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Pappel. Die Geschichte eines Herumtreibers
Die Geschichte eines Herumtreibers
- 288 Seiten
- German
- ePUB (handyfreundlich)
- Über iOS und Android verfügbar
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Über dieses Buch
3. Juli 1883. Während in Österreich-Ungarn Julie Kafka der Hebamme fest entschlossen in die Augen sieht und ihren ersten Sohn gebärt, ereignet sich im Gelbachtal ein nicht weniger großes Wunder: Der Spross einer Schwarzpappel erblickt das Licht der Welt. Schon bald löst diese sich von ihren Wurzeln und schreitet fortan als Konrad Pappel durch die Gefilde. Konrad, dessen Leben auf mysteriöse Weise mit jenem Franz Kafkas verbunden ist, nimmt den Leser mit auf einen wahnwitzigen Husarenritt durch die vergangenen 150 Jahre: an den Weltkriegen vorbei, durch den Eisernen Vorhang hindurch, bis in unsere Gegenwart hinein.
Dalibor Markovi? zieht in seinem Debütroman alle Register und erweist sich dabei als großer Erzähler, der es mit dem mikroskopisch Kleinen ebenso wie mit den Weiten des Universums aufnehmen kann.
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Information
Auf der Galerie
Der Lampenschirm gab die Richtung vor. Schräg zum Boden hin, wo sich eine kreisrunde Arena aus Licht auftat, sonnengelb und warm. Nebeneinander gedrängt, wie ein koordinierter Fischschwarm, formten Photonen den Lichtkegel aus. Schnell waren sie, verdammt schnell sogar. So schnell konnte man gar nicht blinzeln, da waren die Photonen bereits vorbeigezischt und hinterließen ihre Girlanden aus Licht, die man zum Lesen hätte verwenden können oder zum Annähen eines Hosenknopfes, wenn man in einem grün gepolsterten Sessel gesessen hätte. Aber im Zimmer gab es weder Bücher noch Nähzeug, von einem Sessel ganz zu schweigen. Nur drei Personen, die im Halbdunkel am Fenster standen und die Umgebung beobachteten. Eine davon war mit einer Flinte bewaffnet. Die Mündung ragte seitwärts in den Lichtkegel hinein, völlig unerwartet schoss eine Kugel aus ihr heraus. Von flüchtigen Rauchfahnen umspielt katapultierte sie sich diagonal, mit strohhalmartiger Flugbahn, durch den unaufhaltsamen Strom von Photonen, denen aufgrund der aberwitzig schnellen Lichtgeschwindigkeit, mit der sie sich fortbewegten, der Zusammenhang von Ursache und Wirkung schon immer fremd war. Beim Vorbeiziehen wunderten sie sich daher nicht, woher auf einmal dieses Projektil aufgetaucht war, dessen Spitze von einer flirrenden Luftschicht umfasst wurde, dünn und bläulich kämpfte sie sich voran. Kurz vor dem Einschlag ins Zentrum der kreisrunden Lichtarena schien es einen Moment zu geben, in dem die Kugel abwog, aus eigener Kraft abzubremsen und in einem energetischen Zustand des Schwebens zu verharren. Aber sie flog selbstverständlich weiter und sprengte ganz brav den Holzfußboden auf, bohrte sich durch die Dämmung und zerbröckelte die Mörtelschicht der darunter befindlichen Zimmerdecke. Damit war ein Tunnel entstanden, der zwei Wohnungen miteinander verband und augenblicklich von einer Schar neugierig nachrückender Photonen ausgeleuchtet wurde.
