Nevermore
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Nevermore

Roman

  1. 229 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Über dieses Buch

Über das Vergehen der Zeit, über Verschwinden und Wiederkehr, Vergänglichkeit und Ewigkeit - Cécile Wajsbrots neuer Roman, kongenial übersetzt von Anne Weber.Nach dem Tod einer befreundeten Schriftstellerin zieht sich eine Übersetzerin nach Dresden zurück, um dort an der Übertragung von Virginia Woolfs Roman "To the lighthouse" zu arbeiten. Aus ihren tastenden Versuchen, sich der fremden Sprache und Zeit anzunähern, und den Überlegungen, die sie dabei anstellt, entsteht eine betörende Musik. Bei ihren nächtlichen Spaziergängen glaubt sie der toten Freundin zu begegnen und noch einmal mit ihr reden zu können. Ihre Einsamkeit weitet sich zu einem gewaltigen Echoraum, der von dem verfallenen Haus in Virginia Woolfs Roman über das einstmals zerstörte Dresden bis zur High Line, einer ehemaligen New Yorker Industrieruine, und zur Verbotenen Zone um Tschernobyl reicht.Orte, die dem Verfall, der Zerstörung anheimgegeben sind und doch wieder aufleben, abgebrochene Welten, in denen noch Kraft schlummert für einen Neuanfang. Übersetzen als Über-Setzen zu anderen Ufern, zu den Verschwundenen; in eine andere Zeitlichkeit.

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Information

III

Etwas wie eine Präsenz, eine Seele regte sich um mich her, eine leichte Brise, ein leichter Wellengang schwellte die Elbe, jemand kam mich besuchen, wollte sich an mich richten, eine Stimme, eine Form – entstanden aus den toten Gestirnen, den verschwundenen Sternen? Ich sah das Denkmal wieder vor mir, der schwarze Obelisk schwamm auf dem Wasser, trieb ab, trieb in Richtung Quelle flussaufwärts, während am Himmel die Wolken jedes Lesen in den Sternen verhinderten. Nur eine Mondsichel tauchte für einen kurzen Augenblick auf, um dann sogleich wieder in der Wolkenmasse zu verschwinden. Gone over. Die Worte aus dem Film von Michael Powell fielen mir ein, der schlichte Stein am Rand der Klippe und der eingravierte Name, Peter Manson, gone over. Im Meer stirbt man nicht, man ist verschwunden. Doch Peter Manson war nicht im Meer gestorben, er hatte versucht, die Klippe mithilfe eines Stricks hochzuklettern, von dem er wusste, dass er genau an dem Ort reißen würde, an der sein Sohn gewetteifert hatte mit einem Mann, Andrew, der auf einem Segelboot nach Foula, d. h. Hirta, zurückkam. Ich hatte die dramatischen Bilder des Sturzes im Kopf, ich sah ihn fast vor mir in die doch so ruhige Elbe stürzen, der Ozean, der die Insel säumte, war nicht sehr bewegt an jenem Tag, aber der Sturz war tödlich. Der Stein, den Andrew zehn Jahre später entdeckte ... Ein Name – diese in Stein, ins Gedächtnis, ins Herz gravierten Namen ... manchmal war das alles, was von jemandem übrigblieb, und wie viel Mühen brauchte es oft, um anonyme Leichen zu identifizieren und ihnen den Namen zu geben, den der von ihnen erlittene Tod ihnen versagt hatte, einen Namen anstelle eines Grabmals, einen Namen, der ihnen als Grabmal dienen sollte ... Gone over. Weg. Verschwunden. Über Bord. Von einem Ufer zum anderen. Vom Ufer der Lebenden zum Ufer der Toten. Das Flusswasser verwischte die Züge, wer konnte wissen, was in einem anderen vorging, sei es ansatzweise – mein ganzes Leben lang war ich mit dieser Sehnsucht, dieser Unmöglichkeit konfrontiert gewesen, mit dem anderen zu verschmelzen ... Wie gut ich in dieser Nacht durchschaute, welche Illusion ein Leben darstellte, das unter dem Vorwand, den Anderen verstehen zu wollen, der Flucht vor sich selbst gewidmet wäre. Der Andere – was für ein seltsames Wort. Ohne dass ich die Glocken des Requiems gehört oder einen Namen gesehen hätte, schlief ich schlecht in jener Nacht. Denn da ich glaubte, müde zu sein, hatte ich mich, zurück in meinem Zimmer, hingelegt, bei offenem Fenster, trotz der Kühle, um das Rumoren der Stadt zu hören und weniger die Einsamkeit zu spüren, die plötzlich auf mich herabgesunken war und mich hatte umkehren, den schweren Schlüssel in meiner Tasche – eine Art Schlüssel, von der man sich nicht vorstellen konnte, dass es sie noch gab – und im Dunkeln das Schlüsselloch finden lassen, um ihn hineinzustecken, bis in den zweiten Stock hochzusteigen, lauter mechanische Bewegungen, die jedoch in der Nacht einen Sinn oder vielmehr ein Ziel zu haben schienen. War meine Absicht gewesen, den Namen zu vergessen, der mich auf dem Rückweg verfolgt hatte und vom Flussufer vertrieben hatte, weil seine Buchstaben so viel Schmerz bargen? Indem ich die Geräusche aus der Stadt bis zu mir dringen ließ, als ich die Augen schloss, hoffte ich, das Risiko zu träumen – davon zu träumen – gering zu halten.
