
- 300 Seiten
- German
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eBook - ePub
Reise nach Russland
Über dieses Buch
Eindrücke Stefan Zweigs nach einer zweiwöchigen Rußlandreise im Jahre 1928."Reise nach Russland" ist ein Werk des österreichischen Autors Stefan Zweig. Stefan Zweigmehrbuch veröffentlicht somit wieder einen Literaturklassiker der niemals in Vergessenheit geraten sollte.
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Information
Thema
LiteraturRedliche Vorbemerkung
Welche Reise innerhalb unserer näheren Welt wäre heute (1928) auch nur annähernd so interessant, bezaubernd, belehrend und aufregend wie jene nach Rußland? Während unser Europa, und besonders die Hauptstädte, dem unaufhaltsam zeitgemäßen Prozeß wechselseitiger Anformung und Verähnlichung unterliegen, bleibt Rußland völlig vergleichslos. Nicht nur das Auge, nicht nur der ästhetische Sinn wird von dieser urtümlichen Architektonik, dieser neuen Volkswesenheit in unablässiger Überraschtheit ergriffen, auch die geistigen Dinge formen sich hier anders, aus anderen Vergangenheiten in eine besondere Zukunft hinein. Die wichtigsten Fragen gesellschaftlich-geistiger Struktur drängen sich an jeder Straßenecke, in jedem Gespräch, in jeder Begegnung unabweisbar auf, ununterbrochen fühlt man sich beschäftigt, interessiert, angeregt und zwischen Begeisterung und Zweifel, zwischen Staunen und Bedenken leidenschaftlich angerufen. So voll ballt sich jede Stunde mit Weltstoff und Denkstoff, daß es leicht wäre, über zehn Tage Rußland ein Buch zu schreiben.
Das haben nun in den letzten Jahren ein paar Dutzend europäische Schriftsteller getan; ich persönlich beneide sie um ihren Mut. Denn klug oder töricht, lügnerisch oder wahr, vorsichtig oder apodiktisch, alle haben sie doch eine fatale Ähnlichkeit mit jenen amerikanischen Reportern, die nach zwei Wochen Cook-Rundfahrten sich ein Buch über Europa erlauben. Wer der russischen Sprache nicht mächtig ist, nur die Hauptstädte Moskau und Leningrad, bloß also die beiden Augen des russischen Riesen gesehen, wer außerdem die neue revolutionäre Ordnung mit den zaristischen Zuständen nicht aus früherer Erfahrung zu vergleichen vermag, sollte, meine ich, redlicherweise lieber verzichten auf Prophezeiung und auf pathetische Entdeckungen. Er darf nur Impressionen geben, farbig und flüchtig wie sie waren, ohne jeden anderen Wert und Anspruch als den gerade in bezug auf Rußland heute wichtigsten: nicht zu übertreiben, nicht zu entstellen und vor allem nicht zu lügen.
Grenze
In Niegoroloie erste russische Erde. Spät abends, so dunkel schon, daß man den berühmten roten Bahnhof mit der Überschrift »Proletarier aller Länder vereinigt euch« nicht mehr wahrnehmen kann. Aber auch die von fabulierenden Reisevorgängern so pittoresk und fradiavolesk geschilderten Rotgardisten, grimmig bis an die Zähne bewaffnet, kann ich mit bestem Willen nicht erblicken, einzig ein paar klug aussehende, durchaus freundlich Uniformierte, ohne Gewehr und blinkende Waffe. Die Holzgrenzhalle wie alle anderen, nur daß statt der Potentaten die Bilder Lenins, Engels', Marx' und einiger anderer Führer von den Wänden blicken. Die Revision exakt, genau und geschwind, mit aller erdenklichen Höflichkeit; schon beim ersten Schritt auf die russische Erde spürt man, wieviel Lüge und Übertreiblichkeit man noch totzutreten hat. Nichts ereignet sich härter, strenger, militärischer als an einer anderen Grenze; ohne jeden Übergang steht man plötzlich in einer neuen Welt.