Ein weißer Lichtstrahl, dünn wie ein Bleistift, durchquerte das dunkle Zimmer in schräger Linie und traf auf eine gewundene Verzierung im gemusterten Teppichboden. Konrad erschrak, aber nicht so sehr, dass er es vermieden hätte, in aller Ruhe die Zigarette über dem Aschenbecher abzuklopfen. Im Fernseher flackerte der Bericht über ein Fußballspiel, der von der Aufnahme einer Nachrichtensprecherin in bedächtig ausgeleuchtetem Studio unterbrochen wurde. Als gäbe es Bauweise und Steigwinkel einer Pyramide zu bewundern, folgte Konrad mit seinem Blick dem Lauf des Lichtstrahls, der aus einem Loch in der Zimmerdecke entsprang und um den sich der Zigarettenrauch schlängelte, ungläubig nach oben. Er durchbrach die Linie mit seinem Unterarm und betrachtete den auf der Haut auftreffenden Punkt. Durch geringfügige Bewegungen ließ er ihn zu seinem Handballen wandern, bis er verschwand, so plötzlich, als wäre ein Kippschalter umgelegt worden. Konrad hätte beinahe den Boden nach ihm abgesucht, weil er für den Bruchteil eines Gedankens davon ausging, dass er ihn fallen gelassen hatte. Kurz darauf klopfte es an der Tür.
Sie stammelte etwas von einem Jagdgewehr, aber das war nur ein Wort, das hängen blieb. Alle anderen rutschten durch das grobmaschige Netz des eingestickten Rippenmusters auf dem kakaobraunen Pullover, der in einem Rundbogen ihren Hals einfing. Darüber die Lippen, die weitersprachen, unter Zuhilfenahme von Händen, deren zierliche Finger spielerisch herumwirbelten und manchmal unbeabsichtigt den Türrahmen berührten, wenn sie untermalte, wie der Schuss losging, hinterlegt mit tausend Entschuldigungen, die in den blassblauen Augen ihre Entsprechung fanden, wodurch Konrad die Rückversicherung bekam, dass sie es ernst meinte. Auch wenn er aufgrund der spärlichen Informationen nicht dahinterstieg, was das alles mit ihrem Bruder zu tun hatte, ein weiterer Begriff, der hängen blieb. Er bat sie hinein und schaltete das Deckenlicht an, damit sich beide einen besseren Überblick verschaffen konnten. Sie folgte ihm in die Mitte des Zimmers, drehte sich einmal um die eigene Achse, sah die Telefonbank, die offene Balkontür, den abgenutzten Holzschrank, daneben ein Tischchen vor dem Sofa, zum Fernseher ausgerichtet, auf dem ein ruhendes Zweierpendel stand. Wolkensymbole mit schräg gestrichelten Linien prophezeiten eine regnerische Woche. Konrad drückte die Zigarette aus und zeigte abwechselnd auf das Loch in der Decke und den Riss im Teppichboden, auf den sie sich kniete, weitere Entschuldigungen murmelnd. Aus den borstenhaften Härchen pflückte sie das Projektil, womit Konrad in Sekundenbruchteilen eine vage Rekonstruktion des Hergangs vor Augen hatte. Der Bruder wurde wieder erwähnt, jetzt mit einem Lachen, was für ein Trottel er doch manchmal sei, Sonntagabend nach dem Tatort das Jagdgewehr des Großvaters zu putzen. Sie kniete immer noch, das Projektil lag in der Hand, der Bund ihres Pullovers hatte sich nach oben geschoben. Vielleicht war das Spitzenwäsche, die kurz aufblitzte, Konrad war sich unsicher, froh darüber, dass sie aufstand, wodurch der Bund die Lücke wieder schloss. Sie machte ihn auf die Streichholzschachtel neben dem Aschenbecher aufmerksam, bedruckt mit dem Namen einer Investmentbank und dem Spruch Wir feuern dich an. Ob er vielleicht Multimillionär sei, fragte sie, was er verneinte, die Erklärung ergänzend, dass er nachts lediglich deren Büros bewache. Die Hölzer lägen dort in der Raucher-Lounge aus, im zehnten Stock, in großen Glasvasen, zum Mitnehmen. Als sie ihn ohne Umschweife auf einen Kaffee einlud, um die Sache halbwegs wiedergutzumachen, mit rollenden Augen, morgen wäre es gut, wenn er Zeit hätte, war er überfordert, eine Antwort zu formulieren. Das Einzige, was ihm nach einer Weile einfiel, war die Tatsache, dass es regnen würde und es deswegen ratsam wäre, ein bedachtes Café aufzusuchen, woraufhin sie meinte, dass sie eines kenne, ein Café mit Dach. Erst beim Einsetzen des Kicherns war Konrad klar, dass sie sich lustig über ihn machte, außerdem hatte er Schwierigkeiten nachzuvollziehen, warum sie wieder mit ausgestrecktem Arm auf das Loch in der Decke wies, bis er verstand, dass es um Spachtelmasse ging, die vom Bruder im Laufe der nächsten Tage angerührt würde, um den Schlamassel dort auszubessern. Der Teppichboden sei alt, darüber müsse man sich keine Sorgen machen, sagte er, und seine wegwischende Geste schien das zu besiegeln. Am Nachmittag habe er Zeit, erklärte er bei der Verabschiedung an der Tür, woraufhin sie die Hand ausstreckte und fabelhaft oder wunderbar sagte, dann bis morgen, sie grinste lange und wartete darauf, dass er ihre Hand ergriff, mein Name ist übrigens Liliane, aber alle nennen mich Liane.
