KUNSTGRIFFE DER NICHT-ENTSCHULDIGUNG
Mein Therapeut sagte mir: „Schreiben Sie Briefe an die Leute, die Sie hassen, und verbrennen Sie sie dann.“
Das habe ich getan, aber jetzt weiß ich nicht, was ich mit den Briefen machen soll.
So wenig man eine Pandemie vorhersehen kann oder eine Wirtschaftskrise oder einen Wintereinbruch im Dezember, genauso unvorhersehbar ist die Aufregung um die eigene Person. Was weiß die Öffentlichkeit schon um die Bürde und die Pflichten einer Position wie der meinigen? Forderungen nach Entschuldigungen für vermeintliche Fehltritte wirken insofern grotesk. Doch wie man einem grausamen Gott gelegentlich eine Ziege oder den Erstgeborenen opfern muss, muss man hin und wieder eine Entschuldigung als Opfer an den Empörungsgott der öffentlichen Meinung leisten.
Der Könner weiß, dass eine geschickte Formulierung die Wogen glätten und die Empörung umlenken kann, ohne dass persönliche oder gar materielle Opfer nötig werden. Man wählt Worte, die alles richtig klingen lassen, aber doch nie das Wesentliche sagen. Und die Konsequenzen halten sich in Grenzen. Berliner wissen das:
Ein Berliner läuft als Tourist durch Wien. Er fragt einen Einheimischen nach dem Weg: „He, Sie, Männeken, könn’Se ma sagen, wo et hier direktemang zum Stephansdom jeht?“
Der Wiener: „Aber mein liaber Freind, kennan S’ des net a bisserl freindlicher sog’n?“
Der Berliner schaut ihn erstaunt an und sagt dann: „Nee, da valoof ick mia liba!“
Weil der Teufel nicht schläft, muss im selben Jahr der Wiener nach Berlin. Und weil er sich dort nicht auskennt, muss er nach dem Weg zum Postamt fragen. Also spricht er einen Berliner an:
„Tschuidigen’S, gnä‘ Herr, können Sie mir sagen, wie ich zum Postamt komme?“
Maschinengewehrartig antwortet der Berliner: „Zwei Straßen geradeaus, scharf nach rechts, eine Straße geradeaus, Straße überqueren, halbrechts unter dem Bogen durch, scharf links über die Schienen, am Zeitungsstand vorbei und direkt in die Eingangshalle der Post rein.“
Der Wiener, nun mehr befremdet als aufgeklärt, murmelt trotzdem: „Tausend Dank, gnä’ Herr –“, worauf der Berliner den Wiener unterbricht, am Kragen packt und ihn anbellt: „Vergessen Sie den Dank! Wiederholen Sie die Anweisung!“
Die Kunstgriffe, die ich hier vorstelle, sind der moderne Canossagang. Keine Asche auf dem Haupt, um den Papst zu besänftigen und die eigene Macht zu behalten, sondern Worte, die nach Entschuldigung klingen, ohne jedoch wirklich den Anschein eines Eingeständnisses von Schuld oder gar des Ziehens von Konsequenzen zu vermitteln. Wie denn auch, wenn wir uns nichts vorzuwerfen haben? Doch manchmal bettelt die Meute nach irgendetwas, das sie besänftigt oder ablenkt, und sei es ein noch so kleines Zugeständnis.
Die Kunstgriffe lassen sich in vier Kategorien einteilen: Die erste ignoriert solche Vorwürfe. Es gibt Wichtigeres zu tun, als sich mit Lappalien zu beschäftigen. Und beschäftigt ist unsereiner. Wo gehämmert wird, werden Finger getroffen. Und sich jetzt wegen jedes blauen Fingernagels zu entschuldigen? Lächerlich!
In der zweiten Kategorie füttern wir die Meute. Generös lassen wir uns dazu herab, dass etwas geschehen ist oder sein könnte, aber wir wollen uns nicht allzu viel mit den Hintergründen des Geschehens auseinandersetzen. Hier sind ein paar Krumen und dann lasst uns in die Zukunft blicken und die Vergangenheit ruhen lassen.
In der dritten Kategorie müssen wir nicht einmal heucheln. Wenn nichts geschehen ist, was bitte soll die Aufregung? Und damit kann und muss auch nichts getan werden, warum auch? Außerdem sind wir viel zu cool dafür.
