1 Zielsetzung und Vorgehensweise
Der Ausbau der Windenergie an Land schreitet voran. Die Entwicklung der Anlagentechnik geht weiter zu größeren Gesamthöhen (200 m und mehr), größeren Rotordurchmessern (140 m und mehr), deutlich höheren Leistungen und einer besseren Ausnutzung von Binnenlandstandorten mit schwächeren Windverhältnissen.
Die Entwicklung der Windenergie setzte in Deutschland mit der gezielten Förderung (Stromeinspeisegesetz 1991) durch eine garantierte Einspeisevergütung ein. Anpassungen der Förderung durch die Einführung des EEG und seiner Reformen wurden durch die Weiterentwicklung der Windenergietechnik aufgefangen oder auch veranlasst.
Der weitere Ausbau der Windenergie ist politisch gewollt und wird weiterhin gefördert. So hält beispielsweise das Land Niedersachsen in seinem Windenergieerlass für die Realisierung seiner energiepolitischen Ziele einen Flächenbedarf von 1,4 % der Landesfläche für die Nutzung der Windenergie (derzeit 1,1 %) für erforderlich. Insgesamt ist eine Leistung von 20 GW bis zum Jahr 2050 auf dieser Fläche geplant, wovon bis Ende 2016 erst ca. 10 GW installiert waren.1
In Deutschland sind bis Ende 2017 onshore bereits 28.675 Windenergieanlagen mit einer Nennleistung von über 50 GW errichtet worden.2 Betrachtet man insgesamt die Ausbauziele der Bundesländer, so ist bis 2030 eine weitere Vervielfachung der installierten Leistung zu erwarten, allerdings mit wesentlichen Unterschieden hinsichtlich der Relation des Geplanten zum bereits Erreichten (s. Abb. 1). Auch wenn das Repowering dabei eine wichtigere Rolle spielen wird, ist mit einer deutlichen Zunahme der Anlagenzahl und der damit verbundenen Flächeninanspruchnahme zu rechnen. Dementsprechend werden in der Summe auch bei der Flächenauswahl Auswirkungen auf Natur und Landschaft eine steigende Bedeutung erfahren.
Im Rahmen der planungs-, umwelt- und naturschutzrechtlichen Vorgaben, die bei der Planung von Windenergiestandorten zu berücksichtigen sind, spielt der mögliche Konflikt um Brut- und Gastvögel sowie Fledermäuse eine mitunter entscheidende Rolle für die Genehmigungsfähigkeit von Standorten bzw. deren Nutzbarkeit. Voraussetzung für die jeweilige Beurteilung dieses Konflikts und seine Bewältigung ist eine hinreichende Kenntnis über die zu erwartenden Beeinträchtigungen, die wiederum von der spezifischen Empfindlichkeit der betroffenen Arten abhängen (Reichenbach 1999, 2003).
Trotz der mittlerweile 25-jährigen Erfahrung mit den Folgen der Windenergienutzung für Vogel- und Fledermauslebensräume wird in den Genehmigungsverfahren noch häufig um die Prognose der Auswirkungen auf einzelne Arten gestritten. Dabei mag auch eine Rolle spielen, dass die naturschutzfachlich „unkomplizierten“ Standorte bereits weitgehend für die Windenergie genutzt werden und die weitere Erschließung von Flächen für diese Nutzung zunehmend Räume mit Beständen windkraftsensibler oder gefährdeter Arten berührt. Für diese liegen aber bisher wenige Erfahrungswerte vor. Dazu kommt, dass in vielen Bundesländern die Vorgaben hinsichtlich der erforderlichen Mindestabstände zu Siedlungen erhöht wurden, was eine entsprechende Verkleinerung der für die Windenergienutzung verfügbaren Fläche zur Folge hat. In der Folge erhöht sich der Druck, Standorte zu erschließen, die bislang aus Artenschutzgründen freigehalten wurden. Der behördliche wie auch der Verbandsnaturschutz sehen sich daher immer mehr in einer „Abwehrschlacht“, in der zunehmend auch private Bürgerinitiativen eine Rolle spielen.
Zu Beginn der Entwicklung lag der Fokus auf der Eingriffsregelung. In den 1990er Jahren wurde im Wesentlichen eine Beeinträchtigung von Vogel- und Fledermauslebensräumen durch eine Vergrämung von Arten aus dem Umfeld der Windenergieanlagen vermutet. Das Problem von Kollisionen der Tiere an den Anlagen galt in Deutschland lange als eine vernachlässigbare Größe. Dies hat sich seit der Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes (BNatSchG) 2007 grundlegend gewandelt.