Das muss ich mir eingebildet haben, dachte Konrad am nächsten Morgen und verweigerte sich ein Gefühl der Vorfreude. Sein Gehirn hatte ihm bestimmt einen Streich gespielt. Kein Wunder, bei den knapp über hundert Jahren, die es auf dem Buckel hatte. Für eine Schwarzpappel war es kein ungewöhnliches Alter, hartnäckige Exemplare konnten ohne Weiteres doppelt so alt werden. Dementsprechend sah Konrad wie Ende dreißig aus, wenn er sich im Spiegel betrachtete, was am heutigen Tag recht häufig geschah. Dann brummte er Songs aus dem Radio nach und ertappte sich dabei, eine halbe Pirouette zu drehen, bevor er den Kühlschrank öffnete, auf der Suche nach Marmelade für sein Brot. Ab und zu vergewisserte er sich, dass das Loch in der Zimmerdecke noch zu sehen war, was seine Laune bei jedem Anblick ein wenig hob. Er ging das Treffen in Gedanken durch. Dinge, die er sagen würde, die unfassbar lässigen Handbewegungen, mit denen er den Stuhl im Café umdrehen würde, um mit der Brust an der Lehne zu sitzen, weil das total lässig war und diesen rebellischen Unterton besaß, mit dem man punkten konnte, wenn er die amerikanischen Fernsehserien richtig verstanden hatte. Auf sein Fingerschnippen hin käme der Kellner angerannt, was möchtest du trinken, würde Liane fragen, aber ohne jemanden anzuschauen, säße Konrad da, plötzlich eingenommen von einem Gedanken, der sich durch ein zitterndes Stirnrunzeln andeutete. Auf die Frage, worüber er nachdenke, könnte er nur abwinken, eine Pause erbetend, um in Ruhe zu Ende zu grübeln, selbst der Kellner stünde ehrfurchtsvoll neben ihm und gäbe ihm die nötige Zeit, glücklich darüber, Zeuge dieses Ereignisses zu sein. Dann, mit den Augen eines Aufwachenden in den Tumult des Cafés zurückkehrend, wäre die Antwort, ein Milchkaffee bitte, gesprochen in den kleinen Radierer am Ende des Bleistifts, den der Kellner vorstreckte, als wäre er ein Mikrofon, das die Bestellungen sicherheitshalber mitschnitt. Das Gleiche für mich, würde Liane sagen oder einen Pott Kamillentee bestellen, was keinen Unterschied machte, denn Konrad war dabei, ihre Mundwinkel zu studieren, fasziniert von den Lachfältchen, mit Fingern in warmen Sand gezogene Schriftzeichen, die im nächsten Moment von einer ruhigen Brandung weggespült wurden.