The spring without a leaf to toss, bare and bright like a virgin fierce in her chastity, scornful in her purity, was laid out on fields wide-eyed and watchful and entirely careless of what was done or thought by the beholders.
Was für ein eigenartiges Bild, der Frühling als ungezähmte Jungfrau.
Der Frühling lag ohne ein abzuwerfendes Blatt nackt und hell wie eine in ihrer Keuschheit ungezähmte, in ihrer Reinheit verachtungsvolle Jungfrau mit weit aufgerissenen Augen über die Felder ausgestreckt, wachsam und gänzlich unbekümmert darum, was die Betrachter tun oder denken mochten. Wieder ein Fehlschlag. Wieder ein Satz, der sich sträubt. Dieses Passiv, das die Menschen ausschließt, vielmehr, ihnen eine Nebenrolle zuweist. Es ist der Frühling, der handelt, er ist es, der zählt. Noch einmal von vorne, ganz von vorne. Aber wie? Wie können diese beholders eingeführt werden, ohne dass es schwerfällig wird? Der Frühling lag ohne abzureißende Blätter, leuchtend und nackt wie eine ob ihrer Keuschheit wilde, ob ihrer Reinheit höhnische Jungfrau blauäugig über die Felder ausgestreckt (wenn wir annehmen, wide-eyed sei hier im übertragenen Sinne gemeint und nicht im eigentlichen, mit weit aufgerissenen Augen), blauäugig über die Felder ausgestreckt, wachsam und ohne sich einen Deut darum zu scheren, was die Betrachter taten oder dachten. Das ist besser, aber noch nicht gut. Without a leaf to toss. Es gibt noch keine Blätter. Es ist der Übergang zwischen Winter und Frühling, die Bäume sind nackt, Woolf will nicht sagen, dass die Blätter noch nicht wachsen, sondern, dass es keine abzureißenden Blätter mehr gibt. Der Frühling lag, bar aller abwerfbaren Blätter, nackt und hell wie eine in ihrer Keuschheit ungezähmte, in ihrer Reinheit verachtungsvolle Jungfrau blauäugig über die Felder ausgestreckt, wachsam und ohne sich im Geringsten darum zu scheren, was diejenigen taten oder dachten, die ihm zusahen. Denn das Hereinplatzen von Betrachtern wäre seltsam. Und doch muss der Satz mit ihnen enden, denn im darauffolgenden taucht jemand auf – in eckigen Klammern.
Meine Tage verliefen folgendermaßen. Morgens ging ich außerhalb frühstücken – die Pension, in der ich wohnte, bot keines an. Ich ging durch die noch leeren Straßen, wich einer Baustelle aus, gelangte an einen Platz, an dem sich ein wenig später Gruppen von Touristen sammeln würden, um einem Reiseführer zu lauschen, der ihnen die Geschichte dieser zum Symbol der Versöhnung gewordenen Kirche erzählen würde, der Frauenkirche, wiederaufgebaut mit Spenden unter anderem aus Großbritannien, die Coventry oder vielmehr das Rachedenken auslöschen sollten. Die schwarzen Steine des Gebäudes waren die ursprünglichen, die in der DDR-Zeit als Ruinenhaufen-Gedenkstätte liegengelassen worden waren und die manche gerne weiter so bewahrt hätten, statt eine neue Kirche aufzubauen. Die weißen Steine waren aus heutiger Zeit. Die zusammengebrochene Fassade und der Steinhaufen, der wie ein erstarrter Wasserfall davor lag, waren in der Tat ein beeindruckendes und konkretes Bild der Kriegszerstörungen gewesen. Aber die Ruinen zu erhalten, war paradoxerweise so teuer, dass man sich für den Wiederaufbau entschied. Ich ging weiter bis zu einem größeren, von neueren Gebäuden gesäumten Platz, der sich an Wintertagen zum Weihnachtsmarkt hin öffnete, und erreichte den Kulturpalast, einen prachtvollen, auf Pfeilern stehenden Quader aus Glas, zugleich solide und zerbrechlich, ganz Transparenz und Licht, der eine Bibliothek beherbergte und einen Konzertsaal, und im Erdgeschoss gab es ein gänzlich verglastes, mit dem Foyer verbundenes Café, in dem sich Verwaltungsangestellte, Musiker, Bibliothekare trafen, oder Passanten, die dort je nach Uhrzeit berufliche oder private Verabredungen hatten. Ich nahm ein warmes Getränk und ein Brötchen oder Müsli zu mir, vor allem aber Schätze an Leben und Licht, die mir halfen, den Tag anzugehen, und mir Lust zu arbeiten machten. Ich nahm meinen Laptop mit und maß den Rhythmus der Woolf’schen Sätze an der Bewegung der Stadt.
