
- 843 Seiten
- German
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eBook - ePub
Über dieses Buch
Diese Autobiographie erschien zuerst, 1944, in englischer Sprache unter dem Titel »The Turning Point«.Das vorliegende Buch ist eine erweiterte Fassung, die der Autor selbst in deutscher Sprache schrieb.
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Information
Zwölftes Kapitel
Der Wendepunkt
1943-1945
An Mrs. Thomas Mann, Pacific Palisades (Calif.)
Fort Dix (bei New York), den 6. I. 1943
Soldatenmutter!
Es ist nur, damit Du weißt, wo ich stecke. Lange freilich wird hier meines Bleibens nicht sein. Dies ist ein »Induction Center«, was bedeuten will, daß die neuen Rekruten hier herumsitzen und warten, bis sie einer bestimmten Waffengattung zugeteilt und irgendwohin zum »Basic Training« verfrachtet werden. Ich kann nur hoffen, daß dieses »Herumsitzen« – ein ziemlich euphemistischer Ausdruck! – sich in meinem Fall nicht gar zu sehr in die Länge ziehen möge; denn, unter uns gesagt, das Leben hier ist nicht gerade lustig.
Die ersten zwei, drei Tage gingen noch. Zunächst gab es die Einkleidungszeremonie (Uniform, Stiefel, Windjacke, Overalls zur Arbeit, sogenannte »fatigues«, Regenmantel, Wintermantel, Handschuhe, Hemden, Socken, Unterwäsche, sogar Toilettengegenstände: alles von prächtiger Qualität; aber noch keine Waffen …); dann kamen allerlei Interviews mit »classification officers« und die berühmte Intelligenz-Prüfung, bei der ich übrigens nur knapp mittelgut abschnitt. (Angeborene Blödigkeit? Oder sollte der »test« nicht unbedingt zuverlässig sein?) Außerdem wurden wir gegen die verschiedensten Seuchen geimpft und mußten eine Reihe von Ansprachen – teils religiös erbaulicher, teils wissenschaftlich aufklärender Art – über uns ergehen lassen. Am besten gefiel mir der Vortrag »Wie hüte ich mich vor Geschlechtskrankheiten?«, besonders wegen des sehr realistischen Films, der nachher zur Vorführung kam. Nun weiß ich alles. Dein Sohn ist gewarnt.
Also, wie gesagt, diese ersten Tage waren noch leidlich angeregt. Dann fing der Stumpfsinn an. Die Herren Sergeanten und Korporale lassen uns die wunderlichsten Dinge tun. Ein beliebter Sport ist das Aufheben von Zigarettenstummeln und Papierfetzen. Heute früh, gleich nach dem Bett-Machen (Du solltest sehen, wie gut ich das schon kann!), mußte unsere Kompanie zu einem Marsch durch das ganze Lager antreten, wobei es sich nicht etwa um eine militärische Übung handelte, sondern um eine Säuberungsaktion großen Stils. Ich sammelte im Lauf des Morgens so viele »cigarette butts«, daß der Feldwebel ganz beeindruckt war und mich gnädig auf die Schulter klopfte: »Good work, Soldier! Keep it up!« Nachmittags hatte ich dann ein relativ leichtes Amt: vier Stunden lang Wache-Stehen vor dem Klosett im Clubhaus der Offiziere. Das Klosett ist nämlich kaputt und soll zur Zeit nicht benutzt werden, ein mißlicher Umstand, auf den ein großes Plakat an der Türe ausdrücklich und eindeutig hinweist. Aber irgendein zerstreuter Oberst oder mutwilliger General könnte es sich ja einfallen lassen, die lädierte Toilette (warum man sie wohl nicht abschließt?) trotzdem zu benutzen. Um dies zu verhindern, ist die Wache da. Hätte der Commanding Officer von Fort Dix sich an mir vorbei in den verbotenen Lokus drängen wollen, ich wäre berechtigt, ja verpflichtet gewesen, ihm mit höflicher Entschiedenheit entgegenzutreten: »Sorry, Sir! But this latrine happens to be out of order.« Glücklicherweise kam es nicht so weit. Die vier Stunden verliefen ohne Zwischenfall.
