Modelle in der Entwicklungspsychologie –
Ein Überblick über die
beiden bekanntesten
Theorien
DAS STUFENMODELL DER
PSYCHOSOZIALEN
ENTWICKLUNG NACH ERIKSON
Dieses Modell wurde durch den deutsch-amerikanischen Psychologen Erik Erikson, der von 1902 bis 1994 gelebt hat, entwickelt. In diesem Modell baut Erikson auf Erkenntnissen des wohl berühmtesten Psychologen der Welt, Sigmund Freud, auf. Erikson stellt in seinem Modell fest, dass Kinder sich dadurch entwickeln, dass ihre Umwelt permanent neue Anforderungen an sie stellt. So ist er Vertreter der Überzeugung, dass die Umwelt und die Erziehung eine stärkere Auswirkung auf die Entwicklung der Psyche haben als die genetische Veranlagung.
Der Forscher unterteilt in seinem Modell die psychosoziale Entwicklung in acht verschiedene Stufen:
- Ur-Vertrauen vs. Ur-Misstrauen (0 – 1 Jahre)
- Autonomie vs. Scham (1 – 3 Jahre)
- Initiative vs. Schuldgefühl (3 – 6 Jahre)
- Leistung vs. Minderwertigkeitsgefühl (6 Jahre – Pubertät)
- Identitätsdiffusion (Adoleszenz)
- Intimität vs. Isolation (19. – 30. Lebensjahr)
- Generativität vs. Stagnation (31. bis 65. Lebensjahr)
- Integrität vs. Verzweiflung (65. Lebensjahr bis zum Tod)
Für das Verständnis von Eriksons Modell ist es wichtig, dass jede dieser Stufen stellvertretend für ein Problem bzw. eine Krise steht. Jede Stufe hat folglich das Ziel, ein Problem zu lösen, um die nächste Stufe erreichen zu können. Die Reihenfolge der Stufen ist universell, also bei jedem Menschen gleich, und unumkehrbar. Wurde das Ziel einer Stufe erreicht, folgt automatisch die nächste Stufe und eine Rückkehr auf eine der vorangehenden Stufen ist nicht mehr möglich. Durch das erfolgreiche Durchlaufen einer Stufe erwirbt der Mensch also Fähigkeiten, die er in seinem weiteren Leben zwingend benötigt.
Im folgenden Abschnitt werden die acht Phasen genauer vorgestellt und erklärt. Im Anschluss an jede dieser Stufen gibt es ein negatives und ein positives Beispiel, wie diese Stufe sich auf den Entwicklungsprozess ausübt. Diese Beispiele sind teilweise überspitzt und vereinfacht dargestellt, was das Verständnis erleichtern soll. Ich merke hier explizit an, dass Eriksons Modell ist, was der Name bereits andeutet: ein Modell. Modelle weisen Schwächen auf, vereinfachen Sachverhalte und lassen wichtige Faktoren außen vor. Die Modelle, die nach Eriksons Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung vorgestellt werden, weisen diese Eigenschaften auch auf. Auf die Frage, welches Modell am besten ist bzw. ob man überhaupt ein Modell als „das beste“ bezeichnen kann, werden wir später im Ratgeber noch eingehen.
1. Ur-Vertrauen vs. Ur-Misstrauen (0 – 1 Jahre)
Diese Entwicklungsstufe steht unter dem Leitsatz „Ich bin, was man mir gibt.“ In dieser Phase steht im Vordergrund, dass die körperlichen und seelischen Bedürfnisse des Säuglings erfüllt werden. Wenn die Bezugspersonen dem Kind Nahrung, Nähe, Geborgenheit und Sicherheit geben, lernt es, seinem Umfeld zu vertrauen. Die sog. Krise in dieser Entwicklungsstufe besteht darin, dass die Eltern, egal, wie sehr sie ihr Kind lieben und sich um es kümmern, dennoch nicht alles perfekt machen und sich auch anderen Dingen widmen müssen, also nicht immer sofort auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen können. In dieser Entwicklungsstufe müssen positive wie auch negative Erfahrungen durchlebt werden, also Erfahrungen des Vertrauens und des Misstrauens. Damit das Kind sich in psychischer Hinsicht gesund entwickeln kann, ist es wichtig, dass die positiven Erfahrungen, also das Vertrauen, überwiegen.
Beispiele für die Phase:
Das Baby weint, weil es Hunger hat, und die Eltern geben ihm eine Flasche bzw. die Mutter stillt es. Durch diese Erfahrung lernt das Kind, dass es sich auf seine Umwelt verlassen kann.
Das Baby weint, weil es sich einsam fühlt und niemand reagiert. Durch diese Erfahrung lernt das Kind, dass es auf sich allein gestellt ist und sich nicht auf seine Umwelt verlassen kann.
