Kapitel 1
Flucht vor Gott
1 Es kam das Wort des HERRN zu Jona, dem Sohn des Amittai: 2 „Steh auf, geh nach Ninive, der großen Stadt, und verkündige gegen sie, denn ihre Bosheit ist vor mein Angesicht gekommen.“ 3 Doch Jona stand auf, um vor dem Angesicht des HERRN weg nach Tarschisch zu fliehen. (Jona 1,1-3a)4
Ein ungewöhnlicher Bote
Unsere Geschichte beginnt damit, dass „das Wort des HERRN“ zu Jona kommt. Diese Formulierung ist üblich als Einleitung für einen Bericht über einen der biblischen Propheten. Gott benutzte diese Propheten vor allem in Krisenzeiten, um seine Worte und Botschaften an Israel zu überbringen. Doch bereits im 2. Vers werden die ursprünglichen Leser gemerkt haben, dass dieses Prophetenbuch ganz anders war als die, die ihnen vertraut waren. Gott befiehlt Jona, „nach Ninive, der großen Stadt“ zu gehen und gegen sie zu predigen. Dies war gleich in mehrfacher Hinsicht ein Schock.
Der erste Schock war, dass hier ein hebräischer Prophet aufgefordert wird, Israel zu verlassen und in eine heidnische Stadt zu reisen. Bis jetzt hatte Gott seine Propheten nur zu seinem eigenen Volk geschickt. Jeremia, Jesaja und Amos verkündigten zwar ein paar prophetische Botschaften an heidnische Länder, doch die waren kurz, und keiner dieser Propheten musste sich selbst in diese Länder begeben. So etwas wie diesen Auftrag an Jona hatte es noch nie gegeben.
Ein noch größerer Schock ist die Warnung, die der Gott Israels vor dem Untergang an Ninive, die Hauptstadt des Assyrischen Reiches sendete. Assyrien war eines der grausamsten und gewalttätigsten Reiche der Antike. Seine Könige ließen ihre militärischen Siege oft dokumentieren und weideten sich an den mit Leichen übersäten Schlachtfeldern und niedergebrannten Städten. Der berühmte Herrscher Salmanassar III. ist besonders durch große Steinreliefs bekannt, die detaillierte Folterszenen und zerstückelte und enthauptete Feinde abbilden. Die Geschichte Assyriens ist „so blutrünstig und grauenvoll wie kaum etwas anderes, was wir kennen.“5 Wenn sie Feinde gefangen genommen hatten, schlugen die Assyrer ihnen mit Vorliebe beide Beine und einen Arm ab, damit sie dem sterbenden Opfer zynisch die verbliebene Hand schütteln konnten. Freunde und Verwandte wurden gezwungen, die abgeschlagenen Köpfe ihrer hingerichteten Lieben öffentlich auf Stangen durch die Straßen zu tragen. Die Assyrer rissen den Menschen die Zunge heraus und streckten die Leiber der Gefangenen mit Seilen, um ihnen anschließend bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen, die darauf an der Stadtmauer aufgehängt wurde. Sie verbrannten Jugendliche bei lebendigem Leib.6 Diejenigen, die die Zerstörung ihrer Städte überlebten, wurden auf grausame Art versklavt. Man bezeichnete das Assyrische Reich daher auch als einen „Terrorstaat“.7
Die Assyrer begannen während der Herrschaft des Königs Jehu (842–815 v. Chr.), dem Nordreich Israel hohe Tributzahlungen aufzuerlegen und auch während der gesamten Lebenszeit Jonas fuhren sie fort, Israel zu bedrohen. 722 v. Chr. fielen sie schließlich in Israel ein und zerstörten es samt seiner Hauptstadt Samaria.
Gerade diese Nation ist nun das Ziel von Gottes missionarischem Auftrag an Jona! Gott befiehlt ihm, gegen Ninive wegen seiner großen Bosheit zu „verkündigen“. Dennoch wusste Jona (4,1-2), dass es für Gott keinen Grund gegeben hätte die Stadt zu warnen, wenn nicht die Möglichkeit bestand, dass das Gericht noch abgewendet werden konnte. Aber wie konnte ein guter Gott einem solchen Volk auch nur die kleinste Chance auf Gnade geben? Warum, um alles in der Welt, sollte Gott den Erzfeinden seines Volkes helfen?