Morgen habe ich den ganzen Tag »K. P.«, was allgemein als das Schlimmste gilt … Aber Du weißt womöglich gar nicht, was »K. P.« bedeutet? »Kitchen Police« natürlich, was denn sonst? Küchendienst von fünf Uhr morgens bis zehn Uhr abends! Deine schwarze Magd würde Dir schön kommen, wenn Du ihr dergleichen zumuten wolltest.
Ich bin trotz alledem guter Dinge. Die Leute in meiner (sehr provisorischen) Kompanie sind ganz nett; meistens italienischer Abstammung und in Brooklyn gebürtig. Ziemlich rührend war das Wiedersehen mit einem Liftboy aus dem Bedford-Hotel: er schlief just in dem Bett über meinem. – Wie der Zufall doch spielt! Da ich ihm in zivilen Tagen generöse Trinkgelder zu geben pflegte, zeigte er sich recht huldvoll und unterwies mich in der Kunst des Stiefel-Putzens. Heute früh bekam er seine »travel orders« und ist jetzt schon unterwegs – »destination unknown«. (Kein G. I. darf je wissen, wohin er verschickt wird! Alles ist »militärisches Geheimnis«!) Der Junge, der nun das Bett des Liftboys übernommen hat, scheint auch ganz brav, wenngleich ein bißchen wortkarg. Der einzige, dem er sich anvertraut, ist sein lieber Herrgott im Himmel. Vor dem Schlafengehen kniete er ein paar Minuten lang auf dem kalten Boden, gleich neben unserem Lager, mit gefalteten Händen und gesenkter Stirn. Es war noch hell im Saal, so daß alle ihn sehen konnten. Hat aber keiner über ihn gelacht.
Ich kritzle und kritzle, beim Schein meiner Taschenlampe, was natürlich streng verboten ist. Wenn der Sergeant mich erwischt, muß ich auch übermorgen noch »K. P.« machen. Ein gräßliches Risiko! Du gestattest also, daß ich hastig-herzlich schließe. Mit Kratzfüßen für Vater Zauberer …
An Miss Erika Mann, New York
Camp Joseph T. Robinson (Arkansas), den 14. II. 1943
Ich bin heute nacht »C. Q.« (»in charge of quarters«) was heißen will, daß ich bis zum »reveille« (hier seltsamerweise »révelli« ausgesprochen) im »Orderly Room« (anderswo »Schreibstube« genannt) zu sitzen habe. Sollte das Telephon läuten, so würde ich mit schneidiger Stimme sagen: »B Company Orderly Room – Private Mann speaking!« Und wenn ein »enemy agent« sich einzuschleichen versuchte, müßte ich ihn mit meinem Gewehr in Schach halten, bis die M.P.'s (Military Police) kommen, um ihn festzunehmen. Das Telephon läutet aber nicht, und kein Spion läßt sich sehen. Ich habe also reichlich Zeit, Dir auf der schönen Schreibmaschine des First Sergeant ein Ausführliches hinzutippen.
Wo magst Du Dich aufhalten? Ich hatte alle Deine »lecture«-Engagements fein säuberlich auf einem Zettel: der mir denn auch prompt abhanden kam. Nun weiß ich nicht, in welcher Gegend des Landes Du Dich derzeit produzierst, und schreibe Dir also ins »Bedford«: hoffentlich schickt man Dir's nach. Wenn aber Deine Tournée Dich in diese südliche Regionen führen sollte, so denkst Du gewiß daran, daß die Stadt Little Rock – Kapitale des Staates Arkansas – ganz in der Nähe unseres Camp gelegen und per Schnellzug, Flugzeug oder Autobus sehr bequem zu erreichen ist. Das wäre doch gar zu schön, wenn Du plötzlich mal kämest! Einen Abend würde man mir hier schon Urlaub geben, obwohl der First Sergeant – so ein Dicker mit mürrischen Hängebacken und bösen Metzgerhundaugen – im allgemeinen eher zum Sadismus neigt. Aber schlimmstenfalls gehe ich halt zur höheren Instanz und appelliere an die Menschlichkeit des Commanding Officer, ein recht fideler Herr, der seine Leute gern bei guter Laune hält.
