemerkt haben. Nur jener sonderbare Traum war es, der mir die Sache jetzt so anders erscheinen ließ. Abermals vergaß ich nun meine Umgebung, ich weiß nicht auf wie lange Zeit, und bewegte mich im Geiste wieder in jener lebendigen Traumwelt, in jener herrlichen Stadt mit ihren einfachen und so behaglichen Wohnhäusern und ihren prachtvollen öffentlichen Palästen. Um mich waren wieder Gesichter, nicht entstellt durch Hochmut oder Unterwürfigkeit, durch Neid oder Habgier, durch ängstliche Sorge oder fieberhaften Ehrgeiz, und stattliche Gestalten von Männern und Frauen, welche nie Furcht vor einem Nebenmenschen oder Abhängigkeit von seiner Gunst gekannt, sondern stets, um die Worte jener Predigt anzuwenden, die mir noch in den Ohren klangen, »aufrecht gestanden hatten vor Gott.«
Mit einem tiefen Seufzer und einem Gefühle unersetzlichen Verlustes, der darum nicht weniger schmerzte, dass er der Verlust von etwas, was in Wirklichkeit nie existiert hatte, war, entriss ich mich endlich meinen Träumereien und verließ bald darauf das Haus.
Wohl ein dutzendmal auf dem Wege von meiner Tür bis zur Washingtonstraße musste ich stehen bleiben und mich gewaltsam zusammennehmen: solche Macht hatte jene Vision vom Boston der Zukunft gehabt, dass sie das wirkliche Boston mir fremd erscheinen ließ. Die Unsauberkeit und der üble Geruch der Stadt fielen mir auf, von dem Augenblicke an, da ich auf die Straße trat, wie etwas, das ich nie zuvor bemerkt hatte. Noch gestern war es mir als etwas ganz Selbstverständliches erschienen, dass einige meiner Mitbürger in Seide und andere in Lumpen einhergingen, dass einige wohlgenährt und andere hungrig aussahen. Jetzt dagegen fiel mir bei jedem Schritte die schreiende Ungleichheit in Kleidung und Aussehen der Männer und Frauen, die auf den Trottoirs aneinander vorübereilten, auf, und noch mehr die gänzliche Gleichgültigkeit, welche die Bessergestellten dem Zustande der Unglücklichen gegenüber zeigten. Waren das denn Menschen, welche das Elend ihrer Mitmenschen sehen konnten, ohne auch nur eine Miene zu verziehen? Und doch wusste ich bei alledem sehr wohl, dass ich es war, der sich verändert hatte, und nicht meine Zeitgenossen. Ich hatte von einer Stadt geträumt, deren Bewohner sich alle in den gleichen Verhältnissen befanden, wie Kinder einer Familie, und einer des andern Hüter waren in allen Dingen.
Ein anderes Merkmal des wirklichen Boston, welches jenen durchaus fremdartigen Eindruck machte, den ein neues Licht vertrauten Gegenständen verleiht, waren die zahlreichen Geschäftsankündigungen und Reklamen aller Art. Im Boston des zwanzigsten Jahrhunderts gab es keine persönlichen Geschäftsankündigungen, weil man deren nicht bedurfte; aber hier waren die Wände der Gebäude, die Fenster, die Zeitungen in jeder Hand, ja selbst das Pflaster, alles und jedes in der Tat, was man sehen konnte, mit Ausnahme des Himmels, bedeckt mit Anrufen von Personen, welche unter unzähligen Vorwänden andere zu Beiträgen zu ihrem Lebensunterhalt zu bestimmen suchten. Wie verschieden auch immer die Worte lauten mochten, der Inhalt dieser Anrufe war stets der nämliche:
»Helft dem John Jones! Kümmert euch nicht um die andern! Sie sind Betrüger. Ich, John Jones, bin der Rechte. Kauft von mir! Gebt mir zu tun! Kommt zu mir! Hört auf mich, den John Jones! Seht auf mich! Macht ja keine Verwechslung: John Johnes ist der Mann und keiner sonst! Lasst die andern verhungern, aber denkt um Gottes willen an John Jones.«
Ob der Jammer oder ob die moralische Widerwärtigkeit des Schauspiels den stärksten Eindruck auf mich machte, der ich so plötzlich in meiner eigenen Stadt ein Fremder geworden war, das weiß ich nicht. Unglückliche, hatte ich ausrufen mögen, die ihr nicht lernen wollt, einander zu helfen, und darum, vom Niedrigsten bis zum Höchsten, verurteilt seid, einander anzubetteln! Dieses entsetzliche Babel schamlosen Eigenlobes und gegenseitiger Herabsetzung, dieser betäubende Lärm einander bekämpfender Anpreisungen, Bitten und Beschwörungen, dieses erstaunliche System frecher Bettelei, – was bedeutete alles dieses anders, als die Zwangslage einer Gesellschaft, in welcher die Möglichkeit, der Welt mit seinen Gaben zu dienen – anstatt dass sie als der erste Zweck der Gesellschaftsordnung einem jeden zugesichert wurde – erkämpft werden musste!