Doch das, was vielleicht am meisten überrascht, ist die Identität dessen, den Gott da sendet. Es ist Jona, der „Sohn des Amittai“. Mehr erfahren wir nicht über Jona, was bedeutet, dass wir auch nicht mehr Hintergrundwissen benötigen. In 2. Könige 14,25 lesen wir, dass Jona in der Regierungszeit von König Jerobeam II. von Israel (786–746 v. Chr.) wirkte. Dort erfahren wir auch, dass er – anders als die Propheten Amos und Hosea, die das Königshaus wegen seiner Ungerechtigkeit und Untreue zu Gott kritisierten – Jerobeams aggressive Militärpolitik zur Ausdehnung der Macht und des Einflusses Israels unterstützte. Die ursprünglichen Leser des Buchs Jona werden ihn als patriotischen Nationalisten in Erinnerung gehabt haben.8 Sie werden darüber gestaunt haben, dass Gott einen Mann wie Jona ausgerechnet zu dem Volk schickte, das er am meisten fürchtete und hasste.
Nichts an Jonas Auftrag ergab Sinn. Fast konnte man ihn als bösartiges Komplott deuten. Wenn ein Israelit auf diese Idee gekommen wäre, man hätte ihn bestenfalls geächtet und schlimmstenfalls hingerichtet. Wie konnte Gott von jemandem verlangen, die Interessen seines Landes derart zu verraten?
Gottes Auftrag verweigern
In einer ganz bewussten Parodie des Rufes Gottes: „Steh auf, geh nach Ninive“, steht Jona tatsächlich auf und geht – aber in die entgegengesetzte Richtung (Vers 3). Man nimmt an, dass Tarschisch am äußersten westlichen Rand der damals den Israeliten bekannten Welt lag.9 Kurz gesagt: Jona tat das genaue Gegenteil von dem, was Gott ihm befohlen hatte. Gott hatte ihn nach Osten gerufen, Jona ging nach Westen. Der Weg nach Osten führte über Land, Jona fuhr über das Meer. In die große Stadt geschickt, kaufte er stattdessen eine Fahrkarte ans Ende der Welt.
Warum verweigerte Jona den Gehorsam? Genaueres über seine Gedanken und Motive wird Jona selbst uns später mit eigenen Worten mitteilen. Fürs Erste lädt uns der Text ein, uns selbst Gedanken zu machen, und wir können uns vorstellen, dass der Auftrag für Jona weder praktisch noch theologisch Sinn ergab.
Hier wie später nennt Gott Ninive die „große“ Stadt, und sie war in der Tat groß, ein militärisches und kulturelles Megazentrum. Warum sollten ihre Bewohner auf jemanden wie Jona hören? Wie lange hätte ein jüdischer Rabbi sich halten können, der 1941 mitten in Berlin auf offener Straße eine Bußpredigt an die Nazis gehalten hätte? Praktisch gesehen waren Jonas Erfolgsaussichten gleich null, das Risiko zu sterben hoch.
Auch auf theologischer Ebene muss es für Jona unmöglich gewesen sein, einen Sinn in seinem Auftrag zu sehen. Erst vor einigen Jahren hatte der Prophet Nahum vorhergesagt, dass Gott Ninive wegen seiner Bosheit zerstören würde.10 Für Jona wie für ganz Israel muss Nahums Vorhersage durchaus Sinn ergeben haben. War Israel nicht Gottes erwähltes und geliebtes Volk, durch das er seinen Plan in der Welt ausführte, und war Ninive nicht eine durch und durch böse Gesellschaft, die sich auf Kollisionskurs mit dem Herrn befand? War Assyrien nicht selbst nach damaligen Maßstäben außergewöhnlich gewalttätig und unterdrückerisch? Natürlich würde Gott es zerstören, das war doch klar und (wie Jona gedacht haben muss) beschlossene Sache. Warum dann dieser Auftrag? Würde seine erfolgreiche Ausführung nicht Gottes eigene Verheißungen zunichtemachen und Nahum als falschen Propheten dastehen lassen? Wie, um alles in der Welt, konnte dieser Auftrag gerechtfertigt sein?
