1. Tag: Reise nach Oviedo
Wie aus einer Verspätung ein geschenkter Gaul wird
Etwas seltsam ist es schon, wieder zu einem Jakobsweg unterwegs zu sein. Noch gestern machte ich mit meiner Frau einen gemütlichen Ausflug auf dem Thunersee. Während das Dampfschiff seinen Weg von Thun nach Interlaken zum x-tausendsten Mal fuhr, blitzte in meinem Kopf ab und zu ein Gedanke zum mir noch unbekannten Camino Primitivo auf. So unbekannt und doch irgendwie vertraut. Fast wie eine Beziehung. Man glaubt sich zu kennen und doch ist jeder Tag ein neues Entdecken ...
Das Packen des Rucksacks ging gestern unaufgeregt vonstatten. Die wenigen Dinge, die mir noch gefehlt hatten, habe ich im Verlauf der letzten Tage gekauft. Und es ist mir sogar gelungen, das Gewicht noch einmal etwas zu reduzieren. Mit Blick auf das Höhenprofil des Camino Primitivo vermutlich auch keine schlechte Idee.
Von zwei Kindern habe ich mich schon gestern verabschiedet. Heute starte ich den Tag mit einem gemeinsamen Frühstück mit meiner Frau und unserer jüngsten Tochter. Die Zeit vergeht im Flug und schon bald sitze ich im Bus zum Bahnhof. Ein weiterer Abschied. Ich winke meiner Frau noch lange aus dem Zug nach.
Am Flughafen in Zürich wickle ich meinen Rucksack in Plastikfolie ein, damit er die Reise möglichst unbeschadet übersteht. Beim Gate eine riesige Schlange. All die Leute wollen nach Bilbao? Als das Boarding beginnt, löst sich die schöne Ordnung schnell auf. Jeder will der Erste sein. Im Flugzeug sehe ich zu meinem Schrecken, dass auf den Plätzen neben mir – ich habe 9F – ein junges Paar mit einem Baby sitzt. Es stellt sich im Flug heraus, dass das Baby wohlerzogen ist. Nur wenige Minuten schreit es.
Bilbao ist schnell da und auf meinen Rucksack muss ich nicht lange warten. Beim Ausgang will der Polizist nur wissen, von wo ich angereist bin, dann stehe ich schon in Spanien. Ich kaufe mir ein Busbillett in die Stadt. Die Fahrt muss ich stehend verbringen, so voll ist der Bus. Und doch verspüre ich zum ersten Mal richtige Vorfreude auf die Wanderung.
Am Busbahnhof mache ich mich auf, ein Restaurant zu suchen. Bis zur Abfahrt meines Busses dauert es noch über eine Stunde. So bekomme ich bald meinen ersten spanischen Kaffee. Und während ich so im Straßencafé sitze, dringt frischer Brotgeruch an meine Nase. Natürlich kann ich es nicht lassen. Mit einem frischen Brot im Rucksack gehe ich zurück zum Busbahnhof.
Mein Bus ist an der Anzeigetafel noch ohne Perron. Ich kenne die etwas chaotischen Zustände hier und bleibe ruhig. Zwei ältere deutsche Paare hingegen rennen hin und her. Auf welchen Bus sie müssen, habe ich nicht herausgefunden. Die Vier steigen aber bald in ein Taxi, es koste „nur“ 150 Euro, habe ich einen von ihnen sagen hören.
Mit der Zeit mache ich mir dann aber doch etwas Sorgen, weil mein Bus noch immer fehlt. Plötzlich blitzt auf der Anzeigetafel „Perron 19“ auf, ich eile hin. Dort ist ein ziemlicher Zirkus in Gang, da es nicht der Bus nach Gijón ist, sondern jener von Gijón. Einige Spanier machen ihrem Ärger lauthals Luft. Von meinem Bus weiterhin keine Spur.