Beim anschließenden Spaziergang wickelte Liane den Schal bis an die Nase, obwohl es nicht windig war. Auch die Regenvorhersage hatte sich nicht bewahrheitet, die Sonne stieß immer wieder durch die Wolkendecke und strahlte zwischen die Inselarchipele aus Schatten auf der Erde. Ihre Stimme, durch den Schal gedämpft, war teilweise kaum zu vernehmen, nur ein Singsang blieb übrig, der sich verunsichert unter den Straßenlärm duckte. Sie kamen an einer Bäckerei vorbei, wo die Schlange sonntags gerne auch mal bis an die nächste Straßenecke reichte, wegen des Roggenbrots, das man eine Woche lang problemlos schneiden konnte. Roggen Roll hieß der Laden, und die Frau, die ihn führte, hieß Annemarie. Sie liebte den Geruch von frisch gebackenem Brot, aber auch den von Ziegenkäse oder Schuhwichse, wäre jedoch nie auf die Idee gekommen, eine Ziegenfarm zu betreiben oder sich als Schuhputzerin zu versuchen, in Chicago zum Beispiel. Annemarie übernahm den Laden vom Vorbesitzer, der den Geruch von frisch gebackenem Brot eines Morgens nicht mehr ertragen konnte, schlimmer noch, er empfand ihn als lebensgefährlich. Von einem auf den nächsten Moment, er selbst konnte es sich ebenfalls nicht erklären, wurde ihm bange, wenn er die vorfreudigen Blicke der Kunden sah, die frühmorgens nichts ahnend vor der Theke standen. Bilder von in Flammen stehenden Menschen bedrängten ihn, sobald ihm der Geruch in die Nase strömte. Menschen, denen er eine Laugenstange oder ein Butterhörnchen verkauft hatte und die sich beim Kauen daran entzündeten, während sie ahnungslos zur Bushaltestelle liefen. An einem frühlingshaften Donnerstagvormittag wurde es dem Vorbesitzer ein außerordentliches Anliegen, diesen Geruch ordnungsgemäß auszukühlen. Er ging nach draußen zum verbeulten Transporter, öffnete die Hintertüren, klopfte einen faustgroßen Mehlabdruck vom Unterarm seines Hemdes und zog den halb vollen Kanister mit blauer Kühlflüssigkeit heraus. Aus diesem trank er langsam und reichlich. Der Magen sei in der Unfallklinik ausgepumpt worden, angeblich soll er den Sommer in einem Waldkrankenhaus für Bekloppte verbracht haben. Danach habe sich die Spur verloren. Manche behaupteten, dass er nach Skandinavien ausgewandert sei, wegen der kühleren Temperaturen. Andere glaubten die ganze Geschichte sowieso nicht und beteiligten sich nicht an den Gesprächen in der langen Schlange vor der Bäckerei. Guten Morgen, Annemarie, grüßten die Kunden herzlich, wenn sie endlich an der Reihe waren und einen Dinkelziegel oder vier Sesambrötchen bestellten. Annemarie war bei allen sehr beliebt, zog es aber vor, niemandem zu erzählen, dass ihren Eltern das Haus mitsamt der Bäckerei und auch vier weitere Wohnobjekte in der Stadt gehörten. Das passte ihrer Meinung nach nicht zum Image einer Bäckerin für dunkelmehlige Produkte mit Pausbacken, die ihrem Gesicht eine Attraktivität verliehen, bei der nur wenige Männer schwach wurden, diese aber, einmal davon verzaubert, gingen daran zugrunde. Sie stand hinter der Theke und sah Liane und Konrad, die unbeteiligt an der Glasfront des Verkaufsraums vorbeiliefen. Montagnachmittags war im Allgemeinen nie sehr viel Betrieb.