So hat sich in den letzten zehn Jahren der Schwerpunkt der naturschutzfachlichen Fragestellungen weg von der Eingriffsregelung und hin zum Artenschutzrecht verlagert. Im Artenschutzrecht wiederum spielt das Tötungsverbot nach § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG eine entscheidende Rolle. Hierfür ist in den jeweiligen Genehmigungsverfahren die Frage zu klären, ob von dem geplanten Vorhaben kollisionsgefährdete Arten betroffen sind, und wenn ja, wie hoch das Tötungsrisiko für die entsprechenden Arten zu prognostizieren ist. Um diese Fragen wird z.T. eine heftige Kontroverse geführt, die in zunehmendem Maße von Gerichten überprüft wird. Dabei fällt u.a. auf, dass häufig nur die Frage nach der Zahl bekannter Kollisionsopfer gestellt wird, ohne diese z.B. in Relation zum Gesamtbestand zu bewerten oder die Fehlerhaftigkeit der entsprechenden Statistik zu berücksichtigen (siehe hierzu z.B. das Urteil des OVG Lüneburg vom 10.01.2017 – 4 LC 197/15 –, wonach die bisherige Fundstatistik eine signifikant erhöhte Tötungswahrscheinlichkeit für die Feldlerche nicht belegt). Hinzu kommt, dass die Beurteilung eines Tötungsrisikos, auf ein konkretes Vorhaben bezogen, häufig ohne eine fachgerechte Einbeziehung des natürlichen Tötungsrisikos einer Art erfolgt.
Die Bewältigung der artenschutzrechtlichen Anforderungen des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG (Tötungsverbot) ist nunmehr in vielen Genehmigungsverfahren die prominenteste Herausforderung. Die vorliegende Arbeit unternimmt daher den Versuch, eine Hilfestellung für den Umgang mit den skizzierten naturschutzfachlichen und insbesondere artenschutzrechtlichen Fragestellungen zu geben. Sie versteht sich als fachlicher Diskussionsbeitrag mit dem Ziel, konkrete Vorschläge zur Verbesserung und Vereinheitlichung der artenschutzrechtlichen Bewältigung des Tötungsverbotes bei der Genehmigung von Windenergieanlagen vorzulegen. Diese können beispielsweise – sofern sie einer kritischen Diskussion standhalten – im Zuge der künftigen Fortschreibung der entsprechenden Leitfäden in den Bundesländern genutzt werden.
Die Arbeit ist das Ergebnis eines mehrjährigen intensiven Diskussionsprozesses aus juristischer, umweltplanerischer und ökologischer Sicht. Die Zielsetzung lässt sich als der Versuch beschreiben, die Vorgaben der Rechtsprechung, insbesondere des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG), so „mit Leben zu füllen“, dass einschlägige unbestimmte Rechtsbegriffe wie signifikante Risikoerhöhung, Vorliegen besonderer Umstände oder spezifisches Grundrisiko mit möglichst konkreten Inhalten gefüllt und für die Genehmigungspraxis handhabbar gemacht werden.
Hierzu erfolgt in Kapitel 2 zunächst eine ausführliche Darstellung der artenschutzrechtlichen Grundlagen unter besonderer Berücksichtigung der jüngsten Rechtsprechung des BVerwG, wonach die geschützten Tierarten einem spezifischen Grundrisiko in einer durch den Menschen geprägten Landschaft unterliegen. Damit das Tötungsrisiko durch ein Vorhaben signifikant erhöht wird, müssen demgegenüber erst besondere Umstände vorliegen.
In Kapitel 3 erfolgt daraufhin zunächst eine artspezifische Differenzierung von Vogelarten hinsichtlich ihrer Betroffenheit durch Kollisionen an Windenergieanlagen mit dem Ergebnis einer Index-Bildung, die wiederum in den nachfolgenden Bewertungsschritt eingeht. Dieser verknüpft den entwickelten Relativen Kollisions-Index mit einem von Bernotat und Dierschke (2016) entwickelten Ansatz zur Bewertung der Bedeutung zusätzlicher anthropogener Mortalität. Hierdurch wird als Maßstab für die Ermittlung der vom BVerwG geforderten „besonderen Umstände“ das natürliche Lebensrisiko einbezogen.