Gott misstrauen
Jona hatte also ein Problem mit dem Job, den er bekommen hatte. Aber ein noch größeres Problem hatte er mit demjenigen, der ihm den Job gegeben hatte.11 Jonas Schlussfolgerung war: Wenn er keine guten Gründe für Gottes Befehl sehen konnte, konnte es auch keine geben. Jona hatte Zweifel an Gottes Güte, Weisheit und Gerechtigkeit.
Wir alle haben so etwas schon erlebt. Wir sitzen im Sprechzimmer unseres Arztes und sind schockiert von den Untersuchungsergebnissen. Unsere nächste Bewerbung ist gescheitert, und wir fragen uns, ob wir je noch einmal den ersehnten Arbeitsplatz finden werden. Wir fragen uns, warum die scheinbar perfekte Beziehung – die, nach der wir so lange gesucht hatten und die wir schon nicht mehr für möglich gehalten hatten – auf einmal doch wieder in die Brüche geht. Und wir denken: Wenn es einen Gott gibt, dann weiß er nicht, was er tut! Und wenn wir uns mal von unseren Lebensumständen wegwenden und uns mit den Lehren der Bibel befassen, dann scheint es, vor allem für moderne Menschen, dass auch die Bibel voll von Behauptungen ist, die nicht viel Sinn ergeben.
Wenn dies geschieht, müssen wir uns entscheiden: Weiß Gott, was das Beste ist, oder wissen wir es selbst am besten? Wenn wir unserem menschlichen Herzen folgen, dann kommen wir zu der Schlussfolgerung, dass wir es wissen. Wir bezweifeln, dass Gott gut ist oder dass er es gut mit uns meint, und wenn wir keine guten Gründe für das sehen, was Gott gerade sagt oder tut, dann gehen wir davon aus, dass es eben auch keine gibt.
Das ist genau das, was Adam und Eva im Garten Eden taten. Das erste Gebot, das Gott den Menschen gegeben hat, lautete: „Du darfst die Früchte aller Bäume im Garten essen. Nur von dem Baum, der zur Erkenntnis von Gut und Böse führt, darfst du nicht essen. Sobald du das tust, wirst du sterben!“ (1. Mose 2,16-17). Da war die Frucht, und sie sah „gut zu essen“ aus, war eine Augenweide und „verlockend“ (1. Mose 3,6) – und Gott hatte keinen Grund genannt, warum es falsch war, sie zu essen. Und so kamen Adam und Eva zu dem Schluss, dass, wenn sie sich keinen guten Grund für ein Gebot Gottes vorstellen konnten, es keinen geben konnte – so wie viele Jahre später Jona auch. Sie konnten nicht darauf vertrauen, dass Gott das Beste für sie wollte. Und so aßen sie die Frucht.
Zwei Arten, Gott davonzulaufen
Jona flieht – weg von Gott. Aber wenn wir einen Augenblick innehalten und das Buch als Ganzes anschauen, dann zeigt es uns zwei unterschiedliche Strategien, wie man von Gott weglaufen kann. Paulus skizziert sie auch in Römer 1–3.
