Homer - An den Wurzeln der europäischen Kultur
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Homer - An den Wurzeln der europäischen Kultur

Alte Geschichte

  1. 17 Seiten
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Homer - An den Wurzeln der europäischen Kultur

Alte Geschichte

Über dieses Buch

Jenseits aller Debatten um seine Herkunft oder die Lokalisierung Trojas ist Homer der erste Autor Europas in einem emphatischen Sinne. Seine Wirkung reicht weit über das Publikum im frühen Griechenland bis in die Gegenwart. Für jeden am Altertum Interessierten hält Homer wichtige Einsichten bereit: Die Epen "Ilias" und "Odyssee" schildern in einprägsamen Geschichten das Bild einer ganzen Welt, in der sich das Selbstverständnis nicht nur der Griechen, sondern in wesentlichen Zügen auch der Menschen in der gesamten Antike spiegelt. Seit fast 3000 Jahren hat die bezwingende Poesie der homerischen Erzählungen von Helden und ihren Taten nichts von ihrem Reiz verloren. Sie schildert anthropologische Grundbefindlichkeiten, deren Gültigkeit auch heute unmittelbar evident ist. Homer ist der erste Klassiker Europas. Prof. em. Dr. Michael Stahl hatte bis 2011 den Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Technischen Universität Darmstadt. Sein Lehrbuch "Gesellschaft und Staat bei den Griechen" erschien 2003 in zwei Bänden, 2008 präsentierte er "Botschaften des Schönen", Bilder aus der antiken Kultur.

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„Wir sind Kinder des Orients“ – so war ein Leitartikel auf der Titelseite der FAZ am 29. Dezember 2007 überschrieben. Sein Autor war Dieter Bartetzko, ein Journalist, der sich um die Belange der Archäologie in der Öffentlichkeit immer wieder sehr verdient macht und sich auch engagiert über die öffentliche Architektur in unserem Land äußert.
Der prominent platzierte Artikel mit dem Titel „Wir sind Kinder des Orients“ gehörte in einen bestimmten Kontext: Nur eine Woche zuvor hatte die FAZ die Thesen von Raoul Schrott über Homer veröffentlicht. In ihnen lokalisierte der österreichische Literat und Literaturwissenschaftler das homerische Troja in das östliche Mittelmeer, nach Kilikien, und seinen Dichter an den Hof eines assyrischen Kleinkönigs.
Bartetzko suchte nun die allgemeinen politischen Konsequenzen aus dieser Aufsehen erregenden These zu ziehen. Ich erspare es mir, Schrotts Argumentation zu rekapitulieren, mit der er das Geheimnis um „Homers Heimat“ gelüftet haben will. Schrott hatte damit und mit seiner danach erschienenen Übersetzung von Homers Ilias jedenfalls eine lebhafte Debatte ausgelöst. Inzwischen haben sich aber alle Kenner der Materie zumeist kritisch geäußert. Von Schrotts These ist kaum etwas übrig geblieben.
Keiner der Diskussionsbeiträge ging allerdings näher ein auf den brisanten Kontext, in den Bartetzko in seinem Artikel Schrotts vermeintliche Erkenntnisse gestellt hat. Lediglich der Althistoriker Christian Meier hat ebenfalls in einer großen Zeitung den Schlußfolgerungen Bartetzkos eine dezidierte Gegenthese gegenübergestellt: „Wir sind Kinder des Okzidents“.
Bartetzko rückt Schrotts Konstruktionen neben die einst umstürzenden Befunde Heinrich Schliemanns. Nun sei es endlich bewiesen, so Bartetzko:
„Das Epos, das wir als fernen Spiegel der eigenen Befindlichkeit und Besonderheit verehrt haben, ist durchwirkt von jener Kultur, die wir als das Andere, das Fremde zu sehen gewohnt sind.“ Schrott habe Homer „humanisiert“, indem er ihn als einen „multikulturellen Dichter (und Propagandisten)“ erkannt habe.
Mit Schrotts Ilias in der Hand, so Bartetzkos Schluß, drängten sich nun „Fakten gemeinsamer Wurzeln“ auf. Angesichts derer könne man an den bisher gesehenen Unterschieden und Gegensätzen zwischen Abend- und Morgenland nicht mehr festhalten. Das eigentlich Wichtige und Provozierende von Schrotts Annahmen liegt in dieser aus ihnen ableitbaren Botschaft.
Sie lautet: Wir müßten, um den uns bedrückenden Konflikten der Gegenwart besser begegnen zu können, vergessen, wovon wir seit mehr als 2500 Jahren überzeugt waren: nämlich daß wir in Homer einen der zentralen Bezugspunkte unserer okzidentalen Identität besitzen.
Ich möchte in dieser Vorlesung zeigen, daß wir das nicht dürfen und auch nicht können, solange wir uns nur mit Homers Dichtung selbst befassen sowie mit dem, was eine gründliche Forschungstradition über sie ermittelt hat, und nicht mit aus dem Zusammenhang gerissenen Einzelfakten. Die Unhaltbarkeit von Schrotts Überlegungen zum Entstehungskontext der Epen erweist sich gewissermaßen auf indirektem Wege über die Frage, was der Text Homers in seiner Wirkungsgeschichte für die Griechen und für uns bedeutet.
Wer ein Bild der griechischen Kultur zeichnen will, muß nämlich immer noch mit Homer beginnen. Seine Dichtungen sind die ersten Werke der griechischen Literatur und damit der antiken, ja der europäischen Literatur überhaupt. Das muß als solches in seiner Bedeutung und in seinen Wirkungen gewürdigt werden. Homer ist und bleibt – selbst wenn man die Thesen von Raoul Schrott einmal hypothetisch akzeptieren würde – praktisch ausschließlich ein Phänomen der griechischen (und später natürlich auch der römischen) Kultur.
Nur in diesem Zusammenhang, als erster Autor Europas in einem emphatischen Sinn, hatte Homer auch über die Antike hinaus Bedeutung. Mag es auch ‚orientalische Wurzeln’ geben: Wer in der Antike und später diesen prachtvollen Baum betrachtete und von seinen Früchten aß, wußte nichts von diesen Wurzeln; er konnte und er kann sie vernachlässigen.
Wir müssen uns also fragen, welche Bedeutung Homer für die Griechen und später für das Altertum überhaupt besaß. Das möchte ich im zweiten Kapitel der Vorlesung tun.
Davor werde ich zusammenfassen, was die Forschung bisher mit dem Namen „Homer“ verbindet und dann kurz erläutern, worin meiner Auffassung nach der geschichtliche Bezug seiner Dichtung besteht.
Schließlich werde ich im dritten Teil anhand einiger Beispiele erläutern, warum die dichterischen Bilder Homers den Menschen in Europa auch später, bis auf den heutigen Tag, etwas zu sagen hatten.

