HENRY MOORE (1898-1986)
Die Anfänge
Am 30. Juli 1898 wird Henry Moore als siebtes von acht Kindern in Castleford / Yorkshire geboren. Moores Vater ist Enkel eines irischen Einwanderers, arbeitet früh im Kohlebergwerk, arbeitet sich empor. Er setzt sich für die Schulbildung seiner Kinder ein.
Wie Barbara Hepworth fällt er im Fach Kunst positiv auf. Henry will sich bereits mit 18 Jahren für ein Stipendium an der Kunstakademie bewerben. Der Vater besteht aber pragmatisch auf einer Ausbildung zum Lehrer. 1915 wird er Referendar an der Schule, die er selbst einst besucht hat. 1917 meldet er sich auf Wunsch seines Vaters freiwillig zum Wehrdienst, um einer Zwangsrekrutierung zuvorzukommen. Er muss dann nach einer kurzen Grundausbildung im Sommer 1917 an die französische Front, wo er bei einem Senfgasangriff in der Schlacht von Cambrai verletzt wird. Damit ist sein Kriegseinsatz beendet. Er nimmt seine Lehrtätigkeit wieder auf, erhält aber 1919 ein Kriegsteilnehmerstipendium, das ihm ein Kunststudium an der Leeds School of Arts ermöglicht. 1920/21 wird auch die erst 16-jährige Barbara Hepworth dort ein Bildhauerstudium beginnen. Beide erhalten ein Stipendium an das Royal College of Art in London. Beide sind befreundet und leben auch mehrere Jahre in unmittelbarer Nachbarschaft in Hampstead, verkehren in denselben Künstlerkreisen, treffen in Paris auf dieselben Kollegen, die sie auch beeinflussen. Beide interessieren sich für archaische und außereuropäische Kunst, besuchen die einschlägigen Museen in London: die Tate Gallery, das British Museum, das Victoria and Albert Museum. Auch ihre Themen decken sich zum Teil. Das direkte Arbeiten am Material zeichnet beide aus. Dennoch haben beide eine eigene Entwicklung, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führt.
Moore ist in erster Linie an mexikanischen und afrikanischen Skulpturen interessiert. Besonders fasziniert ihn eine mexikanische Figur aus dem 12. Jahrhundert, eine Toltec-Maya Skulptur von Chac-Mool, eine liegende Figur aus Chichen Itza auf der Yucatan Halbinsel in Mexiko. Die Figur begegnet ihm als Gipsabdruck im Trocadero in Paris. Sie wird zum Anstoß für ein in Moores Werk durchgehendem Thema, das der „Liegenden“ oder wie sie im Englischen, so meine ich, passender heißt, „Reclining figure“, die auch nicht auf das Geschlecht eingeht.
Es ist anzunehmen, dass Moore während seines Italienaufenthalts auch etruskische Sarkophage gesehen hat. Diese frühen „Liegenden“, Figuren, die sich aufstützend auf einer Unterlage ruhen, nehmen die Haltung von Moores „Liegenden“ ein. Doch liegen diese Paare stets lachend auf ihren Sargdeckeln, so als lägen sie in fröhlicher Runde zu Tische bei einem Symposion. Moore strukturiert die meist kleinen Köpfe seiner fast ausschließlich weiblichen Figuren allerdings kaum.
Von Rodin weiß man, dass er drei Köpfe aus Grabstätten von Palmyra besessen hat. Offenbar inspirierte ihn diese antike Kunst im Hinblick auf sein eigenes Schaffen. Nun findet man in den Grabstätten von Palmyra, Grabtürmen, einen zentralen Korridor, an dessen Ende ein großes Grabrelief aus Stein steht, das in der Regel das Familienoberhaupt zeigt, umringt von anderen Familienmitgliedern. Das Relief, das manchmal auch skulpturalen Charakter hat, ist eine Sarkophagimitation. Die liegende Figur hat stets dieselbe Position. Während das rechte Bein angestellt ist, liegt das linke angewinkelt am Boden. Dadurch kommt es zu einer Öffnung zwischen den beiden Beinen. Bei liegenden Frauen wird die Lücke durch Falten zwar verdeckt, bleibt aber plastisch als Eingriff erhalten. Diese Art der Darstellung trifft sich mit Skulpturen von Henry Moore, wobei es zumindest möglich wäre, dass er in Paris einem solchen Relief begegnet sein könnte.