Aber doch, ein erster Eindruck gräbt sich sofort ein, einer jener ersten Eindrücke, wie sie so oft eine erst später bewußt erkannte Situation divinatorisch umfassen. Wir sind im ganzen vielleicht dreißig oder vierzig Personen, die heute die Grenze Rußlands überschreiten, die Hälfte davon bloß Durchreisende, Japaner, Chinesen, Amerikaner, die ohne Aufenthalt mit der mandschurischen Bahn nach Hause sausen; das gibt mathematisch einen Rest von etwa fünfzehn bis zwanzig Personen, die mit diesem Zuge wirklich nur nach Rußland reisen. Dieser Zug wieder ist der einzige am Tage, der von London, Paris, Berlin, Wien, von der Schweiz, aus ganz Europa nach dem Herzen Rußlands, nach seiner Hauptstadt Moskau zielt. Unbewußt erinnert man sich an die letzten Grenzen, die man passierte, erinnert sich, wie viele Tausende und Zehntausende jeden Tag in unsere winzigen Länderchen einreisen, indes hier zwanzig Personen in allem ein Riesenreich, einen Kontinent beschreiten. Zwei oder drei geradelaufende Eisenbahnadern verbinden im ganzen Rußland mit unserer europäischen Welt, und jede von diesen pocht nur matt und zaghaft. Da erinnert man sich an die Grenzübergänge zur Zeit des Krieges, wo auch nur ein siebenmal gesiebtes Häufchen die unsichtbare Linie von Staat zu Staat überschritt, und begreift instinktiv etwas von der augenblicklichen Situation: Rußland ist eine umschlossene Festung, ein wirtschaftliches Kriegsgebiet, durch eine Art Kontinentalsperre, ähnlich jener, die Napoleon über England verhängte, von unserer anders eingestellten Welt abgeschlossen. Man hat eine unsichtbare Mauer überstiegen, sobald man die hundert Schritte vom Eingang zum Ausgang zwischen diesen beiden Türen getan.
Umstellung ins Russische
Noch ehe sich der Zug in Bewegung setzt, Moskau entgegen, erinnert mich ein freundlicher Mitreisender, daß man die Uhr jetzt umstellen müsse, um eine Stunde, von westeuropäischer auf osteuropäische Zeit. Aber dieser rasche Handgriff, diese winzige Schraubendrehung, bald wird man es merken, reicht bei weitem nicht aus. Nicht nur die Stunde auf dem Zifferblatt muß man umstellen, sondern sein ganzes Gefühl von Raum und Zeit, sobald man nach Rußland kommt. Denn innerhalb dieser Dimensionen wirkt sich alles in anderen Maßen und Gewichten aus. Die Zeit wird von der Grenze ab einen rapiden Kurssturz des Wertes erfahren, und ebenso das Distanzgefühl. Hier zählt man die Kilometer nach tausend statt nach hundert, eine Fahrt von zwölf Stunden gilt als Exkursion, eine Reise von drei Tagen und drei Nächten als verhältnismäßig gering. Zeit ist hier Kupfermünze, die keiner spart und sammelt. Eine Stunde Verspätung bei einer Verabredung gilt noch als Höflichkeit, ein Gespräch von vier Stunden als kurze Plauderei, eine öffentliche Rede von anderthalb Stunden als kurze Ansprache. Aber 24 Stunden in Rußland, und die innere Anpassungsfähigkeit wird sich daran gewöhnt haben. Man wird sich schon nicht wundern mehr, daß ein Bekannter von Tiflis drei Tage und drei Nächte herfährt, um einem die Hand zu schütteln, acht Tage später wird man mit gleicher Gelassenheit und Selbstverständlichkeit die Kleinigkeit von 14 Stunden Bahnfahrt auf sich nehmen, um selbst einen solchen »Besuch« zu machen, und sich schon allen Ernstes überlegen, ob man nicht – bloß sechs Tage und sechs Nächte – in den Kaukasus fahren sollte.