1. Die Elemente der sog. „homerischen Frage“

Was meinen wir, wenn wir von „Homer“ sprechen? Mit diesem Namen werden in der antiken Überlieferung zwei sehr lange, in Hexameterversen gehaltene Dichtungen verbunden, sog. Epen.
Das eine Epos, die „Ilias“, beschreibt in ca. 16000 Versen die letzten 51 Tage im 9. Jahr des Krieges der Griechen – Homer nennt sie Achaier – gegen das kleinasiatische Troja. Das andere Epos, die „Odyssee“ umfaßt ca. 12000 Verse, sie handeln in der ersten Hälfte des Werks von jenen Irrfahrten und Abenteuern, die der Held Odysseus nach dem Fall Trojas zu bestehen hat – vor seiner Rückkehr ins heimatliche Ithaka. Die zweite Hälfte erzählt, wie Odysseus sein Haus wieder in Besitz nimmt. Auch die „Odyssee“ schildert das Geschehen vom Ende her, den letzten 40 Tagen im 20. Jahr nach dem Aufbruch des Helden nach Troja. In diese Erzählzeit sind in Rückblicken dann die zehn Jahre der Irrfahrten und Abenteuer des Odysseus eingeblendet.
Beide Epen sind an zwei kulturellen Brennpunkten des damaligen Griechentums entstanden, möglicherweise in Griechenstädten an der Ägäisküste Kleinasiens, die Odyssee vielleicht auch an der nordwestgriechischen Küste in der Nähe von Ithaka, der Heimat des Odyssseus. Wir befinden uns in der zweiten Hälfte des 8. Jhs. v.Chr. Die Ilias ist das ältere Epos und wohl zwischen 750 und 730 v.Chr. zu datieren, die Odyssee vermutlich etwa eine Generation später.
Wir kennen zwei Dichter, Hesiod und Tyrtaios, beide aus der ersten Hälfte des 7. Jhs. v.Chr. Sie setzen in jedem Fall die Existenz der homerischen Epen schon voraus. Sehr frühe Reflexe der beiden Epen gibt es auch in der griechischen Bildkunst. Diese Befunde machen deutlich, wie schnell sich nicht nur die Kenntnis Homers verbreitet hat, sondern wie groß von Beginn an das Interesse an dieser Dichtung gewesen ist. Wir können sie daher als einen kulturellen Fixpunkt für die frühen Griechen bezeichnen.
Ich habe Ilias und Odyssee eben die Werke Homers genannt und bin dabei der antiken Tradition gefolgt. Nun hat die neuzeitliche Beschäftigung mit Homer zeigen können, daß diese Tradition, die sich in der Antike über die Person des Dichters gebildet hatte, fast vollständig aus Spekulationen und Konstruktionen herrührte. Das war auch ganz natürlich so angesichts der Wichtigkeit der Texte und ihrer Botschaften. Man kann das vielleicht vergleichen mit der Entstehung einer Kindheitsgeschichte Jesu in den Evangelien.
Tatsächlich erhielt auch für die Griechen Homer ein Gesicht nur durch die umlaufenden und zum Teil sich widersprechenden Legenden über seine Person. Darüber hinaus Gewissheit zu erhalten, ist deshalb auch uns nicht möglich. Die historische Gestalt dieses Dichters Homer bleibt für immer ein Schatten.
Eines hingegen kann auf jeden Fall ganz klar festgehalten werden: Die beiden Epen sind nicht denkbar ohne die schöpferische Leistung eines Dichters. Vielleicht ist es aufgrund des zeitlichen Abstands von Ilias und Odyssee sogar eher plausibel, von zwei Autoren auszugehen. Wenn wir aber dennoch zu Recht weiterhin von dem einen Homer sprechen, so ist das auch nicht nur bequeme Konvention. Vielmehr kommt dadurch vor allem zum Ausdruck, daß Ilias und Odyssee in gemeinsamen Voraussetzungen wurzeln und eine geistige Einheit bilden.