2. Autonomie vs. Scham (1 – 3 Jahre)
Diese Entwicklungsstufe steht unter dem Leitsatz „Ich bin, was ich will.“ In dieser Phase erlernen Kleinkinder unter anderem das Laufen und entwickeln damit Autonomie: Sie können selbst entscheiden, wohin sie sich bewegen und auch selbstständig wieder zurückkommen. Auch dadurch, dass der Prozess des Trockenwerdens in dieses Zeitfenster fällt, erlernen Kinder Selbstkontrolle und dadurch Autonomie.
Damit diese frühe Form der Autonomie und des eigenen Willens entstehen kann, ist die feste Bindung an und das Vertrauen in eine Bezugsperson wichtig. Dieses wurde, wie bereits erklärt, in der ersten Phase erlernt. In dieser zweiten Phase testet das Kind seine Grenzen aus, entdeckt seinen eigenen Willen und findet heraus, wie weit es gehen kann, ohne seine Bezugspersonen zu verlieren. Wenn dem Kleinkind in dieser Phase jedoch aufgezeigt wird, dass sein eigener Wille bzw. die Handlungen, die es ausübt, nicht richtig seien bzw. es von der oder den Bezugspersonen eingeschränkt wird, bekommt es das Gefühl, dass sein Wille und seine Wünsche etwas Schlechtes seien, und wird sie sein Leben lang infrage stellen. So können Verhaltensweisen wie Unsicherheit, Selbstzweifel und mangelndes Selbstwertgefühl entstehen.
Beispiele für die Phase:
Emma (18 Monate) reißt sich immer wieder von der Hand ihrer Mutter los und läuft weg. Damit Emma nicht auf die Straße rennt, läuft ihre Mutter hinter ihr her. Sie nimmt sie in den Arm, sagt ihr, dass sie das nicht tun soll, da auf der Straße gefährliche Autos sind, aber auch, dass sie Emma lieb hat. Emma lernt, dass sie nicht auf die Straße laufen soll, obwohl sie es könnte. Sie weiß, dass ihre Mutter immer für sie da ist, was auch immer sie tut, und entwickelt ein positives Selbstbild.
Max (20 Monate) interessiert sich sehr für die Topfpflanzen auf dem Fensterbrett im Wohnzimmer. Er betrachtet sie gern, nimmt sie aber auch in die Hand. Einmal fällt ihm dabei ein Topf herunter. Seine Mutter schimpft, gibt ihm einen Klaps und verbietet ihm von da an, sich mit den Pflanzen zu beschäftigen. Max lernt dadurch, dass sein Interesse an den Pflanzen falsch ist, stellt seinen eigenen Willen infrage, hat Angst, seine Bezugsperson zu verlieren und entwickelt ein negatives Selbstbild. Auch als Erwachsener traut er sich kaum, seinen Wünschen zu folgen.
3. Initiative vs. Schuldgefühl (3 – 6 Jahre)
Die dritte Entwicklungsstufe steht unter dem Leitsatz „Ich bin, was ich mir vorstellen kann, zu werden.“ In dieser Stufe steht im Vordergrund, dass sich beim Kind eine gewisse Moral und ein Gewissen entwickelt. Während dieses Zeitfensters werden Kinder immer aktiver und selbstständiger, in unbeobachteten Momenten überschreiten sie auch bestimmte Grenzen, z. B. entdecken sie ihre kindliche Sexualität oder verstoßen gegen ihnen bekannte Regeln. Je nachdem, wie die Bezugspersonen mit diesen Situationen umgehen, entwickeln die Kinder Schuldgefühle und Rechts- bzw. Unrechtsempfinden.
Wenn Kindern immer wieder eingebläut wird, dass sie und ihre Handlungen oder Bedürfnisse schlecht seien, entwickeln sie die Vorstellung, selbst schlecht zu sein. Wenn ein Kind jedoch bei diesen Herausforderungen gut begleitet wird, entwickelt es einen stabilen moralischen Kompass und ein gesundes Selbstbild.
Beispiele für die dritte Phase:
Lea (4 Jahre) wird von ihren Eltern dabei ertappt, wie sie ihren eigenen Körper erkundet. Ihren Eltern ist die Situation sehr unangenehm und sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. In ihrer Überforderung werden die Eltern wütend, schreien ihr Kind an. Lea ist komplett verängstigt, weint, bekommt Angst. Leas Neugierde ihrem Körper gegenüber sieht sie fortan als etwas Verwerfliches an. Auch als erwachsene Frau spiegelt sich das darin wider, dass sie ein gewisses sexuelles Verklemmt-Sein verspürt.
Jan (5 Jahre) war mit seinem Opa zusammen im Supermarkt. Jan und sein Opa haben sich auf eine Regel geeinigt: Im Supermarkt darf Jan sich eine Süßigkeit aussuchen, er hat die freie Wahl, darf aber nur ein einziges Teil haben. Jan zeigt seinem Opa eine Tüte Gummibärchen, die auch im Einkaufswagen landet. Als Jans Opa ni...