Die Sardursburg und der Van Kalesi (Tušpa)
Am westlichen Fuß des Van-Felsens existiert ein rätselhaftes Bauwerk, das von Lehmann-Haupt und Belck Sardursburg genannt wurde. Die Einheimischen nennen den Komplex Madır Burçu.
Bis zum Besuch der beiden deutschen Wissenschaftler waren nur zwei in das Mauerwerk eingelassene Inschriften bekannt. Die beiden Forscher entdeckten noch eine dritte. Inzwischen wurden sechs gleiche Texte gefunden, die noch in assyrisch abgefaßt sind. Sie lauten: „Sardur, der Sohn des Lutipri, spricht also: ich habe diese Steinblöcke aus Alniun herbeigebracht, ich habe diese Befestigung gebaut.“ Lehmann-Haupt besorgte die Übersetzung „Befestigung“, und so wurde Sardursburg daraus.
Die Sardursburg am westlichen Abhang des Van-Felsens ist das älteste, bisher bekannt gewordene Bauwerk der Urartäer.
Wenn man diese L-förmige Konstruktion aus bis zu 6 m langen und bis zu 75 cm hohen Steinblöcken betrachtet, so zweifelt man allerdings daran, daß es sich um eine Burg handelt. Was sollte auch ein derartiger Vorposten unterhalb der stark befestigten und leicht zu verteidigenden Festung auf dem Van-Felsen für einen Sinn gehabt haben?
Es gibt viele Vorschläge zur Funktion dieses Bauwerks: von einer Audienzhalle über ein Propylon bis hin zu einer Hafenmole. Aber auch als Fundament eines Tempels wurde das Objekt gedeutet. Als Argument für einen Torbau führte Mirjo Salvini die Treppe an, die an der Ostseite zur Zitadelle auf den Van-Felsen hinaufführt. Gegen diese Interpretation spricht allerdings, daß urartäische Treppen gemeinhin als Mauerbettungen Verwendung fanden.
Interessant und durchaus überlegenswert ist der Vorschlag von Rudolf Naumann. Er konnte nachweisen, daß die Abmessungen des Zentralbaus etwa 12,60 m x 12,60 m betragen und damit der Grundfläche eines urartäischen Tempels entsprechen, an den sich zwei Terrassen anschließen. Dafür gibt es zwei Argumente. Die sechs gleichlautenden Texte verweisen auf ein Kultgebäude. Außerdem kann man auf alten Fotografien noch erkennen, daß auf dem Bauwrk einmal eine größere Anzahl von Steinblöcken gelagert hat, die auf ein vor langer Zeit abgetragenes Gebäude hinweisen. Wenn wir dieser Theorie Glauben schenken wollen, dann würde hier die Plattform des ältesten urartäischen Tempels stehen. Gegen diese Ansicht spricht allerdings, daß der Kultbau völlig ungeschützt war. Außerdem hatten die Tempel der Urartäer Eckrisaliten.
Wenn man davon ausgeht, daß der Van-See vor rund dreitausend Jahren bis an die Sardursburg heran gereicht hat, dann kann man sich gut vorstellen, daß das Mauerwerk als Leuchtturm oder als Kai gedient hat. Auf dem Bau könnte aber auch ein repräsentatives Portal seinen Platz gehabt haben.
Eine fast völlig zerstörte Inschrift an der Sardursburg.
Diese „Treppe“ findet man am Westende der Sardursburg.
Über den Gründer und das Gründungsdatum der urartäischen Hauptstadt Tušpa auf dem Van Kalesi wissen wir nichts. Es ist jedoch anzunehmen, daß die Siedlung auf dem Van-Felsen (türkisch: Van Kalesi) von König Sardur I. (etwa 840 bis 825 v. Chr.) im Zusammenhang mit der Errichtung der Sardursburg erbaut wurde.
Der ungefähr 1.500 m lange, 70 bis 80 m breite und bis zu 100 m hohe Van-Felsen erhebt sich aus einer ansonsten ebenen Landschaft am Ostufer des Van-Sees westlich der modernen Stadt Van. An der steil abfallenden Südflanke waren nur wenige Befestigungsmauern nötig. Am flach auslaufenden Nordhang erinnern noch die sogenannten „irrationalen Treppen“ an den Verlauf der urartäischen Wälle. Im Osten und im Westen haben die Urartäer durch Einschnitte, die sie in den Felsen getrieben haben, ihre Zitadelle noch zusätzlich gesichert.
Blick auf den Van Kalesi.
Friedrich Eduard Schulz, der in den Jahren 1827/28 das Gebiet von Van bereist hat, verdanken wir die ersten Informationen über die urartäische Hauptstadt Tušpa. Er durfte die für Fremde gesperrte osmanische Festung auf dem Van-Felsen besuchen und konnte die Ruinen als Reste der urartäischen Metropole identifizieren. Es gelang ihm in die schon von Moses von Chorene beschriebenen Felskammern vorzudringen und von ihnen Pläne anzufertigen. Von den schon seit längerem bekannten Keilschrifttexten erstellte Schulz Kopien.