[Prue Ramsay, leaning on her father’s arm, was given in marriage that May. What, people said, could have been more fitting. And, they added, how beautiful she looked!]
[Prue Ramsay, auf den Arm ihres Vaters gestützt, wurde in diesem Mai verheiratet. Und, fügten sie hinzu, wie schön sie aussah!]
Wie viele Möglichkeiten, sogar für einen so einfachen Satz. Zum Beispiel: Prue Ramsay, am Arm ihres Vaters, aber dann geht leaning verloren, gestützt, untergehakt, Prue Ramsay wurde verheiratet, immer dieses gewissermaßen aktive Passiv, wenn es sich um menschliche Figuren handelt, in diesem Monat Mai, im Mai. Und, fügte man hinzu – zu wem sprechen sie, ist es Mrs. McNab, der die Neuigkeit mitgeteilt wird, oder sind es die Kommentare, die am Tag der Hochzeit fallen? – wie schön sie war! Look, man betrachtet sie, eine rein äußerliche Szene, in der es keinerlei Gewissheit gibt, bloß Echos und Eindrücke – es ist nicht so, dass sie schön ist, aber man sieht sie und findet sie schön. Also könnte es heißen: Prue Ramsay, von ihrem Vater geführt (um den Rhythmus zu wahren und das Bild, auch wenn es nicht ganz dem Sinn entspricht), wurde im Mai verheiratet, wurde in diesem Mai verheiratet. Was, sagten die Leute, hätte man sich Besseres erträumen können! Und, fügte man hinzu, wie schön sie aussah! Prue Ramsay, am Arm ihres Vaters, wurde im Mai verheiratet. Was, hieß es, könnte man sich Besseres vorstellen? Und wie schön sie war!, fügten sie hinzu.
Tod, Krankheit, Hochzeit, Kinder, alles geschieht in Klammern. Tun wir nicht so, als wäre es so, indem wir die schwierigsten Ereignisse an die Ränder unseres Bewusstseins drängen? Und mechanisch, gewohnheitsmäßig, weiter unseren Tätigkeiten nachgehen. Diese Übersetzung, dachte ich, während ich durch die Glasscheibe des Cafés die Straßenbahnen betrachtete, die anhielten, ihre Fracht an Passagieren abluden, sich kreuzten und weiterfuhren, still in Richtung Elbe oder Bahnhof glitten, die Stadt so geheimnisvoll durchquerten wie das vom Meer her nahende Segelschiff, das in Michael Powells Film durch das Felsengewölbe an der Inselküste gesehen wird. Diese Übersetzung ließ mich – für Augenblicke – den Verlust vergessen, den ich durch die Entfernung und die Arbeit hätte verdrängen wollen. Auch wenn die Arbeit – da Lighthouse vom Leben, von seinen verschiedenen Phasen, auch von Trauer durchzogen wird, von Geburten, Begegnungen, der Schwierigkeit zu leben ... und auch von Orten, von Licht und Meer – auch wenn die Arbeit ins Herz dieses Verlusts zurückführte, und oft in einem Moment, in dem ich am wenigsten darauf gefasst war, über ein einziges Wort, ein Bild.
Nach dem Frühstück öffnete ich das Buch und meinen Computer und richtete mich am Meeresufer ein, nahe der Glasscheibe, am Ufer der Stadt, zwischen Bildschirm und Seite wechselnd und von der Seite zum Bildschirm, von einer Zeit in die andere, einer Sprache in die andere. Oder ich ging durch dieselben, nun bevölkerteren Straßen auf mein Zimmer und in dessen Stille zurück, aber das kam immer seltener vor. Je länger mein Aufenthalt andauerte, umso häufiger verbrachte ich die Vormittage im Café, unterbrach dann den Arbeitstag durch einen Spaziergang am Fluss entlang, um dann am Nachmittag die Übersetzung in der – manchmal auf mir lastenden – Einsamkeit meines Zimmer wieder aufzunehmen; abends ging ich noch einmal raus, überquerte manchmal eine der breiten Brücken, um mich auf dem anderen Ufer in den Lärm der Cafés und angesagten Lokale zu mischen, die eine andere Seite der Stadt zeigten.