Bus um Bus verlässt den Platz und der Bus in Richtung Gijón ist wieder von der Tafel verschwunden. Ich mache mich auf zum Billettschalter, da ich der Sache nicht mehr so richtig traue. Dort ist am Schalter eine riesige Schlange, darin stehen auch solche vom eben veranstalteten Zirkus. Offenbar, soviel erfahre ich, kommt der Bus nicht mehr. Das wird mir, sogar auf Englisch, amtlich mit einem Stempel auf dem Billett bestätigt. Und ein handschriftlicher Vermerk weist mich auf den Bus um 18 Uhr. Der kommt fast rechtzeitig, doch machen die Spanier wieder so Radau, dass der Bus erst mit über einer Viertelstunde Verspätung abfahren kann.
Der letzte Bus des Tages mit Halt in Oviedo stellt sich als Bummelbus heraus, der an vielen Orten hält. Zum Glück habe ich noch Wasser und ein Twix gekauft. Zusammen mit dem Brot ist das mein Abendessen.
Im Bus setzt sich die Frau, die den ganzen Tumult angeführt hat, kurz zu mir. Ich müsse in Oviedo an den Schalter, damit ich eine Rückerstattung bekomme. Sie habe mit der Polizei gedroht, sagt sie mir ganz stolz. Bei jedem Halt stürmt sie aus dem Bus, um eine Zigarette zu rauchen. Wie hätte sie die Fahrt fast ohne Halt durchgestanden? Später kommt noch eine Angestellte der Busgesellschaft zu mir und entschuldigt sich für die Verspätung. Auch sie erklärt, ich müsse an einen Busschalter für die Rückerstattung.
Um 22.45 Uhr ist der Bus endlich in Oviedo. In der Zwischenzeit habe ich herausgefunden, dass mein Hotel um 23 Uhr schließt. Also nehme ich mir ein Taxi und erreiche das Hotel „Confort“ gerade noch rechtzeitig. Nach dem Zimmerbezug schließe ich den Tag mit einem Bier in der Bar neben dem Hotel ab.
2. Tag: Oviedo - Grado
Wie ich schließlich doch im Hotelzimmer lande
Nach einer kurzen Nacht stehe ich um 6.00 Uhr auf. Ich möchte den ersten Wandertag früh starten. Dass es noch sehr früh ist, zeigt mir die dunkle Nacht, die mich durchs Fenster begrüßt. Das wäre nun also der Westen ... In der Bar gleich neben dem Hotel trinke ich einen Kaffee und esse ein klebriges Croissant.
Um 7.05 Uhr gehe ich los. Mein erstes Ziel ist der Busbahnhof. Am Schalter der Busgesellschaft ALSA bekomme ich anstandslos eine volle Rückerstattung auf die missglückte Fahrt vom Vortag. Das Geld wird auf meine Kreditkarte zurückgebucht. Alles hat eine gute Seite.
Der Weg aus der Stadt ist leicht zu finden. Um 7.25 Uhr treffe ich auf den ersten gelben Pfeil und fast gleichzeitig auch auf einen anderen Pilger. Ihn überhole ich aber bald. Zuverlässig führen mich gelbe Pfeile und Messingmuscheln am Boden aus der Stadt. Schon bald hat es nur noch wenig Häuser. Dafür zeigen jetzt Steinmonolithen und schöne, hellblaue Kacheln den Weg nach Santiago (die Strahlen der Muschel laufen auf Santiago zu). Statt Sonne hat es Nebel. Der Weg geht leicht auf und ab, immer mal wieder auf wenig befahrenen Straßen. Menschen begegnen mir kaum. Einmal sehe ich einige Pilger vor einer Bar sitzen. Dort ist es mir für einen Halt aber noch zu früh. Bei einer kleinen Kapelle stemple ich meinen Pilgerpass, schaden kann es ja nicht. An einem kleinen Gebäude lese ich: "A-SANTIAGO 335 KMS". Wie lange ich wohl dafür benötige?
Die Kennzeichnung des Wegs ist ausgezeichnet, verlaufen kann man sich hier nicht. Ich versuche vergeblich, meine Mutter anzurufen. Später klingelt mein Telefon und sie ruft zurück. Wir plaudern miteinander und ich schildere, was ich gerade sehe.