Ich habe überhaupt Glück mit den Vorgesetzten (der Oberfeldwebel ist eine häßliche Ausnahme) und mit den Kameraden komme ich auch gut aus. Die meisten sind jünger als ich, rüstige Fußballspieler zwischen achtzehn und fünfundzwanzig, weshalb ich denn nicht gerade zu den besten Soldaten der Kompanie gehöre. Das Exerzieren fällt mir ziemlich schwer, die langen Märsche machen mich recht müde, und mit der Flinte weiß ich noch immer nicht viel anzufangen. Du kennst ja meine manuelle Ungeschicklichkeit. Da läge es doch nahe, daß die Fußballspieler meiner spotteten, zumal ich ja auch sonst ein wenig aus dem Rahmen falle. Mein Akzent ist fremd, ich lese Bücher, soll sogar selbst welche geschrieben haben: alles sehr zum Kichern! Man kichert aber nicht, sondern schmunzelt höchstens und nennt mich »the professor«. Das ist gutmütige Ironie – nicht ohne Wohlwollen, ja nicht ohne einen gewissen humoristischen Respekt … Ob europäische Soldaten einen Kauz meiner Art mit ebensoviel Takt und Toleranz behandeln würden? Der Durchschnittsamerikaner mag noch unwissender und naiver sein als der durchschnittliche Europäer; aber gerade diese Naivität macht ihn freundlicher, generöser. Unter den Münchener Buben im Wilhelmsgymnasium habe ich mich fremder und einsamer gefühlt als jetzt bei den G. I.'s.
Über ernste Dinge freilich unterhält man sich wohl besser nicht mit ihnen. Es kommt auch fast nie dazu. Der bevorzugte Gesprächsgegenstand sind Mädchen. Wenn ausnahmsweise niemand eine Weibergeschichte zu erzählen oder ein attraktives Bild zu zeigen hat, so wird auf die Armee geschimpft; es gehört zum guten Ton, alles Militärische zu hassen und zu verachten. Dabei tut man aber doch seine Pflicht und legt Wert darauf, sich als Soldat auszuzeichnen. Daß Amerika den Krieg gewinnen wird, gilt allgemein als selbstverständlich; was aber die Probleme und Umstände betrifft, die zum Kriege geführt haben, so herrscht eine erstaunliche Ahnungslosigkeit. Diejenigen G. I.'s, die sich für solche Fragen überhaupt interessieren – es sind ihrer nicht viele! –, scheinen zu glauben, die Vereinigten Staaten seien von einem selbstsüchtig schlauen, dabei erbärmlich reduzierten England in den Kampf gegen Hitler gehetzt worden. Neulich gab es hier im Camp eine Vorführung des sehr eindrucksvollen und informativen Films »What we are fighting for«. – Alle mußten ihn sehen, und alle hätten bei dieser Gelegenheit manches lernen können. Denn, wenn der Film auch vielleicht nicht ganz deutlich machte, wofür wir kämpfen, so zeigte er doch mit drastischer Genauigkeit, was es für Mächte sind, gegen die wir uns zu wehren haben. Und die Reaktion des soldatischen Publikums? Ein Achselzucken! »Propaganda«. Mit diesem Wort läßt sich alles erledigen, alles beiseite schieben. Skeptische Ignoranz ist nicht zu überzeugen, nicht zu beunruhigen, nicht zu erschüttern. Konzentrationslager? Gestapo-Terror? Überfälle auf schwache Nachbarn? Vertragsbruch? Massenmord? Welteroberungspläne? Der ignorante Skeptiker grinst und hebt die Schulter: »That's just propaganda …« Der ignorante Skeptiker amüsiert sich über Hitler und Mussolini – zwei harmlose Clowns, die zum Vergnügen der G. I.'s auf der Leinwand gestikulieren und schwadronieren. Der ignorante Skeptiker findet den Nürnberger Parteitag »a pretty good show«, die Bücherverbrennungen »a lot of fun«. Pfui-Rufe gab es nur für die Japaner, die man wirklich nicht besonders gerne hat: »Pearl Harbor« wird ihnen doch ein wenig nachgetragen, und übrigens sind sie »farbig«, was als verächtlich gilt.