Zur Abbildung auf S.147:
Grabrelief aus der Totenstadt von Palmyra: Die liegende Figur, hier ein Priester, gekennzeichnet durch den Hut, hat stets dieselbe Position. Während hier das rechte Bein angestellt ist, liegt das linke angewinkelt am Boden. Dadurch kommt es zu einer Öffnung zwischen den beiden Beinen. Bei anderen Liegenden wird die Lücke durch Falten zwar verdeckt, aber bleibt plastisch als Eingriff erhalten.
Neben der „Liegenden“ geht bei Moore noch ein anderes Motiv auf diese frühe Phase zurück, es ist das Mutter-Kind-Thema. Hier wird allerdings deutlich, dass Hepworth und Moore bei der Beschäftigung mit demselben Thema doch von unterschiedlichen, auch von den jeweiligen von der Biografie bestimmten Voraussetzungen ausgehen und zu unterschiedlichen Lösungen gelangen.
Beide Künstler unternehmen Reisen nach Paris, wo beide wichtige Anstöße für ihr Schaffen finden. Constantin Brâncuşi bearbeitet wie die beiden Briten den Stein direkt, ohne zuvor Ton- oder Gipsmodelle herzustellen. Dahinter steckt der Versuch, den Eigenschaften des Materials gerecht zu werden, mit ihm zu kooperieren. 1924 erhält Moore sein Diplom am Royal College und gewinnt ein sechsmonatiges Reisestipendium. Gleichzeitig erhält er eine Assistentenstelle am Lehrstuhl für Bildhauerei angeboten und nimmt an. Das ist der entscheidende Schritt in seiner Karriere. Ein Jahr später kann er sein Reisestipendium dann doch noch nutzen. Auch Barbara Hepworth hält sich dank eines Stipendiums zum selben Zeitpunkt in Italien auf, wo sie 1925 den Bildhauer John Skeaping heiratet. Moore erkennt wohl in Giottos Fresken in Padua das plastische Potenzial, ähnlich geht es ihm mit Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle in Rom.
Henry Moore und der Surrealismus
Ab 1921 besucht Henry Moore meist zweimal jährlich Paris. Die französische Metropole ist stimulierend und gibt ihm Impulse für sein Schaffen. Gerade zu Beginn der 1930er Jahre ist es der Surrealismus, mit dem er sich auseinandersetzt. Alberto Giacometti, Joan Miró und Hans Arp lernt er 1931/32 kennen. Erst 1937 trifft er auf Pablo Picasso, obwohl er über die biomorphen Formexperimenten des Spaniers, die in das Jahr 1927 zurückreichen, schon zuvor gut informiert ist. Picassos Federzeichnungen haben entweder etwas Teigiges, Zerfließendes, organisch Anschwellendes oder sind knochige Skelette. Aufgeblähte, weich gerundete Formen sind bei den Surrealisten weit verbreitet, so bei Joan Miró, Yves Tanguy und Salvador Dalí.
Moores Steinskulptur „Composition“ von 1931 widmet sich in ihrer Abstraktion dennoch der Verbindung von Mutter und Kind. Hier enthält das Thema eine stark das Körperliche, Sexuelle betonende Komponente. Die Formung ist noch sehr massiv, die Öffnung spielt noch nicht die zentrale Rolle. In den gleichzeitigen Werken von Barbara Hepworth bekommt das Thema eine völlig andere Begründung. 1929 kommt ihr Sohn Paul zur Welt. Damit kommt für die Mutter das Thema etwas Existenzielles, worüber wir im entsprechenden Kapitel ausführlich gesprochen haben. Im Vergleich zu Picasso aber ist Moores Steinskulptur sehr viel runder, ohne die für Picasso üblichen Verzerrungen.