Die Zeit hat hier ein anderes Maß, der Raum hat hier ein anderes Maß. Wie in Rubeln und Kopeken, lernt man hier rasch mit diesen neuen Werten rechnen, man lernt warten und sich selber verspäten, Zeit versäumen ohne zu murren, und unbewußt kommt man damit dem Geheimnis der russischen Geschichte und des russischen Wesens nahe. Denn die Gefahr und das Genie dieses Volkes liegt vor allem in seinem ungeheuerlichen Wartenkönnen, in der uns unfaßbaren Geduld, die so weit ist wie das russische Land. Diese Geduld hat die Zeiten überdauert, sie hat Napoleon besiegt und die zaristische Autorität, sie wirkt auch jetzt noch als der mächtigste und tragende Pfeiler in der neuen sozialen Architektur dieser Welt. Denn kein europäisches Volk hätte zu ertragen vermocht, was dieses seit tausend Jahren leidensgewohnte und beinahe leidensfreudige an Schicksal erduldet; fünf Jahre Krieg, dann zwei, drei Revolutionen, dann blutige Bürgerkriege von Norden, von Süden, von Ost und West gleichzeitig sich hin wälzend über jede Stadt und jedes Dorf, schließlich noch die entsetzliche Hungersnot, die Wohnungsnot, die wirtschaftliche Absperrung, die Umschaltung der Vermögen – eine Summe des Leidens und Martyriums, vor der unser Gefühl ehrfürchtig sich beugen muß. All dies hat Rußland nur überstehen können durch diese seine einzige Energie in der Passivität, durch das Mysterium einer unbeschränkten Leidensfähigkeit, durch das gleichzeitig ironische und heroische »Nitschewo« (»Es macht nichts«), durch diese zähe, stumme und im Tiefsten gläubige Geduld, seine eigentliche und unvergleichliche Kraft.
Moskau: Straße vom Bahnhof her
Noch nicht aus dem Zuge nach zwei Nächten und einem Tage – ein heißer, erster, neugieriger Blick durch das klirrende Wagenfenster auf die Straße hin. Überall Drängen und Geschwirr, überfülltes, heftiges, vehementes Leben: es sind plötzlich zu viele Menschen in die neue Hauptstadt gegossen worden, und ihre Häuser, ihre Plätze, ihre Straßen quellen und kochen über von dieser stürmischen Bewegtheit. Über die stolperigen Pflaster flirren flink die Iswotschniks mit ihren Wägelchen und struppig-süßen Bauernpferdchen, Trambahnen sausen blitzschnell mit schwarz angehängten Menschentrauben an der Plattform, dem Strom der Fußgänger stellen sich wie auf einem Jahrmarkt überall kleine Holzbuden entgegen, mitten im Trubel bieten hingekauerte Weiber gemächlich ihre Äpfel, Melonen und Kleinzeug zum Verkauf. All das schwirrt, drängt, stößt mit einer in Rußland gar nicht erwarteten Flinkheit und Eile durcheinander.
Dennoch aber, trotz dieser herrlichen Vitalität, wirkt etwas in dieser Straße nicht voll lebhaft mit. Etwas Düsteres, Graues, Schattenhaftes mengt sich ein, und dieser Schatten kommt von den Häusern. Die stehen über diesem verwirrend phantastischen Treiben irgendwie alt und zermürbt, mit Runzeln und zerfalteten Wangen, mit blinden und beschmutzten Augenlichtern; man erinnert sich an Wien 1919. Der Putz ist von den Fassaden gefallen, den Fensterkreuzen fehlt Farbe und Frische, den Portalen Festigkeit und Glanz. Es war noch keine Zeit, kein Geld da, sie alle zu verjüngen und aufzufrischen, man hat sie vergessen, darum blicken sie derart mürrisch und verjährt. Und dann – was so besonders eindrucksvoll wirkt: während die Straße rauscht, redet, sprudelt, spricht, stehen die Häuser stumm. In den anderen Großstädten gestikulieren, schreien, blitzen die Kaufläden in die Straße hinein, sie türmen lockende Farbspiele, werfen Fangschlingen der Reklame aus, um den Vorübergehenden zu fassen, ihn für einen Augenblick vor den phantastisch bunten Spiegelscheiben festzuhalten. Hier schatten die Läden stumm; ganz still, ohne kunstvolle Türmung, ohne Hilfe eines raffinierten Auslagearrangeurs legen sie ihre paar bescheidenen Dinge (denn keine Luxusware ist hier verstattet) unter die mißmutigen Fensterscheiben. Sie müssen nicht streiten miteinander, nicht ringen und nicht wettkämpfen, die Kaufläden von nebenan und gegenüber, denn sie gehören doch, die einen und die andern, demselben Besitzer, dem Staat, und die notwendigen Dinge brauchen nicht Käufer zu suchen, sie werden selber gesucht; nur das Überflüssige, der Luxus, das eigentlich nicht Gebrauchte, »le superflu«, wie die französische Revolution es nannte, muß sich ausbieten, muß dem Vorübergehenden nachlaufen und ihn am Rockärmel fassen; das wahrhaft Notwendige (und anderes gibt es nicht in Moskau) braucht keinen Appell und keine Fanfaren.