Das Stadtviertel kannte Konrad nicht besonders gut, seine Laufbewegungen waren um Sekundenbruchteile verzögert, stets darauf bedacht, ihren Richtungsentscheidungen nachzueifern. Einmal wäre er fast gegen Liane gestoßen, mit der Nase an ihre Stirn, das wäre vielleicht peinlich gewesen, er zog eine balletthaft geschwungene Ausweichbewegung um ihren Kopf, stieß dabei in ihre Geruchsmischung, Kamille und abgestandener Tabak. Liane war unerwartet stehen geblieben, mitten auf der Straße, um ihm etwas zu sagen. Sie schien sich auf einen wichtigen Satz vorzubereiten, höchstwahrscheinlich ein Geständnis ihrer Liebe, wofür sie ihren ganzen Mut zusammennahm. Ihr Stehenbleiben könnte zweifelsohne auch an der roten Fußgängerampel liegen, kam Konrad in den Sinn, der gespannt auf den Inhalt des vermeintlich wichtigen Satzes wartete, im nächsten Moment aber von einem Schriftzug auf einer Steintafel in den Bann gezogen wurde, die in Kopfhöhe hinter ihr an einer Hauswand angebracht war. Die Bemühungen, die eingravierten Namen zu entziffern, beanspruchten all seine Aufmerksamkeit, sodass Liane, als sie feststellte, dass Konrads Augen an ihr vorbeisahen, ihre spitz formulierten Ausführungen über die herrschende Gelddiktatur des Westens abbrach und sich ebenfalls dem Schild widmete. Eine Gedenktafel, sagte sie ohne Mitgefühl, verwundert darüber, dass es weder ein restaurierter Rennwagen, geparkt in einer Einfahrt, noch ein kreischend grelles Werbeplakat mit einem tiefschwarz geschminkten Mannequin gewesen war, was Konrad mitgerissen hatte. Kannst du sie mir vorlesen, fragte Konrad, eine Bitte, der sie anstandslos nachkam, bis sie beim zweiten Namen innehielt und sich zurückdrehte, immer noch verärgert, dass er ihr eben nicht zugehört hatte, um ihm mitzuteilen, er solle die beschissene Tafel doch selber lesen, wenn sie ihm so wichtig sei. Aber beim Aussprechen der letzten Worte fiel ihr sein Gesichtsausdruck auf, die Augenbrauen hochgezogen wie jemand, der etwas verbrochen hatte und Reue zeigte. Sie wurde leiser, die Hand sprang instinktiv auf seine Schulter, dass sei überhaupt kein Problem, murmelte sie, das mache sie doch gerne. Ich brauche so lange für ein Wort, dass ich dabei manchmal einschlafe, sagte Konrad, und es sollte ein Witz sein, über den sie aber nicht lachte, stattdessen erklärte sie ihm, dass es schließlich nicht nur darum ginge, das gegenwärtig vorhandene Kapital gerecht auf die Bevölkerung zu verteilen, sondern es auch Aufgabe der bildungsprivilegierten Schichten sei, das Proletariat an dem erlangten Wissen zu beteiligen, da es zum Lernen keine Zeit habe, wegen der Ausbeutung der Arbeitskraft, und sie fügte noch einige Sätze hinzu, die mit Ausdrücken versetzt waren, bei denen Konrad nur zustimmend nicken konnte. Liane strahlte, ihre Stimmung war umgesprungen, sie drehte sich um und erklärte ihm in lehrerhaftem Ton, dass an der Schule, an dessen Mauer die Gedenktafel hing, drei Lehrer unterrichtet hätten, die später im Konzentrationslager Dachau umgekommen seien. Von den Scheißnazis brutal abgemurkst, sie hielt sich die Hände an den Hals und röchelte, Konrad verstand sofort, mit Gas, fügte sie trotzdem hinzu. Als sie den dritten Namen vorlas, bat Konrad darum, dass sie ihn noch einmal wiederholte.