Moore hat sich schon zu Studienzeiten mit dem Aufbau des menschlichen Skeletts, mit detaillierten Knochenstudien befasst, die in seine biomorphen Darstellungen eingehen. Hans Arps organische runde Formen verbinden eine weitgehendste Abstraktion mit einer harmonischen Ästhetik, deren polierte, spiegelnde Glätte berührt werden möchte. Arp und Moore vertreten beide die Auffassung, dass Skulptur nicht bloße Nachahmung der Natur sein sollte, vielmehr sollte das schöpferische Potenzial, das in der Natur stecke, zur Darstellung kommen. Für eine Weile sind sich die beiden sehr nahe. Während Arp von einer abstrakt formulierten Metamorphose von Werden und Wachsen ausgeht, verbinden sich bei Moore ähnliche Formen zum Menschlichen hin, zum Weiblichen, das für ihn mit Fruchtbarkeit verbunden ist.
Henry Moores Alabasterskulptur „Four-Piece Composition: Reclining Figure“ (1934) löst die immer noch als solche erkennbare „Liegende” in Kopf und Beinfragmente und eine Kugel als Gelenkkopf auf. Diese Knochen lehnen sich an geometrische Grundformen an, die konstruktivistische Prinzipien aufnehmen. In dem proportional übergroßen Kopf, der wie auch bei späteren Skulpturen eine Spaltung nach oben hin aufweist, sind zwei kleine Kreise und eine geschwungene Linie eingekratzt, die ein Gesicht abstrakt andeuten. Auch die Kniescheibe des rechten Beins ist durch einen kleinen Kreis markiert. Aus dem gleichen Stein hat auch Barbara Hepworth ihre Muter-Kind-Skulptur „Two Forms“ 1934 geschaffen. Nachvollziehbar ist aber auch das schon bei Hepworth beobachtete Interesse an der Materialgerechtigkeit, die die Zeichnung des Steins in der Arbeit an der Skulptur einbezieht.
Four-Piece Composition: Reclining Figure (1934) 28
Wie Barbara Hepworth begreift auch Moore die Skulptur als ein Außen und Innen. Auch er will den Raum in einer Figur sichtbar werden lassen, die Form öffnen. Beide beginnen fast zur gleichen Zeit damit, ein Loch in den Stein zu bohren, Öffnungen anzulegen. Das ist neu. Bisher wurde eine Skulptur von Raum umgeben, die Figuration selbst aber war massiv. Jetzt gibt es Leerräume, Lücken, die die Skulptur erst vervollständigen. Form und Raum werden zu komplementären Elementen. Bei Hepworth werden aber weiterhin psychologische Komponenten eine Rolle spielen.
Die 1930er Jahre
Die Skulptur in ihrer Dreidimensionalität wandelt sich von etwas, das Raum einnimmt zu etwas, das Tiefe im Raum öffnet. Die Skulptur ist umgeben von Raum und schließt Raum ein.
Ende der 1920er Jahre sind entscheidende Entwicklungen angerissen. Die erste durchhöhlte liegende Figur entsteht. Der künstlerische Durchbruch ist gelungen. Erste Erfolge stellen sich ein. Im Herbst 1928 lernt Moore seine spätere Ehefrau Irina Radetzky kennen, die am Royal College of Art Malerei studiert. Nach ihrer Heirat ziehen Moore und seine Frau in die Parkhill Road im Londoner Stadtteil Hampstead, wo bereits eine Reihe von avantgardistischen Künstlern und Schriftstellern leben, unter ihnen Barbara Hepworth und Naum Gabo. Auch der Kunstkritiker Herbert Read gehört in Moores Freundeskreis. Mit John Skeaping, dem damaligen Mann von Barbara Hepworth, vertritt Moore Großbritannien auf der Biennale in Venedig.
Moore und Hepworth gründen mit anderen 1933 di...