Gut fünf Kilometer vor Grado mache ich um 11 Uhr Pause und studiere den Reiseführer. Ob ich vielleicht doch noch ein etwas weiter entferntes Ziel ins Auge fassen soll? Die Antwort lasse ich im Moment offen. Ich werde auf meine Füße hören. Um 13.15 Uhr treffe ich bei der Herberge ein. Vier Pilger warten dort bereits. Da noch Zeit ist und die Herberge 16 Plätze hat, beschließe ich, schnell meine Einkäufe zu erledigen und mich beim einzigen Hotel in der Stadt nach den Preisen zu erkundigen.
Im Supermarkt, der sich gleich neben dem Hotel „Auto Bar“ befindet, kaufe ich die üblichen Sachen. Der Rucksack wird schwerer ... Im Hotel will man von mir 30 Euro für ein Zimmer, das ist mir dann doch zu teuer. Zurück bei der Herberge warten mit mir eingerechnet schon 13 Pilger darauf, dass der Hospitalero erscheint. Doch 14 Uhr geht vorüber, ohne das etwas passiert. Die Spanier werden langsam nervös. Eine Nachbarin telefoniert irgendwohin, keine Neuigkeiten. Ein Spanier verabschiedet sich, er wandere weiter. Ich beginne, meine gekauften Lebensmittel zu verspeisen, um die Wartezeit sinnvoll zu nutzen.
Kurz vor 15 Uhr kommt Bewegung in die Sache: Die Lokalpolizei fährt vor und inspiziert den Nebeneingang. Gleich darauf zwei weitere Fahrzeuge. Es wird diskutiert und endlich erbarmt sich ein beleibter Herr mit Rossschwanz der Pilger. Er verkündet (natürlich nur auf Spanisch), dass der Hospitalero erkrankt sei und man einen Ersatz suche. Die Herberge werde später öffnen. Mir kommt das etwas spanisch vor und ich beschließe, mein Glück nun doch im Hotel zu versuchen. Denn eigentlich möchte ich schon lange unter die Dusche und ich habe keine Lust, mir später am Nachmittag dann doch noch eine Ersatzunterkunft zu suchen, sollte doch kein Hospitalero auftauchen. Also wieder zurück zum Hotel (das Werbeschild sagt 200 Meter, meint aber einen Kilometer). Dort will man mir erst ein Doppelzimmer mit einem anderen Pilger schmackhaft machen, was ich aber nicht will. Die neue Offerte für ein Doppelzimmer zur alleinigen Benutzung lautet 25 Euro. So hat sich der Umweg über die Herberge doch noch gelohnt.
Ich wasche meine Sachen und spanne die Wäscheleine durch das Hotelzimmer. Ob die Kleider trocken werden, wird sich weisen. Nach der Dusche lege ich mich für eine Siesta hin. Der Tag war doch anstrengender als gedacht. Später schreibe ich im Restaurant, das zum Hotel gehört, in meinem Tagebuch. Dazu ein Bier und Unterhaltung von einem laut eingestellten Fernseher. Der Wetterbericht für den nächsten Tag ist widersprüchlich. Vermutlich gibt es Regen.
(26,3 km)
3. Tag: Grado - Salas
20 Betten für zwei Pilger
Um 6.30 Uhr weckt mich der Wecker meines Telefons. Draußen ist noch dunkle Nacht. Mit dem Losmarschieren eilt es also nicht besonders. Um 7.30 Uhr stehe ich vor dem Hotel. Der Weg ist recht gut markiert. Schnell geht es in die Höhe, die Hügel sind mit Wolken verhangen. Es hat hier Apfelbäume und Eichen. Welch ein Unterschied zu Galicien mit seinen Eukalyptusbäumen. Es begegnen mir nur wenige Pilger. Der Weg geht meist auf unbefestigten Strässchen durch Wälder. Im ständigen Auf und Ab komme ich gut voran.
Meine Gedanken kreisen um meine Kinder und um mein Enkelkind, das im Dezember auf die Welt kommen wird. So denke ich im Gehen über den Lauf der Zeit nach. Generation folgt auf Generation. Der Rhythmus des Lebens. Und gerade jetzt gibt mir der Rhythmus des Wanderns den Takt des Tages an. Mehr als einmal ertappe ich m...