Der rechte Außenspiegel eines Lastwagens verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Der Fahrer hatte die Frechheit besessen zu hupen, als würde Konrad die Schuld daran tragen, den Kopf nicht eingezogen zu haben, was Liane unfassbar aufbrachte. Arschloch, schrie sie ihm nach, sodass das darauffolgende Hupkonzert ein in die Länge gestreckter Wutanfall des Fahrers wurde, erst an der nächsten Kreuzung brach er ab und setzte den Blinker nach links. Eine Taube war aufgeschreckt, flog eine weite Kreisbahn und landete wieder auf dem Handlauf der Brücke, die sie gerade überquerten. Während Liane sich bei Konrad erkundigte, ob am Kopf alles in Ordnung sei, blickte die Taube erst teilnahmslos geradeaus, dann nach unten, wo der Abendverkehr in beiden Richtungen feststeckte. Zwei überdimensionierte Autowürmer aus bunten Einzelgliedern wanden sich kurvenreich durch einen Neubaubezirk der Stadt. Die Taube begann, den Kopf von rechts nach links zu wiegen, als würde sie abwägen, für welchen der Würmer sie sich entscheiden sollte. Bevor sie schließlich recht unspektakulär in die Luft stieg, klatschte ihr breiiger Kotklumpen auf den Steinboden. Das als einen Kommentar an der gegenwärtigen Zivilgesellschaft zu betrachten, mit all ihrer Verlogenheit und dem Zerstörungswahn, teils durch Wirtschaftsinteressen bedingt, aber auch durch eine wachsende Tendenz, das Eigenwohl dem der Allgemeinheit vorzuziehen, wäre einerseits sehr verlockend, würde andererseits aber kaum dem Wesen dieser Taube entsprechen. Für solch ein Statement war sie viel zu unpolitisch. Es ist eher davon auszugehen, dass es Worte waren, die Konrad als Schallreflexionen vernommen hatte. Durch Balken im Tragwerk der Brücke waren sie stückweise und zusammenhanglos umhergeschleudert worden, von Liane beim Weiterlaufen ausgesprochen, die sich mittlerweile unten an den im Stau stehenden Autos hindurchschlängelte. In Kniehöhe lief die Motorhaube eines Citroëns dermaßen spitz zu, dass es mit dem schräg darauf eingelassenen Nummernschild wirkte, als hätte der Wagen überstehende Zähne, jederzeit bereit, sie in die Waden zu beißen. Liane wandte den Kopf zurück und fragte Konrad, warum er so nachdenklich geworden sei.
Die Nachricht vom Tod ihres Mannes war nie angekommen. Eine Stille, mit messerscharfen Stacheln bestückt, wuchs und breitete sich im Wohnzimmer aus, bis Nadia Blumenbach ihr nicht mehr ausweichen konnte. Sie brachte die Kinder kurz entschlossen bei den Nachbarn unter und machte sich auf den Weg ins Hospital. Eine herbstliche Nacht empfing sie, vereinzelt schlugen Windböen quer über die Straßen. Aus den Schornsteinen quoll Rauch, zügiger als sonst, mit unregelmäßigen Pausen, wie aus Schnorcheln, die über den beleuchteten Straßen in einen verborgenen Himmel ragten. Am Empfang herrschte das übliche Treiben, das Nadia von ihren früheren Besuchen kannte. Beide Empfangsschwestern trugen eine Mundbedeckung, klinisch weiß und breit gespannt, von der Nase zum Kinn, die den Klang der Wegbeschreibung filterte, die Nadia bekam, als sie sich nach ihrem Mann erkundigte. Der strahlende Korridor, der sich hinter der zweiflügeligen Pendeltür erstreckte, war gesäumt mit schweigenden Menschen, die entlang der Wände dunkle Wucherungen bildeten und warteten, einzeln nebeneinanderstehend oder zu Familien zusammengedrängt auf Holzbänken. Viele hockten auch einfach auf dem Boden, die Knie angewinkelt, den Brustkorb an die Oberschenkel gelehnt, und ließen einen schmalen Pfad zwischen ihren Schuhspitzen übrig. Manche husteten in die Hände und betrachteten den Verlauf der roten Spritzer, als könnten sie die eigene Zukunft darin lesen. Nadia sah einen jungen Mann, sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig, die Gesichtshaut war dunkelblau verfärbt, sein Kopf lehnte an der Schulter des Nachbarn, der keine Notiz davon nahm, dass er einen Toten stützte. Beim Einbiegen in den nächsten Korridor, das gleiche Bild erstreckte sich weiter in beide Richtungen, sah sich Nadia wie durch matschige Schützengräben stiefeln. Obwohl