Die vierte und letzte Kategorie ist sozusagen die Versicherungspolice unter den Entschuldigungen. Wer unter uns weiß schon im Vorhinein, wo man uns etwas anhängen will? So wie man anderen etwas Gutes tut und diese danach in unserer Schuld stehen, können präventiv Freischeine für Vergehen gezogen werden, um sie im geeigneten Moment abzurufen. Nach dem Motto: „Was regst du dich auf? Ich habe mich doch schon vor Wochen entschuldigt, als noch nichts passiert ist.“
Warum aber sollen immer nur wir die Blöden sein? Drehen wir doch den Spieß einmal um. Im Bonuskapitel stellen wir den anderen Fallen, damit sie von einer Entschuldigung in die andere stolpern und potenzielle Vergehen unsererseits als Lappalien erscheinen lassen.
Bevor wir loslegen, beginnen wir mit einer komödiantischen Collage von Reaktionen auf ein Vergehen. Die amerikanische Kabarettistin Amber Ruffin war zu Gast in der „Late Night Show“ mit Seth Meyers.19 Anstelle des üblichen Talkshow-Geplänkels schlug sie ihm mit der Faust ins Gesicht. Der darauffolgende Dialog ist ein Meisterstück der Nicht-Entschuldigung:
Seth Meyers: „Du hast mir gerade ins Gesicht geschlagen!“ Amber Ruffin: „Ich weise diese Anschuldigungen kategorisch zurück.“
SM: „Du hast mir gerade eben ins Gesicht geschlagen!“
AR: „Wirklich? Das klingt nicht nach mir. Jeder, der mich kennt, würde sagen, dass das nicht meinem Charakter entspricht.“
SM: „Amber, du kamst her, setztest dich hin und dann schlugst du mir ins Gesicht.“
AR: „Ich habe den Vorfall anders in Erinnerung. Es tut mir leid, dass sich dein Gesicht geschlagen anfühlt.“
SM: „Das klingt nicht nach einer Entschuldigung.“
AR: „Seth, das waren damals andere Zeiten.“
SM: „Das war vor 30 Sekunden! Und du hast mir ins Gesicht geschlagen.“
AR: „Ich? Jemanden ins Gesicht schlagen? Schau, ich war immer ein Unterstützer von Gesichtern. Einige meiner besten Freunde haben Gesichter.“
Mit diesem Vorgeschmack auf die Ohrfeige im Gesicht tauchen wir nun in die Welt der Kunstgriffe und deren praktischer Anwendung ein.
Kategorie I – Nichts ist passiert
Eine Entschuldigung ist schlimmer als eine Lüge, denn eine Entschuldigung ist eine versteckte Lüge.
Alexander Pope
Wer bremst, verliert. Wer sich entschuldigt, gesteht ein, schuldig zu sein. So einfach ist die Welt. Statt sich zu ent-schulden lädt man mit einer Entschuldigung erst recht das Zugeständnis einer Schuld auf sich. Für Manager, Politiker oder sonstige hohe Tiere zieht das eine Reihe von Unannehmlichkeiten nach sich.
Angela Merkel kann ein Lied davon singen. Als sie im Frühjahr 2021 ihre Landsleute um Verzeihung für den verpatzten Plan einer „Osterruhe“, also einen pandemiebedingten Lockdown während der Osterfeiertage, bat, waren kaum ihre Worte verhallt, als schon die Rufe nach ihrem Rücktritt laut wurden.20 Da half das ganze Wohlwollen einiger Kolumnisten nichts, die Merkel Ehrlichkeit zugestanden hatten. Ehrlichkeit wird bestraft und die Lehre daraus ist, dass man leugnet, was nur geht.
Mit anderen Worten: Es ist nichts passiert und das kann man auf vielfältige Weise ausdrücken.
1. Kunstgriff
Bloß nicht entschuldigen und beinhart aussitzen
In neun von zehn Fällen erfährt man von den Unzulänglichkeiten anderer erstmals aus ihren Entschuldigungen.
Oliver Wendell Holmes Sr.
Erinnern wir uns noch an die berühmte Geschichte des Opfers für einen grausamen Gott? Im Alten Testament befiehlt Gott von Abraham als Beweis seiner Gottestreue, dass er ihm seinen erstgeborenen Sohn Isaak opfern soll. Abraham hat seinen Sohn bereits an der Opferstätte festgebunden und das Messer gewetzt, als ein Engel Abraham im letzten Moment davon abhält und Gott sein getreues Schäfchen für seine Gottesfurcht belohnt. Es lässt sich so viel zu dieser Geschichte sagen, nämlich wie ein alter Vater aufgrund irgendwelcher Stimmen, die er vernommen hat und einem Gott zuschreibt, seinen immerhin schon 37 Jahre alten Sohn überwältigt und flugs abmurksen will. Weist der Name Isaak, der im Hebräischen „lächerlich“ und „unglaublich“ bedeutet, auf eine Geisteskrankheit oder Geringschätzung der göttlichen Forderung nach Ernsthaftigkeit hin und dient das als Grund für seinen Vater, diese Bürde loszuwerden und seine vermeintliche Schuld bei Gott zu tilgen?