Auf dieser Grundlage wird in Kapitel 4 ein Vorschlag für einen Bewertungsmaßstab zur Beurteilung des einzelfallbezogenen Kollisionsrisikos erarbeitet, der im Wesentlichen folgende Elemente einbezieht:
- Fachliche Konkretisierung des Signifikanzbegriffs
- Entwicklung quantitativer Beurteilungsmaßstäbe
- Einbeziehung qualitativer Maßstäbe wie Erhaltungszustand und Überlebensstrategie
- Differenzierung zwischen spezifischem Grundrisiko und „besonderen Umständen“
Im Einzelnen handelt es sich dabei um eine Kombination der einschlägigen Abstandsempfehlungen mit einer Bewertung von Flugaktivitätsdaten anhand eines Vergleichs mit Referenzwerten, die aus der geometrisch bedingten „Verdünnung“ der Flugaktivität mit zunehmender Entfernung zum Brutplatz abgeleitet werden.
Nach der Erläuterung dieses Bewertungsansatzes werden in Kapitel 5 für eine Reihe besonders relevanter Vogelarten spezifische Hinweise für den jeweiligen Umgang im Genehmigungsverfahren gegeben (u.a. Vorliegen besonderer Umstände, mögliche Vermeidungsmaßnahmen, Besonderheiten bei der Datenerhebung). Auf dieser Grundlage erfolgen in Kaptel 6 Ausführungen zu Methodik und Umfang der notwendigen Erfassungen, um die für dieses Bewertungsverfahren notwendigen Daten zu erheben.
Ziel dieser Arbeit ist es, einen Beitrag zur Fachdiskussion zu leisten, der versucht, die derzeit besonders relevanten artenschutzrechtlichen Fragestellungen zu adressieren und so vielleicht den Weg zu einer etablierten Fachkonvention anzustoßen, die für alle Beteiligten einen rechtlich belastbaren und fachlich adäquaten Umgang mit dem Kollisionsrisiko an Windenergieanlagen ermöglicht.
Abbildung 1: Ausbaustand, Zubau im Jahr 2016, genehmigte Windleistung mit geplanter Inbetriebnahme in 2017 oder 2018 sowie Ausbauszenario B und gemeldete Erwartungen zur Szenarienbildung im Netzentwicklungsplan 2030 in den einzelnen Bundesländern sowie für Nord- und Ostsee. Zusätzlich wird die mittlere Windgeschwindigkeit in Nabenhöhe und die mittlere Nabenhöhe für Projekte mit Angaben zur Windhöffigkeit im Anlagenregister dargestellt. Windgeschwindigkeiten werden ab 10 Datensätzen je Bundesland dargestellt (IWES 2017)
2 Artenschutzrechtliche Grundlagen
2.1 Einleitung
Das Pariser Klimaschutzabkommen vom 04.11.2016 stellt einen Wendepunkt für den internationalen Klimaschutz dar, indem völkerrechtlich verbindlich vereinbart wurde, die Erderwärmung auf unter 2 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter zu reduzieren und den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen. Das bedeutet, dass die Treibhausgase bis 2050 um 80 bis 95 % verringert werden sollen. Um dieses Ziel der „Dekarbonisierung“ der Weltwirtschaft zu erreichen, ist eine Umwandlung der Energiesysteme erforderlich.
Nach § 1 Abs. 2 des Gesetzes für den Ausbau erneuerbarer Energien (Erneuerbare-Energien-Gesetz, EEG 2017) ist es Ziel des Gesetzes, den Anteil des aus erneuerbaren Energien erzeugten Stroms am Bruttostromverbrauch auf 40 bis 45 % bis zum Jahr 2025, auf 55 bis 60 % bis zum Jahr 2035 und mindestens auf 80 % bis zum Jahr 2050 zu steigern. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 7. Februar 2018 verpflichten sich die Vertragsparteien, bis 2030 einen Anteil von etwa 65 % erneuerbarer Energien anzustreben und entsprechende Anpassungen vorzunehmen. Der Ausbau der erneuerbaren Energien müsse deutlich erhöht werden, auch um den zusätzlichen Strombedarf zur Erreichung der Klimaschutzziele im Verkehr, in Gebäuden und in der Industrie zu decken (S. 71ff.).