Paulus spricht dort zuerst von solchen Menschen, die Gott ganz offen ablehnen und für die gilt: „Es gibt keine Art von Unrecht, Bosheit, Gier oder Gemeinheit, die bei ihnen nicht zu finden ist“ (Römer 1,29). Doch dann, in Kapitel 2, wendet er sich denen zu, die versuchen, nach der Bibel zu leben. „Du fühlst dich sicher, weil du das Gesetz hast, und bist stolz darauf, den wahren Gott zu kennen. Du kennst seinen Willen und hast ein sicheres Urteil in allen Fragen, bei denen es um Gut und Böse geht, weil du dich im Gesetz auskennst“ (Römer 2,17-18). Und dann, nachdem er sich sowohl die unmoralischen Heiden als auch die hochmoralischen Juden, die ihre Bibel kennen, angesehen hat, zieht er das bemerkenswerte Resümee: „Keiner ist gerecht, auch nicht einer. […] Alle sind vom richtigen Weg abgewichen“ (Römer 3,10-12). Die einen versuchen eifrig, Gottes Gesetz zu befolgen, und die anderen lassen es links liegen, aber beide „sind vom richtigen Weg abgewichen.“ Beide, jeder auf seine eigene Art, rennen sie von Gott weg. Wir alle wissen, dass man sich von Gott abwenden kann, indem man unmoralisch und gottlos wird, aber Paulus sagt, dass es auch dadurch möglich ist, dass man superreligiös und hochmoralisch wird.
In den Evangelien gibt es ein klassisches Beispiel für diese beiden Methoden, Gott davonzulaufen. Wir finden es in Lukas 15, in dem Gleichnis von den beiden Söhnen.12 Der jüngere Sohn flieht vor der Kontrolle seines Vaters, indem er sich das Erbe ausbezahlen lässt, sein Zuhause verlässt, gegen die Werte des Vaters rebelliert und gerade so lebt, wie es ihm gefällt. Der ältere Sohn bleibt zu Hause und gehorcht seinem Vater in allem, aber als sein Vater mit dem Rest seines Vermögens etwas tut, was dem Sohn missfällt, wird er zornig auf ihn, und es wird deutlich, dass im Grunde auch er seinen Vater nicht liebt.
Der ältere Sohn gehorchte seinem Vater nicht aus Liebe, sondern eigentlich nur, um gut vor ihm dazustehen und Punkte zu sammeln, um Macht über ihn zu bekommen, sodass der Vater wiederum nach seinem Willen handeln würde. Beide Söhne vertrauten der Liebe ihres Vaters nicht. Beide versuchten, sich von ihm frei zu machen – der eine, indem er alle Gebote des Vaters missachtete, der andere, indem er sie peinlich genau einhielt.
Hazel Motes, einer der Protagonisten aus einem Roman der amerikanischen Schriftstellerin Flannery O’Connor, weiß: „Wer Jesus aus dem Weg gehen will, muss der Sünde aus dem Weg gehen.“13 Wir glauben dann, dass wir, wenn wir schön fromm und tugendhaft sind, sozusagen das Unsere getan haben. Jetzt kann Gott nichts mehr von uns verlangen, sondern ist jetzt im Gegenteil unser Schuldner, der unsere Gebete erhören und uns segnen muss. Das ist keine Hinwendung zu Gott in Liebe, Freude und Hingabe, sondern eine Methode, ihn zu kontrollieren und ihn immer auf Abstand zu halten.
Diese zwei Arten, vor Gott davonzulaufen, gehen beide von der Lüge aus, dass Gott es nicht gut mit uns meint. Wir glauben, ihn dazu zwingen zu müssen, uns das zu geben, was wir brauchen. Wir mögen ihm rein äußerlich gehorchen, aber wir tun das nicht für ihn, sondern für uns. Wenn wir dann den Eindruck haben, dass er unseren Gehorsam nicht gebührend belohnt und uns vorenthält, was wir doch verdient hätten, dann kann die ganze Fassade von Moralität und Rechtschaffenheit, die wir uns aufgebaut haben, ganz schnell in sich zusammenbrechen. Nachdem wir uns so lange innerlich von Gott distanziert haben, schlägt das nun in den offenen Aufstand gegen ihn um. Wir werden zornig und laufen voller Wut von ihm weg.
Im Alten Testament ist Jona das klassische Beispiel dieser beiden Methoden, von Gott wegzulaufen. Jona ist erst der „jüngere Sohn“ aus dem Gleichnis und dann der „ältere“. In den ersten beiden Kapiteln ist Jona dem Herrn ungehorsam und läuft davon, besinnt sich dann aber eines Besseren und kommt reumütig zurück, wie der jüngere Sohn in dem Gleic...