Nach Schulz kam im Jahr 1838 der französische Forschungsreisende Charles Texier, der die hethitische Hauptstadt Hattuša entdeckt hatte, nach Van. Ihm folgte Austen Henry Layard, der durch seine Grabungen in Nimrud (Kalach) und Ninive berühmt geworden war.
Neuen Schwung in die Erforschung von Tušpa brachten Carl Friedrich Lehmann-Haupt und Waldemar Belck, die 1898 nach Van aufbrachen. Ihnen ist es zu verdanken, daß der Van Kalesi zum erstenmal wissenschaftlich untersucht wurde. Von den Grabkammern zeichneten sie maßstabsgetreue Pläne. Belck war auch der erste Wissenschaftler, der es schaffte, bis zu den kleinen Horhor-Kammern vorzudringen.
Während der russischen Besetzung im 1. Weltkrieg haben die russische Wissenschaftler Nikolai Jakowlewitsch Marr und Joseph Abgarowitsch Orbeli die Siedlung auf dem Van Kalesi erkundet.
In den Jahren 1938/1939 forschten die Amerikaner Kirsopp und Silva Lake auf dem Höhenzug. Seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts arbeiten türkische Archäologen hier. Sie entdeckten den sogenannten Neuen Palast, der vermutlich von Argišti I. erbaut wurde.
Bevor wir den langgestreckten Berg besteigen, sollten wir ihn uns von unten aus anschauen. Von der Sardursburg aus laufen wir entlang der Südflanke des Van-Felsens in Richtung Osten. Bald darauf erscheinen in schwindelerregender Höhe die Eingänge zu den beiden Horhor-Kammern (1).
Ebenfalls im Steilabfall, nur etwa 30 m östlich der Horhor-Kammern, erblicken wir eine große künstlich geglättete Felsenfläche, in deren Mitte eine Nische zu erkennen ist.
Lehmann-Haupt bezeichnete diese Nische als das „rätselhafteste Monument“ auf dem Van-Felsen und beschrieb ihre abenteuerliche Besichtigung durch seinen Kollegen Waldemar Belck wie folgt:
„Da entdeckten wir beide gleichzeitig auf dem Weg zur Festung hoch an den Felsen eine bisher nie bemerkte große Nische von höchst inschriftenverdächtigem Aussehen. Aber wie zu ihr zu gelangen? Ihre Steilheit und Unzulänglichkeit übertrifft ziemlich alles Erlebte, da sie sich gerade in der Mitte des hier beinahe senkrechten Südabfalls des Zitadellenberges befindet. Kein Weg scheint dahin zu führen. Der eine der uns beigegebenen Soldaten gelangt aber ziemlich ohne Fährlichkeiten dahin und meldet herunter: eine Keilinschrift. Wir trauten der Sache aber nicht und senden nach Färädj, dem keilschriftkundigen und klettergewandten. Aber unsere Ungeduld ist zu groß, ihn abzuwarten, und da für mich als nicht Schwindelfreien dieser Spaziergang ausgeschlossen ist, so will mein Reisegefährte die Sache unternehmen, was aber an seinen zu engen Reithosen und Stiefeln zu scheitern scheint. Auch dieses Hindernis wird aber schließlich abgeholfen. Dr. Belck läßt sich von einem uns begleitenden jungen Armenier dessen weite Hose und dicke Socken geben und tritt so ausgerüstet die Kletterpartie an, während der Armenier in Unterhosen und bloßen Füßen unten sitzen bleibt. Mühsam kommt der Kletternde oben an und meldet herunter, es sei nichts, auch sei zum Herunterkommen eine Leiter erwünscht. Ich schicke fort um diese zu beschaffen. Da ertönt es von oben: Es ist doch eine Inschrift und eine kolossale, aber sorgfältig weggehauen. Nach dem Brauch des Altertums in derartigen Dingen ist anzunehmen, daß es sich um eine „damnatio memoriae“, eine Tilgung aus dem Gedächtnis der Menschen handeln sollte, wie sie bei feindlichen oder für illegitim erklärten Herrschern üblich war.“
Das „rätselhafteste Monument“ auf dem Van Kalesi (nach Carl
Friedrich Lehmann-Haupt in „Armenien einst und jetzt“).
Die Eingänge zu den Horhor-Kammern an der steilen Südflanke.
Wir wandern weiter auf den Ruinen der alten Stadt Van, in der es im späten 19. Jahrhundert sogar ein deutsches Waisenhaus gab. Walter Bachmann besuchte und beschrieb Van, die Kirchen und die Moscheen im Jahr 1911 auf seiner Rückreise von Mosul nach Trabzon. Schon damals gab es Massaker an den Armeniern, und viele Gebäude waren von ihren Bewohnern verlassen worden. In den Wirren des 1.Weltkriegs ging die Stadt unter. Heute sieht man neben zwei Moscheen vor allem Ruinenhügel. Von der mittelalterlichen Stadtmauer zeugen nur noch spärliche Reste. Die in den ehemaligen christlichen Gotteshäusern wiederverwendeten...