der Große Krieg seit Monaten beendet war, schienen die Fronten sich in die Innenstädte verlagert zu haben, der Gegner ebenso unsichtbar wie ein Feind, der in der letzten Dunkelheit eines Morgengrauens mit Granaten warf. Die ersten Einschläge verliefen unbemerkt, tauchten unter die Wirren der Nachkriegszeit, mittlerweile nannten es die Zeitungen das Flandernfieber, manchmal auch Spanische Grippe, ein mörderisches Virus, das innerhalb von wenigen Tagen ganze Kleinstädte entvölkern konnte. Wo auch immer sie sich nach Doktor Blumenbach erkundigte, bekam sie neue Wegbeschreibungen, die erst auf Ahnungen, dann nur noch auf Hoffnungen gestützt waren, bis sie auf den stillgelegten Heizungsraum im Keller hingewiesen wurde, wo die Fiebertoten sich stapelten, für die Verbrennung vorgesehen, pharaonengleich in Leinen gewickelt, von Kopf bis Fuß, trotzdem erkannte sie ihn sofort. Es gab kaum Gelegenheit, sich zu verabschieden, die nahe Zukunft raste heran und riss Nadia Blumenbach mit, die ihrem Ehemann noch winken wollte, aber schon in die Tasten griff, in den Harmonie-Lichtspielen, während die Wochenschau lief, und mit einem Blick über die Schulter Konrad entdeckte, der den Vorhang des Kinosaals aufzog. Hinter ihm zeichnete sich der Hof der Grundschule ab, an der sie in den folgenden Jahren Musikunterricht geben würde. In den Pausen wirbelten Kinderstimmen umher, die Rufe ihrer zwei Töchter, junge Frauen inzwischen, waren davon leicht zu unterscheiden, es waren Schreie, die den endgültigen Ausdruck der Verzweiflung von innen aufs Gesicht blähten, dicht an die Schultern der Mutter gepresst, umgeben von hundert anderen Körpern, während Nadia in der frostigen Sammeldusche immer noch beruhigende Worte fand, wie in jeder Nacht, seitdem sie bei der Großmarkthalle abtransportiert worden waren. Ihre Stimme federte sanft gegen die gekachelten Wände, fast ein Flüstern und daher leiser als das Zischen, das plötzlich aus den tragenden Säulen des Raumes drang.
Konrad riss die Augen auf, einmal im Traum, wo er alles aus der Nähe beobachtet hatte wie eine umherfliegende Hummel, und ein weiteres Mal, um seine Lider tatsächlich anzuheben, in der Dunkelheit seines Schlafzimmers. Fingerkuppen fuhren ihm durchs Haar, seine Stirn war schweißnass, du hattest einen Albtraum, sagte die Stimme von Liane, sie schien neben ihm am Bettrand zu sitzen. In dem Ausschnitt, wo er das Gesicht vermutete, spiegelten sich zwei nadelspitze Lichtpunkte, die der Mond durchs Fenster auf ihre Pupillen warf. Wer ist Nadia, fragte sie gedämpft, und er wollte sofort erzählen, dass er als junger Mann Kartenabreißer gewesen war, in einem Kino im Süden Frankfurts, wo Nadia am Klavier gesessen hatte, das sei noch während der Stummfilmzeit gewesen, aber er bremste sich, indem er trockenen Husten vortäuschte und ein Schluck Wasser erbat. Die Lichtpunkte versteckten sich kurz hinter einem Zwinkern und blieben nach der seitwärts ausgeführten Bewegung des Kopfes verschollen. Liane lief durch das Zimmer, ihre Stimme wanderte umher, entlang der Seite des Zimmers, die an den Flur grenzte. Ein Schwall Wasser wurde ausgeschenkt, ob er sie gut gekannt habe, fragte sie, diese Nadia, dabei knetete sie den Namen beim Aussprechen, im Begriff, einen Teig daraus zu machen, den sie am Morgen zum Trocknen auf die Fensterbank legen und dort tagelang vergessen würde, wo er ganz hart und an manchen Stellen schimmelig geworden wäre, um ihn am Ende mit einem Schulterzucken in eine Mülltonne zu kippen. Konrad, ohne ihre Frage aufzugreifen, berichtete in bedächtigem Tempo, dass Nadia eine liebenswerte Person gewesen sei, vielleicht sogar der einzige nette Mensch, den sein Großvater im Leben kennengelernt habe. Er richtete sich auf, mit den Ellenbogen auf die Matratze gestützt suchte er nach den Umrissen ihres Körpers, die sich dem Bett näherten, vorneweg taumelten Reflexionen eines Wasserglases durch den Raum. Konrad trank einen Schluck und stellte das Glas ab, eine Armlänge links vom Bett ...
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