Ich erreichte die Washingtonstraße an dem Punkte des größten Geschäftsverkehrs, und da blieb ich stehen und lachte zum Ärgernis der Vorübergehenden laut auf. Wenn es mein Leben gekostet hätte, ich hätte mich nicht bezwingen können, – ein so toller Humor überkam mich beim Anblick der unendlichen Ladenreihen auf beiden Seiten, Straße auf und Straße ab, so weit man blicken konnte. Um das Schauspiel noch aberwitziger zu machen, verkauften innerhalb eines Steinwurfs Dutzende von Läden denselben Artikel. Läden! Läden! Läden! Meilenweit Läden! Zehntausend Läden, um die Waren zu verteilen, die diese eine Stadt bedurfte! Und in meinem Traum war sie von einem einzigen Warenlager aus mit allen Gegenständen versorgt worden, sobald diese in einem der großen Bazare, deren jeder Stadtbezirk einen besaß, bestellt worden waren. Ohne Verlust von Zeit oder Arbeit konnte der Käufer da unter einem Dache Proben von sämtlichen Artikeln der Welt finden, die er nur begehren mochte. Die Arbeit der Verteilung der Waren war so gering gewesen, dass sie deren Preis nur um einen unmerklichen Bruchteil für den Konsumenten erhöhte. Es war so gut, als wenn er nur die Herstellungskosten bezahlte. Hier aber erhöhte das bloße Verteilen der Waren, ihr Hin- und Herschaffen, deren Preis um ein Viertel, ein Drittel, die Hälfte, ja selbst um mehr als die Hälfte der Herstellungskosten. Alle diese zehntausend Anstalten mussten bezahlt werden, mit ihren Mieten, ihren Oberaufsehern, ihren Scharen von Verkäufern, ihren Zehntausenden von Buchhaltern, Hausdienern und sonstigen Angestellten, mit allen ihren Ausgaben für Inserate und dem ganzen Konkurrenzkampf, – und die Konsumenten mussten alles bezahlen. Welch' glorreiches Verfahren, eine Nation arm zu machen!
Waren das ernste Männer, die ich um mich her erblickte, oder Kinder, die ihr Geschäft nach einem solchen System betrieben? Konnten es denkende Wesen sein, welche die Torheit nicht sahen, die, wenn das Produkt hergestellt und zum Gebrauch fertig ist, indem sie es an den Konsumenten bringt, so viel davon verschwendet? Wenn Leute mit einem Löffel essen, der die Hälfte seines Inhalts zwischen Teller und Lippe fallen lässt, werden sie da nicht wahrscheinlich hungrig vom Tische aufstehen? Ich war früher tausendmal durch die Washingtonstraße gegangen und hatte das Verhalten der Verkäufer beobachtet; aber meine Neugierde hinsichtlich ihres Benehmens war so groß, als wenn ich es noch nie gesehen hätte. Verwundert blickte ich in die Schaufenster der Läden mit ihren Auslagen von Waren, die mit großem Aufwand von Mühe und künstlerischer Erfindungsgabe so angeordnet waren, dass sie das Auge anziehen mussten. Ich sah das Gedränge der Damen, die da hineinschauten, und die Eigentümer, die gespannt die Wirkung der Lockspeise beobachteten. Ich trat ein und bemerkte, wie der falkenäugige erste Kommis das Geschäft überwachte, die Verkäufer beaufsichtigte und sie zu ihrer Pflicht anhielt, die Kunden zu veranlassen zu kaufen, zu kaufen, zu kaufen, für Geld, wenn sie es hatten, für Kredit, wenn sie es nicht hatten, zu kaufen, was sie nicht brauchten, mehr als sie brauchten, was über ihre Mittel hinausging. Zuweilen verlor ich für einen Augenblick den Faden und wurde durch den Anblick verwirrt.
Wozu diese Anstrengung, die Leute zum Kaufe zu bewegen? Das hatte sicherlich mit dem rechtmäßigen Geschäfte, die Gegenstände denen zuzuteilen, welche sie brauchten, nichts zu tun. Es war offenbar die reinste Kraftverschwendung, den Leuten aufzudrängen, was sie nicht brauchten, was aber anderen von Nutzen sein konnte. Durch jeden derartigen Erfolg wurde die Nation um so viel ärmer. Was dachten sich diese Kaufleute eigentlich? Dann fiel mir erst ein, dass sie ja gar nicht als Warenverteiler tätig waren, wie die in dem Warenhause, das ich im Traum-Boston besucht hatte. Sie dienten nicht dem öffentlichen, sondern ihrem unmittelbaren persönlichen Interesse, und es war ihnen ganz gleichgültig, was die schließliche Wirkung ihres Verhaltens auf den Gesamtwohlstand sein würde, wenn sie nur ihr eigenes Vermögen mehrten; denn diese Waren gehörten ihnen selbst, und je mehr sie von ihnen verkauften und für sie erhielten, um so größer war ihr Gewinn. Je verschwenderischer die Leute waren, je mehr Artikel, die sie nicht brauchten, ihnen aufgedrängt werden konnten, desto besser war es für diese Verkäufer. Die Verschwendung zu befördern, war der ausdrückliche Zweck der zehntausend Läden Bostons.
