ANHANG
Die fortlaufende Bodhichitta-Praxis
Im Folgenden gebe ich eine Zusammenfassung der verschiedenen Bodhichitta-Übungen, die Weisheit, Maitrī und Mitgefühl in unserem Leben entwickeln können. Nicht alle diese Übungen (zum Beispiel die „Sechs Pāramitās“) werden in diesem Buch besprochen. Zuerst einmal drei adelnde Prinzipien*, die man auf jede Übung anwenden kann, der wir uns widmen:
Am Anfang beginne mit der Motivation durch Mitgefühl.
In der Mitte bewahre eine Haltung des Nichthaftens, frei von der Erwartung irgendwelcher Resultate.
Am Ende widme das Verdienst deiner Praxis dem Wohlergehen aller Wesen.
Die Übung des Absoluten Bodhichitta
Diese Übung wird im Allgemeinen mit der Erfahrung von Shūnyatā in Verbindung gebracht. Sie macht uns mit einer flüssigen, offenen Weise des Denkens und mit der grenzenlosen Dimension des Seins bekannt. Sie ist vor allem eine formelle Meditationspraxis, die auf Samādhi vipassyana (d.h. „achtsames Gewahrsein“ bzw. Einsichtsmeditation) basiert. Indem wir die illusorische Natur unseres Denkens und unserer Erfahrung klar erkennen, werden die Dinge flexibler und sind leichter zu bewältigen. Diese essenzielle Offenheit ist auf grundlegende Weise untrennbar von der relativen Bodhichitta-Praxis.
Die Übung des Relativen Bodhichitta
Die Übung wird im Allgemeinen mit dem Erwecken von Mitgefühl in Verbindung gebracht. Sie macht uns mit der offenen und unbegrenzten Fähigkeit zu lieben und uns umeinander zu kümmern bekannt. Es gibt hier zwei Arten der Praxis: Wunschübungen und Übungen des Eintretens.
Wunschübungen
Zu den Wunschübungen gehören:
• Übungen zur Kultivierung der „Vier Grenzenlosen“, also von Maitrī, Mitgefühl, Freude und Gleichmut. (Siehe „Maitrī- und Mitgefühls-Praktiken“ auf Seite 119.)
• Die formelle Meditationspraxis des Tonglen.
• Die Kultivierung von Relativem Bodhichitta im Alltag:
− Wunschgebete sprechen
− Gleichheitspraxis-Gefühle mit anderen teilen
− Tonglen im Augenblick
− Tonglen auf der Straße
Übungen des Eintretens
Zu den Übungen des Eintretens gehört die Übung der „Sechs Pāramitās“ im Alltag. Diese Übung führt uns zur Erfahrung der Untrennbarkeit von Shūnyatā (Leere) und Mitgefühl. Die Sechs Pāramitās sind: Großzügigkeit (Freigebigkeit), Disziplin, Geduld, Bemühung, Meditation und Weisheit (Sanskrit: prajñā). Kompakte Darstellungen der Pāramitās finden sich in Trungpa Rinpoches Büchern Spirituellen Materialismus durchschneiden, Der Mythos Freiheit und Aktive Meditation.
Lojong-Praxis
Dies ist die Praxis des Arbeitens mit den Losungen der Geistesschulung, auch bekannt als die Losungen des Atīsha; dazu gehören Übungen im Absoluten und im Relativen Bodhichitta. Alle neunundfünfzig Slogans werden in Trungpa Rinpoches Buch Erziehung des Herzens sowie in meinem Buch Beginne wo du bist diskutiert.
* Der Übersetzer folgt hier bei der Übersetzung von „noble“ dem Vorschlag von Stephen Batchelor, den (wie in den „Acht Edlen Wahrheiten“) im Allgemeinen als „edel“ übersetzten Begriff nicht als Adjektiv, sondern als Verb zu verstehen. Es geht hier nicht so sehr um eine Qualifizierung der genannten Prinzipien, sondern um das, was sie mit dem Übenden anstellen, wenn er sie in der täglichen Praxis zum Tragen bringt.
Das Kultivieren von Maitri und Mitgefühl
Immer wenn Ihnen die Übung von Tonglen zu schwierig vorkommt, könnten Sie versuchen, Maitrī und Mitgefühl zu kultivieren. Beim Ausatmen senden Sie einfach den Wunsch aus, Sie selbst und andere mögen sich des Glücks erfreuen und frei sein vom Leiden. Beim Einatmen denken Sie hier nicht wie beim Tonglen, dass Sie das Leiden anderer aufnehmen.
Maitrī lässt sich in den Worten des folgenden Wunschgebets zusammenfassen: „Mögen alle fühlenden Wesen sich des Glücks und der Wurzel des Glücks erfreuen.“ Mitgefühl wird in folgendem Wunschgebet zusammengefasst: „Mögen sie alle frei sein vom Leiden und der Wurzel des Leidens.“ Die Wurzel des Leidens ist hier das krampfhafte Bemühen, uns vor Schmerz zu schützen und unser Herz der Welt zu verschließen. Die Wurzel des Glücks ist das Aufgeben des Haftens am Ego und das Hervorbringen von Bodhichitta.
Die Maitrī-Übung hat sieben Abschnitte. Man beginnt damit, sich selbst Glück zu wünschen; danach weitet man diesen Wunsch Schritt für Schritt auf andere aus: auf jemanden, dem man spontan dankbar ist, auf Freunde, auf neutrale Personen, auf schwierige Personen, auf alle Genannten zusammen und schließlich auf alle fühlenden Wesen. Die sieben Abschnitte der Übung von Mitgefühl sind identisch mit denen der Maitrī-Übung, aber die Ausrichtung ist hier etwas anders. Statt sich selbst und anderen einfach nur Glück zu wünschen, wünschen Sie, dass Sie selbst und andere frei sein mögen von körperlichem und geistigem Leiden.
Die Maitri-Übung in sieben Abschnitten
1. Senden Sie Maitrī zu sich selbst aus. Denken Sie: „Möge ich mich des Glücks und der Wurzel des Glücks erfreuen“, oder noch einfacher: „Möge ich wahrhaft glücklich sein“. Sie können entweder etwas ganz Spezielles zu sich aussenden, wie etwa eine Geste der Freundlichkeit oder des Vertrauens, die Sie glücklich machen würde, oder Sie halten die Übung ganz allgemein. Es ist völlig in Ordnung, wenn Sie ihre eigenen Worte benutzen, so dass der Wunsch wirklich etwas für Sie bedeutet.
2. Denken Sie an jemanden, dem Sie von Herzen dankbar sind. Stellen Sie sich vor, dass dieser Mensch direkt vor Ihnen steht. Senden Sie Maitrī zu ihm aus. Denken Sie: „Möge er oder sie glücklich sein.“ Verwenden Sie wiederum Ihre eigenen Worte, damit Ihnen die Situation möglichst real vorkommt.
3. Senden Sie auf die gleiche Weise Maitrī zu einem guten Freund oder zu Freunden aus.
4. Senden Sie Maitrī aus zu einer neutralen Person oder mehreren neutralen Personen, zu jemandem, den Sie kaum kennen und dem gegenüber Sie eine indifferente Einstellung haben.
5. Senden Sie Maitrī aus zu einer Person in Ihrem Leben, mit der Sie Schwierigkeiten haben.
6. Senden Sie...