Ja, das Rassen-Problem … Vorhin habe ich von der »Toleranz« der G. I.'s gesprochen. Ich bleibe dabei: sie sind im ganzen duldsam und generös, ohne Vorurteil, ohne Hochmut und Tücke. Aber es kann nicht geleugnet werden, daß diese Toleranz in vielen Fällen eben doch nur eine begrenzte und bedingte ist; an einem gewissen Punkte hört sie auf. Die Schwarzen und die Gelben sind »Untermenschen«. Man nennt sie nicht so, sondern »nigger« und »yellow-belly«: es läuft aufs gleiche hinaus.
Wir haben uns über diesen melancholischen Aspekt des amerikanischen Lebens, die Neger-Frage, ja schon des öfteren miteinander Gedanken gemacht. Aber seitdem ich hier im Süden bin – Arkansas gehört beinahe schon zum »Deep South« –, ist mir das Problem doch erst in seiner ganzen Dringlichkeit und Bitterkeit bewußt geworden. Von den vier Burschen, mit denen ich mein Zelt oder »Bungalow« teile, stammt einer aus dem Staate Alabama. Johnny heißt er, ein recht lieber Mensch, kaum zwanzig Jahre alt, sanft von Gesicht und Wesen. Aber Du solltest ihn über die »f......niggers« reden hören! Kein Nazi kann schlimmer sein. Ich glaube, so ein Alabama-Johnny würde Hungers sterben, ehe er sich mit Schwarzen an einen Tisch setzte. Lieber im Regen schlafen, als in einem Raum mit Negern! »Those bastards stink!« Johnny bleibt dabei.
Ist das nicht schrecklich? Mich erschreckt es sehr.
Was man so fein »segregation« nennt – die konsequente, starre Trennung zwischen Weiß und Schwarz – wird gerade hier, in der Armee, zum unerträglichen Skandal. Glaubst Du, wir kämen jemals in Kontakt mit unseren dunklen Kameraden? In »Camp Joseph T. Robinson« sind auch Neger-Truppen stationiert. Aber sie leben ganz für sich, in einem besonderen Distrikt des Lagers, einer Art von »schwarzem Ghetto« mit eigener Kirche, eigenem Kino, eigenem »P. X.« (Post-Exchange oder Kantine). Im Autobus, der uns nach Little Rock befördert, gibt es eine eigene Abteilung »For Colored People«. Das geht doch einfach nicht! Das ist doch nicht in Ordnung! Wenn diese Leute gut genug sind, für unser Land zu kämpfen und zu sterben, dann können sie doch nicht zu schlecht sein für unseren »Service Club« und unsere Kapelle! Mit was für Gefühlen diese »colored people« wohl in den Krieg ziehen mögen? Die Frage What are we fighting for?, für diese Parias dürfte sie nicht leicht zu beantworten sein …
Das sind so Nachtgedanken – »rather disturbing«, nicht wahr? Aber nun wird es schon hell draußen, die Trompete wird gleich zum »Révelli« blasen. Wir haben eine Bajonett-Übung heute morgen, nachmittags einen Zwölf-Kilometer-Marsch. Da werde ich wohl wieder etwas stöhnen und schwitzen. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie schwer so ein vollgepackter Tornister ist, wenn man ihn drei, vier Stunden lang schleppen muß! Aber ich schaff es schon. Und wenn ich wirklich gar nicht mehr weiter kann, wird der brave Alabama-Johnny sich meiner erbarmen und den Tornister eine Weile für mich tragen.
Let me hear from you!
Und komm nach Little Rock!
An Hermann Kesten, New York
Camp Joseph T. Robinson (Arkansas), den 31. III. 1943
Ihr Brief war Labsal. Intelligentes Lob wird immer gern gehört, und was Sie mir über meinen »Gide« schreiben, ist von großer Klugheit und Sensivität, wenngleich gewiß zu freundlich. Mein bestes Buch? Vielleicht. Aber deshalb brauchte es noch immer nicht gut zu sein. Jedenfalls sieht es hübsch aus, darin stimme ich mit Ihnen überein. Die »Creative Age«-Leute haben sich Mühe gegeben. Übrigens klingen die ersten Kritiken ermutigend.