Das gibt der Moskauer Straße (und allen andern in Rußland) einen so eigenartigen und schicksalshaften Ernst, daß ihre Häuser stumm sind und zurückhaltend, eigentlich nur dunkle, hohe, graue Steindämme, zwischen denen die Menschen fluten. Ankündigungen sind selten, selten auch Plakate, und was in roten Schriftzügen breitgerändert über Hallen und Bahnhöfen steht, ruft nicht Raffinements aus, Parfüms und Luxusautomobile, Lebensspielwerk, sondern ist amtliches Aufforderungsplakat der Regierung zur Erhöhung der Produktion, Aufruf, nicht zu Verschwendung, sondern zu Zucht und Zusammenhang. Wieder spürt man hier, wie schon im ersten Augenblick, den entschlossenen Willen, eine Idee zu verteidigen, die ernste, zusammengeballte Energie, streng und stark auch ins Wirtschaftliche gewandt. Sie ist nicht ästhetisch schön, die Straße von Moskau, wie die pointillistisch glitzernden, farbensprühenden, lichtverschwendenden Asphaltbahnen unserer europäischen Städte, aber sie ist lebensvoller, dramatischer und irgendwie schicksalshaft.
Moskau: Blick vom Kreml
Tage hat es gebraucht, bis wir die Verstattung bekamen, durch die immer bewachten Tore dieser uralten Burg emporzuschreiten, wo seit einem halben Jahrtausend die Zaren und nun die neuen Machthaber regieren. Man hat zauberische Kirchen gesehen, mit hell und dunklen wunderbaren Fresken von der Schwelle bis zum Dachrand geschmückt, Prunkgemächer und immer wieder Kathedralen, noch eine und noch eine, die hier dicht und gedrängt aneinander stehen. Man ist durch unzählige Säle geschritten, wo sich Kunstschätze ganzer Geschlechter anhäufen, die Waffen und Werke dieser unübersehbaren Nation. Fast ist es zuviel (immer hat man dieses Gefühl in Rußland, es ist zuviel zu sehen, man brauchte ein Leben, um es zu überschauen); so hält man einen Augenblick inne auf dieser erschöpfend-unerschöpflichen Kunstwanderung und blickt von den Mauern des Kreml auf Moskau, die vielleicht wunderlichste und eigenartigste Stadt der Welt.