Der auf der Grundlage des Klimaschutzabkommens erarbeitete Klimaschutzplan 2050 der Bundesregierung (Stand: November 2016) sieht vor, dass in Zukunft erneuerbare Energien und Energieeffizienz den Standard für Investitionen bilden. Strom aus erneuerbaren Energien wird im zukünftigen Energiesystem der zentrale Energieträger sein. Dabei kommt der Windenergie eine entscheidende Rolle zu. Es wird großer Anstrengungen bedürfen, um das erforderliche Ausbauvolumen zu realisieren. So soll z.B. nach dem niedersächsischen Windenergieerlass vom 24.02.2016 der Ausbau der Windenergie an Land in Niedersachsen bis 2050 mindestens 20 GW Windkraftleistung erreichen (Nds. MBl. 2016, 190ff., 191). Das wird einen Flächenbedarf von voraussichtlich 1,4 % der Landesfläche erfordern. 98,6 % der Fläche würden also weiterhin frei von Windenergieanlagen bleiben. Derzeit sind rund 1,1 % der Landesfläche durch Windenergienutzung belegt (Energiebericht 2017 des Nds. Ministeriums für Umwelt, Energie und Klimaschutz, S. →). Es wird davon ausgegangen, dass angesichts der fortschreitenden Technik das Landesziel von 20 GW mit weniger, dafür aber moderneren und leistungsstärkeren Windenergieanlagen als zurzeit zu erreichen ist, so dass die Schlagopferzahlen aus der Vergangenheit nicht einfach proportional zum Ausbau der Windenergie fortgeschrieben werden können (Nds. Ministerium für Umwelt, Energie und Klimaschutz, Antwort vom 10.03.2016 auf die mündliche Anfrage: Wie viele Tiere werden in Zukunft durch Windräder getötet?). Insgesamt sind in der Bundesrepublik Deutschland bis Ende 2017 onshore und offshore 29.844 Windenergieanlagen mit einer Gesamtleistung von 55.164,33 MW errichtet worden, davon 6.197 Anlagen in Niedersachsen (Deutsche WindGuard 2017).
Windenergieanlagen sind nach § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB im Außenbereich privilegiert. d.h., der Gesetzgeber selbst hat eine planerische Entscheidung zugunsten der Windenergieanlagen getroffen und ihnen damit ein grundsätzlich stärkeres Durchsetzungsvermögen gegenüber den dadurch betroffenen öffentlichen Belangen eingeräumt. Sie sind zuzulassen, wenn öffentliche Belange „nicht entgegenstehen“, während sonstige Vorhaben nur zugelassen werden können, wenn öffentliche Belange „nicht beeinträchtigt“ werden (§ 35 BauGB). Bei einer Beeinträchtigung öffentlicher Belange besteht daher bei Windenergieanlagen keine Unzulässigkeit per se. Vielmehr muss eine Abwägung zwischen den jeweils berührten öffentlichen Belangen und dem Vorhaben erfolgen, wobei zugunsten des Vorhabens die Privilegierung der Windenergie ins Gewicht fällt (Mitschang/Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, § 35 Rn. 68ff.).
Die Belange des Klimaschutzes und der regenerativen Energieerzeugung finden auch in den naturschutzrechtlichen Vorschriften ihren Niederschlag. § 1 Abs. 3 Nr. 4 BNatSchG misst dem Ausbau der erneuerbaren Energien eine besondere Bedeutung für die Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts bei. Der Ersatz fossiler Brennstoffe durch erneuerbare Energien geschieht zwar vorrangig aus Gründen des Klimaschutzes, trägt aber in Anbetracht der Auswirkungen des Klimawandels auf den Naturhaushalt auch zum Schutz der Natur bei. Andererseits kann die Produktion erneuerbarer Energien konträr zu anderen Naturschutzbelangen wie insbesondere dem Vogelschutz oder dem Schutz des Landschaftsbildes sein. Insofern wird hier ein letztlich durch Abwägung aufzulösender Zielkonflikt „mittels eines gesetzestechnischen Kunstgriffs in den Katalog der Naturschutzziele internalisiert“ (Mengel, in: Frenz/Müggenborg, BNatSchG § 1 Rn. 75; siehe im Einzelnen Attendorn, NuR 2013,153ff., Kerkmann, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 1 Rn. 22; Schumacher/Schumacher, in: Schumacher/Fischer-Hüftle, BNatSchG, § 1 Rn. 125ff.). Soweit in der Verwendung des Wortes „Kunstgriff“ e...