All dies scheint merkwürdig entfernt, entrückt, irgendwie irreal. Man lebt hier so völlig in der Wildnis, von der Welt abgeschnitten, besonders von der literarischen. Seit Wochen besteht mein Leben nur noch aus staubigen Märschen, Exerzieren, Schießübungen, Bajonett-Training, »Obstacle Course« (wobei man über breite Gräben springen und auf hohe Bäume klettern muß), Gewehr-Putzen (besonders schwierig!), Stiefel-Putzen (nicht so schlimm), dazwischen ab und zu der mit Recht so unbeliebte Küchendienst. All dies gehört zum »Basic Training«; ich bin jetzt bald fertig damit. Keine Ahnung, was die unberechenbaren, unergründlichen Autoritäten dann über mich verfügen werden. (Die Army-Hierarchie erinnert mich immer mehr an jene schaurig kapriziösen, anonymen Mächte, die im Kafkaschen »Schloß« und »Prozeß« ihr Wesen treiben …) Vielleicht schickt man mich »overseas«, nach England oder zum Pazifischen Kriegsschauplatz (welch seltsame »contradictio in adjecto«); vielleicht werde ich in ein anderes Camp versetzt und bekomme ein »special training«. In Anbetracht meiner Sprachkenntnisse läge es nahe, daß man mich irgendwie im »Intelligence«-Dienst verwendete, etwa zum Verhören deutscher Kriegsgefangener. Aber man erzählt mir, daß die mysteriöse Army eine Neigung hat, Universitätsprofessoren als Lastwagenführer einzusetzen und Analphabeten mit der Abfassung wichtiger Memoranden zu betrauen; jedenfalls soll es im vorigen Kriege so gewesen sein … Nun, man wird ja da sehen, und mir ist alles recht. Ich wollte Soldat sein, und darf mich nun nicht beklagen. (Tue es auch nicht!)
Was immer übrigens mit mir geschehen möge, ich hoffe doch sehr, daß ich noch Zeit finden werde, die überfällige Einleitung zu »Heart of Europe« endlich abzuschließen. Das kurze Vorwort sollte von einem repräsentativen Amerikaner sein – Archibald MacLeish wäre nicht schlecht oder vielleicht die alte Willa Cather; auch Dorothy Canfield Fisher – weniger glänzend, aber von solider Popularität – wäre in Betracht zu ziehen.
Mein Gewissen tut etwas weh, wenn ich an unsere »Anthology« denke, wozu ich nicht häufig komme, aber doch zuweilen. Ich habe Sie da etwas hereingelegt, lieber Freund. Ein schöner »co-editor«, der plötzlich zum Militärdienst desertiert! Während ich mich mit dem Schießgewehr amüsiere, bleibt Ihnen all die garstige Plage mit der Auswahl portugiesischer und finnischer Autoren. Die kleinen Nationen dürften noch einiges Kopfzerbrechen machen. (What about Yugoslavia? What about Greece?) Was die großen betrifft, so sind wir uns wohl so ziemlich einig und im klaren. Die italienische Gruppe rundet sich ganz artig, mit dem schönen Balzac-Essay von Benedetto Croce als Anfang und Borgeses brillantem »D'Annunzio« als Finale. Auch mit den Franzosen bin ich nicht unzufrieden. Die »introduction« von Iwan Goll wird sicher gut; die Zusammenstellung der Texte scheint mir repräsentativ und glücklich. Valéry, Rolland, Gide, Proust, Martin du Gard, Claudel, Larbaud, Romains, Duhamel, Montherlant, Green, Mauriac, Aragon, Malraux, Eluard, Giraudoux, Saint-Exupéry, Maritain, Cocteau, Bernanos – kein ganz Wichtiger ist ausgelassen: es sei denn Sartre und Breton. Aber für alle ist nun mal nicht ...
Inhaltsverzeichnis
- Der Wendepunkt
- Prolog
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- Siebentes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- Zehntes Kapitel
- Elftes Kapitel
- Zwölftes Kapitel
- Nachbemerkung
- Impressum