Möglicherweise ist es die gleiche Stelle, wo Napoleon einst stand, der große Rasende, der mit sechshunderttausend Mann von Spanien und Frankreich durch Deutschland, durch Polen, durch diese endlose, baumlose, wasserlose Steppe dem Irrlicht des Orients hierher nachzog, der sich unnützerweise von Paris die Oper und die Comédie Française fünfzig Tagereisen weit nachkommen ließ, indes er schon ein gewaltigeres Schauspiel erlebte: eine brennende Stadt zu seinen Füßen. Betäubender, verwirrender Anblick muß es damals gewesen sein, und er ist es noch heute. Ein barbarisches Durcheinander, ein planloses Kunterbunt, von der Neuzeit nur noch pittoresker gemacht: grellrot gestrichene Barockkathedralen neben einem Betonwolkenkratzer, weitläufige schloßhafte Paläste neben schlechtgetünchten Holzhäusern mit grindigem Verputz; zwiebeltürmige, halb byzantinische, halb chinesische Kirchen ducken sich unter die riesenhafte technische Eiffelturmsilhouette der Funkstation, schlecht nachgeahmte Renaissancepalais halten sonderbare Nachbarschaft mit Kaschemmenhütten. Und zwischen all dem, rechts und links und vorn und rückwärts, überall Kirchen, Kirchen, Kirchen, mit ihren heraufgeschraubten Türmen, vierzig mal vierzig, wie die Russen sagen, aber jede anders in Farbe und Formen, ein Jahrmarkt aller Stile, eine zusammengequirlt phantastische Ausstellung aller Bauformen und Kolorite. Nichts paßt zueinander in dieser planlosesten, scheinbar improvisiertesten aller Städte, und gerade diese unablässige Kontrasthaftigkeit macht sie so unerhört überraschend. Man geht hundert Schritt eine Straße entlang und meint, in Europa zu sein, und, kaum um die Ecke, so glaubt man sich schon nach Isfahan verschlagen, in einen Basar, ins Tatarische und Mongolische. Man tritt in eine Kirche, rastet jahrhunderteweit in Byzanz, aber hinauskommend und eintretend in das neue Telegraphengebäude, hat man einen Sprung nach Berlin gemacht. Die verschwenderischen Goldkuppeln einer Kathedrale reflektieren ihren Glanz in den zersplitterten Scheiben wackeliger Holzhäuser gegenüber, aus der Hintertür eines solchen schäbigen Wohnstalles mit schmutzigem Spülicht, gackernden Hühnern und dumpfen Latrinen tritt man in eine Straße, die von elektrischen Bahnen klirrt, und sieht vor sich ein Museum, wo alle Schätze des Abendlandes in verschwenderischer Fülle geordnet ruhen. Nichts paßt zusammen; sie dröhnt und berauscht, diese Stadt, wie eine ungeheure atonale Symphonie, in der sich die verwegensten Dissonanzen, die grellsten Rhythmen gewaltsam mischen. Man wagt nicht, zu behaupten, daß sie einem gefällt, diese sonderbare Stadt, aber sie ist mehr als schön: sie ist unvergeßlich.
Moskau: Der Rote Platz
So hat er immer geheißen, seit tausend Jahren, dieser rechteckige Platz, das Herz der Stadt Moskau, um der roten, kunstvoll geschatteten Kremlmauer willen, an deren Länge er sich lehnt. Zur Linken zackt sich die breite Fassade der Handelshäuser, das alte Emporium der Kaufmannschaft, empor; hier standen einst die zahllosen Buden der Kaufleute, die Moskaus Reichtum und Ruhm gemacht. Zur Rechten schützt ihn ein weites, wölbiges Tor, zur Linken, an seiner Schmalseite, steigt farbig, mit bunten Steinen und glitzernden Tulpendächern, die fünftürmige Wassilij-Blaschenni-Kathedrale auf, ein Wunderbau ohnegleichen, morgenländisch phantastisch, abendländisch architektural, die kühnste Vermählung byzantinischer, italienischer, urrussischer und manchmal auch buddhistisch-pagodischer Formen. Sie ist das kostbarste Kleinod der Stadt, und nichts rühmt sie mehr als die finstere Legende, daß Iwan der Schreckliche dem Baumeister zu Dank für seine Meisterschaft die Augen ausstechen ließ, damit er keine zweite ähnliche Kirche in der Welt bauen könnte. Dieser Platz war von jeher das Herz Rußlands. Hier querten die Handelsstraßen von Normannenland und Ingermanland nach Byzanz, hier brachten vom Osten die Händler Pelzwerk und Getier. Hier zäumten Hunnen und Tataren auf der Heerschau die Rosse, hier stiegen in feierlichem Aufzug die ersten Zaren zur Krönung in den Kreml empor. Noch sieht man den runden Steinring, wo die Häupter der aufständischen Strelitzen abgeschlagen wurden und die Leiche des falschen Demetrius blutig lag; und gerade hier, wo das Zarentum aus dem engen Ring einer Stadt, aus dem jämmerlichen Kreis einer Binnenherrschaft sich auswuchs und entfaltete zum weitesten Reich, das jemals die Welt gekannt, – hier veranstaltet in beabsichtigter und wissender Symbolik die Sowjetregierung ihre Paraden und Aufzüge. Hier stand die Tribüne, wo Trotzki klirrenden Worts die Bauern und Soldaten aufrief zum Verzweiflungskampfe, hier liegen die Führer und Vorkämpfer des Bolschewismus und die Arbeiter, die für ihn gefallen, in den »Brüdergräbern« längs des Kremls, und hier ruht in eigenem Gebäude, dem Herzpunkt dieses Platzes, das Herz der russischen Revolution, die Leiche Lenins.