Was auch der Grund und die Deutung dieser merkwürdigen Geschichte ist, nicht immer muss man tatsächlich ein Opfer bringen, um sich von Schuld zu befreien. In den meisten Fällen genügt ein ressourcenschonendes Aussitzen des Sturms. Eine Dürre kann nicht ewig dauern, das Kriegsglück sich auch einmal wenden. Und genauso ist es mit der öffentlichen Aufmerksamkeit. Der nächste Tritt ins Fettnäpfchen eines politischen Rivalen oder einer Berühmtheit kommt so sicher wie der Furz nach dem Bohnenessen oder die Genickwatsche bei Bud Spencer. Was sind schon ein paar Tage einer rasselnden Meute vor den eigenen Toren, wenn man sich nichts vorzuwerfen hat?
Sich nicht zu entschuldigen und den Sturm der Empörung beinhart auszusitzen ist nicht für jede und jeden etwas. Es erfordert eine dicke Haut und Beharrungsvermögen. Das ist nicht immer einfach. Leute können ziemlich gemein werden, wenn sie keine Entschuldigung erhalten. Doch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit ist nicht von Dauer. Meistens reicht weniger als eine Woche, bis der nächste Skandal oder die nächste Krise den Medientross weiterziehen lässt. Jede Krise, die man so aussitzen kann, stählt und verleiht einem eine Teflonschicht. Die nächsten Vorwürfe und Anschuldigungen prallen von einem dann einfach ab.
Am Beginn der Coronakrise 2020 führten recht großzügig ausgelegte Vorschriften im Umgang mit Pandemien zur Verbreitung des Virus in ganz Europa. Der Ausgangspunkt war eine Bar im Tiroler Skiort Ischgl gewesen, in der ein mit dem Virus infizierter Kellner arbeitete. Die Skisaison war in vollem Gange. Das profitable Winterbusiness der Hotels und Seilbahnen bei dieser perfekten Schneelage und diesem großartigen Wetter wegen eines kleinen Virus vorzeitig zu beenden kam daher klarerweise nicht infrage. Anfänglich zumindest. Als die Situation dann unkontrollierbar wurde, wiesen die Behörden die Urlauber an, sich „gefälligst zu schleichen“ – pardon, die geordnete Heimreise anzutreten. Ohne dass man aus Tiroler Sicht auch nur die Notwendigkeit sah, Heimreisemöglichkeiten zu organisieren oder die Urlauber auf Infektionen zu testen.21 Das Resultat: Von Ischgl aus verbreitete sich das Virus in Dutzende Länder. Die Seilbahnen waren offen geblieben, aber Europa sperrte zu.
Der Sturm der Empörung, der sich über Tirol ergoss, kam für die Tiroler selbst ziemlich überraschend. Was genau bitte hatte man sich zuschulden kommen lassen? Das sah auch der Tiroler Landesrat für Gesundheit, Bernhard Tilg von der ÖVP, so, als er ins Nachrichtenstudio eingeladen wurde, um seine Meinung dazu zu äußern und die Maßnahmen, oder korrekter, die Gründe für die fehlenden Maßnahmen zu erörtern. Was sollte da groß besprochen werden, wenn nichts falsch gemacht worden war? In der Nachrichtensendung „ZIB 2“ wiederholte Tilg gezählte elfmal denselben Satz: „Wir [das Land Tirol] haben alles richtig gemacht!“ Trotz des nachfolgenden Shitstorms saßen ein Jahr später Tilg und die Tiroler Regierung nach wie vor fest im Sattel, bevor Tilg dann doch seinen Skihelm nahm und sich verabschiedete. Man wird belohnt, wenn man sich nicht entschuldigt, darauf pocht, keinen Fehler gemacht zu haben, und über Sitzvermögen verfügt. Wieso aber war Tilg so selbstsicher und vermied es vor dem Moderator, den Fehler zuzugeben und sich zu entschuldigen? Der Grund ist ein ganz einfacher: Wenn man (vage formulierte) Gesetze und ...