Und als solche Einheit ist Homer vom Altertum bis in die Gegenwart denn auch wahrgenommen worden. Homer vermittelt das einheitliche Bild einer ganzen Welt. In diesem Bild fanden sich nicht nur seine Zeitgenossen wieder, sondern es hatte auch vielen Generationen nach ihm noch etwas zu bedeuten.
Das liegt natürlich auch daran, daß die beiden Dichtungen außergewöhnliche sprachliche Kunstwerke sind. Sie besitzen eine innere Geschlossenheit und eine jeweils charakteristische Form. Von Anfang bis Ende ist ihr komplexer Bauplan exakt durchkomponiert – mit vielfachen Bezügen, Verweisen, Steigerungsreihen und Kontrasten.
Homer ist mit dem dichterischen Stoff, den er bereits vorgefunden hat, virtuos verfahren, und hat ihn zu einem neuartigen Ganzen zusammengefügt. So sieht es jedenfalls die neuere Forschung. Ihr Mittel war u.a. der Vergleich mit anderen Heldensagen oder bestimmten Sängertraditionen auf dem Balkan. Diese Seitenblicke haben das Zusammenspiel von Form und Inhalt des Epos besser verstehen lassen.
Danach geht der Stoff von Ilias und Odyssee zurück auf eine bereits mehrere Jahrhunderte währende mündliche Tradition. Seit dem Zusammenbruch der mykenischen Monarchien und in der Zeit der Dunklen Jahrhunderte (also zwischen 1200 und 800 v. Chr.) hatten sich die großen Sagenkreise um den Trojanischen Krieg und die Zeit danach ausgebildet. Ein Schatz von sprachlichen Formeln war akkumuliert worden. Mit seiner Hilfe brachten Sänger die mythischen Geschichten im Vortrag zu Gehör – in stets neu improvisierten Variationen.
Im 8. Jh. v. Chr. fanden die Griechen zu ihrer Alphabetschrift. Mit ihrer Hilfe gestaltete Homer aus den umlaufenden Traditionen seine Gedichte. Sie waren dennoch für lange Jahrhunderte nicht als Lesestoff gedacht, sondern in ihrer Wirkungsweise auf die Bedingungen einer mündlichen Kultur abgestellt. Mit diesem Befund können wir nun den Charakter der beiden Epen besser beschreiben.
Auf den ersten Blick nämlich spielen die Geschichten, von denen Ilias und Odyssee erzählen, in der Welt von Fürsten der Vorzeit. Als man im 19. Jh. die spätbronzezeitliche Zivilisation in Griechenland entdeckt hatte, wurden Namen wie Agamennon oder Menelaos sogleich mit der mykenischen Kultur verbunden. Das Handlungsgerüst, die Orte der Handlung, einige Namen, einige prachtvolle und exotische Gegenstände sollten die Hörer Homers im 8.Jh. v. Chr. tatsächlich in eine längst verschwundene sagenhafte Epoche zurückversetzen. Jene Vorzeit war von der Gegenwart Homers durch eine märchenhafte Überhöhung unterschieden.
Das also waren die Stoffe, über die das Publikum des 8. und 7. vorchristlichen Jhs. von Homer etwas zu hören erwartete. Eine andere Erwartung war, daß seine Zuhörer sich trotz aller Verklärung in dem, was sie hörten, auch wiederfinden mußten, weil es ihr Interesse erregte.
Die Erforschung der mündlichen Dichtung hat nämlich ergeben, daß durch mündliche Überlieferung nur das weitergetragen wird, was für die jeweils gegenwärtige Gesellschaft wissenswert und damit erinnerungswürdig ist. Nur dann kann es auch verstanden werden und macht für die Zuhörer Sinn.
Mündliche Dichtung richtet sich immer an ein konkretes, eben ein zeitgenössisches Publikum. Daher müssen Homers Beschreibungen der alltäglichen Lebenswelt, des Handelns im Haus und in der Öffentlichkeit, der wirtschaftlichen Existenzgrundlagen und der politischen Verfaßtheit den Erfahrungshorizont des Publikums zum Zeitpunkt der schriftlichen Fixierung der Epen getreu widerspiegeln.