Bei Tag brandet der Platz von Menschen und Wagen, man steht und kann sich nicht sattsehen an diesem glitzernden, mosaikhaften Bild der Kathedrale, der strengen Mauern des Kremls, sich nicht entziehen der erschütternd eindringlichen Gräberreihe, die hier mitten in der Stadt als Wahrzeichen des Dankes und des Sieges großartig hingestellt ist. Während man in Wien und Berlin zu den Gräbern der Märzgefallenen stundenweit hinauspilgern muß und in Paris vergebens die Grabplätze der Volksführer sucht, sind hier und ebenso in Leningrad statt irgendeines steinernen Baues oder pathetischer Denkmäler die Gräber selbst in die Stadt gestellt: der wuchtigste, großartigste Aufruf und Dank, den man sich erdenken kann. Wie vordem die Basilika und Kathedrale, bilden sie nun das eigentliche religiöse Zentrum der Stadt, aber frei aufgeschlagen unter dem Himmel, ohne jedes Pathos und jeden Prunk. Dieser geniale Sinn für Regie waltet überall in der neuen russischen Revolution. Zwanghaft muß man im Foyer eines Theaters, in jedem Bahnhofe, in jeder Wartehalle in Plastik oder Photographie das eiserne Antlitz Lenins in sich einfühlen; Lenin, wie er spricht, vorstoßend die Hand wie das Wort, zusammengeballte Energie, oder präsidierend in einer entscheidenden Sitzung, oder im schlichten Rock mit der Bauernkappe, heiter und lachend unter den Helfern. Überall, an jeder Stelle und jedem Ort, durch den roten Stab des Polizisten, durch die rote Mütze der Tramwaykondukteure, durch das überall eingemeißelte Zeichen der Sichel wird man erinnert an die neue Zeit, aber nirgends großartiger und überwältigender als an diesem Platze. Denn selbst wenn die Schatten alle Konturen verwischen, das Grab Lenins nur wie ein schwarzer Stein in dem ungeheuren leeren Dunkel einer Septembernacht steht, dann sieht man noch hoch oben auf der einstigen Residenz der Zaren hell und glühend die rote Fahne des Sowjet sich bauschen. Mit einem genialen Kunstgriff ist von unten her dieser purpurn wogende Stoff bestrahlt, so daß man inmitten des ungeheuren Nachtdunkels nur die rote Flamme sieht, diese rote Flamme, die leuchtet, hoch über dem leeren Platz, die Gräber, die Burgen und Handelshallen und weithin über Moskau und die ganze russische Welt, – ein Regieeinfall scheinbar nur, aber gleichzeitig mehr: ein Fanal in die neue Zeit, ein grandios ersonnenes Symbol.
Das alte und neue Heiligtum
Vierzig Schritte sind sie voneinander entfernt, das alte und das neue Heiligtum Moskaus, das Heiligenbild der iberischen Muttergottes und das Grabmal Lenins. Das alte, rauchgeschwärzte Heiligenbild steht unbekümmert wie seit unzähligen Jahren in einer kleinen Kapelle zwischen den beiden Durchgängen des Tores, das zum Roten Platz führt. Unnennbare Scharen pilgerten früher hierher, um einige Minuten andachtsvoll sich vor dem Bildnis hinzuwerfen, ein paar fromme Kerzen anzustecken, ein Gebet zur Wundertätigen zu sprechen. Nun steht nebenan die warnende Inschrift der neuen Regierung: »Religion ist Opium fürs Volk«. Aber doch ist das alte Volksheiligtum unverletzt geblieben, der Zugang jedermann gestattet, und tatsächlich sieht man auch immer einige alte Weiblein auf den Steinen knien oder im Gebet ausgestreckt, – die letzten, die noch alten Herzens und alter Gesinnung der Wundertätigen anhängen.
Einige, abe...
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