Und diese Kaufleute und Handlungsgehilfen waren nicht um ein Jota schlechter als irgend jemand anders in Boston. Sie mussten ihren Lebensunterhalt erwerben und ihre Familie ernähren, – und wie sollten sie ein sie ernährendes Gewerbe finden, welches sie nicht gezwungen hätte, ihr Eigeninteresse dem Interesse Anderer und dem Aller voranzustellen? Man konnte von ihnen nicht verlangen, zu verhungern in Erwartung einer Ordnung der Dinge, wie ich sie in meinem Traum gesehen hatte, wo das Interesse des Einzelnen und das Aller eins waren. Aber war es ein Wunder, dass unter einem derartigen System, wie es um mich her in Geltung war, die Stadt so armselig aussah und die Leute so schlecht gekleidet und so viele von ihnen zerlumpt und hungrig waren?
Bald darnach geriet ich in den südlichen Stadtteil und befand mich inmitten der Fabriken. Ich war in diesem Viertel früher schon hundertmal gewesen, wie in der Washingtonstraße, aber hier sowohl wie dort erkannte ich jetzt erst die wahre Bedeutung dessen, was ich sah. Früher war ich stolz darauf gewesen, dass Boston, wie tatsächlich berechnet war, gegen viertausend voneinander unabhängige Fabriken hatte; aber gerade in dieser ihrer Menge und Unabhängigkeit fand ich jetzt das Geheimnis des unbedeutenden Gesamtproduktes ihrer Industrie.
Wenn die Washingtonstraße einem Irrenhaus gleich gewesen war, so war das Schauspiel hier um so viel trübseliger, wie die Warenproduktion eine wichtigere Funktion des sozialen Organismus ist, als die Warenverteilung. Denn nicht nur arbeiteten diese viertausend Fabriken nicht einhellig zusammen und aus diesem Grunde allein schon mit ungeheurem Schaden, sondern, als wenn der dadurch herbeigeführte Kraftverlust noch nicht unheilvoll genug wäre, verwandten sie ihre äußerste Geschicklichkeit darauf, einander ihre Anstrengungen zu vereiteln. Ihre Besitzer beteten des Nachts und mühten sich am Tage, ihre Unternehmungen gegenseitig zu Grunde zu richten.
Das Rollen und Pochen der Räder und Hämmer, das von allen Seiten ertönte, war nicht das Summen einer friedlichen Industrie, sondern das Geschwirr feindlich geschwungener Schwerter. Diese Fabriken und Werkstätten waren ebenso Festungen, jede unter eigener Flagge; ihre Geschütze waren auf die Fabriken und Werkstätten ringsumher gerichtet, und ihre Pioniere und Handwerker waren unter der Erde geschäftig, um sie zu befestigen.
Innerhalb einer jeden dieser Festungen bestand man auf der straffsten Organisation der Industrie: die getrennten Betriebe arbeiteten unter einheitlicher Leitung, keinerlei Störung oder Doppelarbeit war gestattet. Jedem war seine Aufgabe zugewiesen, und keiner war müssig. An welcher Lücke im Denkvermögen, an welchem verlorenen Glied in den Schlussfolgerungen lag es denn nun, dass man die Notwendigkeit nicht erkannte, dasselbe Prinzip auch auf die Organisation der gesamten nationalen Industrie anzuwenden, – dass man nicht sah, dass, wenn der Mangel an einheitlicher Leitung den Erfolg einer einzelnen Fabrik beeintr...

Inhaltsverzeichnis

  1. Innentitel
  2. Vorbemerkung des Herausgebers
  3. Vorwort
  4. Erstes Kapitel
  5. Zweites Kapitel
  6. Drittes Kapitel
  7. Viertes Kapitel
  8. Fünftes Kapitel
  9. Sechstes Kapitel
  10. Siebtes Kapitel
  11. Achtes Kapitel
  12. Neuntes Kapitel
  13. Zehntes Kapitel
  14. Elftes Kapitel
  15. Zwölftes Kapitel
  16. Dreizehntes Kapitel
  17. Vierzehntes Kapitel
  18. Fünfzehntes Kapitel
  19. Sechzehntes Kapitel
  20. Siebzehntes Kapitel
  21. Achtzehntes Kapitel
  22. Neunzehntes Kapitel
  23. Zwanzigstes Kapitel
  24. Einundzwanzigstes Kapitel
  25. Zweiundzwanzigstes Kapitel
  26. Dreiundzwanzigstes Kapitel
  27. Vierundzwanzigstes Kapitel
  28. Fünfundzwanzigstes Kapitel
  29. Sechsundzwanzigstes Kapitel
  30. Siebenundzwanzigstes Kapitel
  31. Achtundzwanzigstes Kapitel
  32. Impressum