Andererseits sind manche Elemente in der Schilderung des materiellen Lebens auch eine Folge dichterischer Überhöhung und exotischer Verfremdung, etwa Paläste, Stadtanlagen und Bronzewaffen, nicht zuletzt die Bilder von materiellem Überfluß und Prosperität, die nach Ausweis der archäologischen Funde der Wirklichkeit der homerischen Zeit gar nicht entsprechen. Vor allem hier ist der Blick auf den Orient erhellend. Manche Anregungen für solche literarischen Stilisierungen erhielt Homer vermutlich aus den Berichten über die zeitgenössischen Kulturen des Orients.
Die literarische Kunst der beiden Epen äußert sich jedoch jenseits von solchen künstlichen Verfremdungen darin, daß sie von einem einheitlichen geistigen Habitus, einer homogenen Weltsicht durchdrungen sind. Dadurch wurden sie für die Griechen zu einem Gefäß der gesellschaftlichen Selbstverständigung und Selbstidentifikation.
Es besteht also ein enger Zusammenhang von Dichtung und Lebenswelt, und hier liegt denn auch die Antwort auf die am meisten gestellte der homerischen Fragen, die nämlich nach der Historizität, dem geschichtlichen Realitätsgehalt der Epen. Die Frage, ob die homerischen Griechen und der Krieg um Troja auf eine reale Vergangenheit zu beziehen sind und wenn ja, auf welche, wird bis heute höchst kontrovers diskutiert.
Noch vor dem Streit um die Thesen Raoul Schrotts hielt in jüngerer Zeit über einige Monate hin eine Trojadebatte die Öffentlichkeit in Atem. Auch sie reichte weit über die Fachwelt hinaus. Die Kontrahenten waren auf der einen Seite Manfred Korfmann, der damalige, mittlerweile verstorbene Leiter der Grabungen in der Troas, dem äußersten nordwestlichen Zipfel der Türkei, und auf der anderen Seite Frank Kolb, der Althistoriker und Kollege Korfmanns an der Universität Tübingen. Und schon vor über hundert Jahren ist es bereits einmal ähnlich zugegangen. Damals nämlich glaubte Heinrich Schliemann mit der Ilias in der Hand die Burg des Priamos zu finden und stieß damit auf erbitterten Widerstand der Altertumswissenschaft.
Doch waren Aufregung und Streit darüber damals wie heute eigentlich überflüssig. Manfred Korfmann und mit ihm einer der besten Kenner Homers, der Gräzist Joachim Latacz, sind überzeugt, ein Troja entdeckt zu haben, das Homer wohl zu entsprechen scheint, das aber zugleich doch ganz in die bronzezeitliche Welt des Vorderen Orients – etwa die des Hethiterreichs – zu gehören scheint. Und tatsächlich standen die mykenischen Fürstentümer in engem Austausch mit ihren östlichen Nachbarn.
Noch weiter geht nun der jüngste Versuch von Raoul Schrott, der in Homer einen Schreiber am Hof und im Dienste eines assyrischen Kleinkönigs sehen möchte. Auch für Schrott liegen also die Voraussetzungen für die Epen im Vorderen Orient. Gewiß kann man über die Richtigkeit all solcher Rekonstruktionen mit Gründen streiten. Im Kern aber – und der ist außerhalb der wissenschaftlichen Argumentationen zu suchen – geht es in diesen Debatten immer darum, ob wir in Homer das spezifische Erbe und den Beginn der sog. abendländischen Geschichte in Händen halten.
Für d...

Inhaltsverzeichnis

  1. 1. Die Elemente der sog. „homerischen Frage“