– In Píšt’, einer kleinen Stadt der Tschechischen Republik nah der polnischen Grenze, einer Gegend, die früher zu Oberschlesien und also zu Deutschland gehörte, macht sich ein Mann auf die Suche nach der historischen, aus dem Jahr 1743 stammenden Glocke der Sankt-Lorenz-Kirche, dessen Spur er in einem Dorf im Schwarzwald am Neckar wiederfindet – dem Fluss, den Hölderlin von seinem Turm aus dahinfließen sah.
– Die oberschlesische Kirche ist katholisch, die am Neckar evangelisch.
– In Sulz – so heißt das deutsche Städtchen – hatte man die Kirche nach dem Krieg wieder aufgebaut, da der ursprüngliche Kirchturm abgebrannt war, und die Exilglocke war sehr willkommen gewesen.
– Der Pfarrer bekommt einen ersten Brief mit der Frage, ob die Glocke seiner Kirche, wie es die Archive des Nürnberger Museums bezeugen, das sich mit der Geschichte und der Auflistung der Glocken beschäftigt, tatsächlich aus Píšt’ stammt. Der Pfarrer ist nicht gerade erfreut. Um die Glocke zurückzugeben, also erst einmal herauszuholen, würde man den Kirchturm zerstören und ihn dann mit einer anderen Glocke wieder aufbauen müssen.
– Der Kirchenbezirk befürwortet jedoch die Rückgabe. 100 000 Euro Kosten werden veranschlagt, der Vertrag zwischen den beiden Gemeinden wird vorbereitet.
– Die Gegend von Píšt’ hat eine komplizierte Geschichte, die Grenze zu Polen hat sich verschoben im Laufe der Zeit, sie hat sogar zeitweise Städte durchquert und deren Einwohner voneinander getrennt.
– Die Kirche Sankt-Lorenz ist der Pilgerschaft und der Wiederversöhnung, der Völkerverständigung gewidmet. Píšt’ hat gute Gründe, um deren Bedeutung zu wissen. Und so beschließt man am Ende, dass die Glocken dort bleiben sollen, wo sie sich befinden, und dass ihr Klang, jenseits von Fragen der Herkunft und der Grenzen, ein Symbol für Einheit ist – wenn die Glocke aus Píšt’ in Sulz läutet, hört man in gewisser Weise ihr Echo in Píšt’.
– Und nun trifft also in Sulz ein zweiter Brief ein, der sagt, wir verzichten auf die Wiedergabe. Die Sulzer nehmen das zur Kenntnis, mit Staunen vielleicht, aber sonst passiert nichts.
– In Pišt aber lässt man eine Tafel herstellen, auf der in tschechischer und in deutscher Sprache die Geschichte der Glocke erzählt wird. Dann schickt man ein Video nach Sulz, das die volle Kirche am Tag der Enthüllung der Tafel zeigt.
– Diesmal ist die Sulzer Gemeinde ergriffen von so viel Engagement, von den vielen Menschen, die einverstanden waren, dass sie die Glocke behalten können. Es ist sogar die Rede davon, dass einige Sulzer Gemeindemitglieder nach Píšt’ fahren, um die dortige Gemeinde zu besuchen.
Was ist privat, persönlich an dem Verlust eines Menschen, was ist kollektiv? Was kann man teilen? Soll man die Erinnerungen im Stillen bewahren oder müssen sie, können sie erzählt werden? Werden die Worte eines jeden jeweils andere Wege nehmen und ein Stück weiter wieder zusammenfinden, oder werden diese Schleichwege für immer parallel verlaufen? Ich behielt Gespräche im Kopf, Momente, ein Lächeln, Gesichtsausdrücke, einen Tonfall, doch all das ergab keine Person, höchstens eine Erinnerung, und fortan würde ich mit diesen Splittern leben und versuchen müssen, daraus ein Bild zusammenzusetzen. Vorher war mir nicht bewusst, wie viel Vertrauen es braucht, um zum Beispiel ein Buch zu kaufen, es in seinen Bücherschrank zu stellen und sich zu sagen, ich behalte es für später, oder mit dem Lesen anzufangen und das Buch wieder hinzulegen, weil man spürt, dass der rechte Moment dafür noch nicht gekommen ist. Das Vertrauen, dass es braucht, um sich zu sagen: später. Um zu denken, dass man es tun kann. Dass es nicht zu spät sein wird. Und also nicht jedes Mal, wenn man jemanden hin und wieder sieht, zu denken, ob es noch ein nächstes Mal geben wird, sondern an die Kontinuität der Dinge zu glauben. Verabredungen drei Wochen vorher zu treffen, eine Reise zu planen, alles, was man tut, ohne darüber nachzudenken. Und eines Tages stirbt jemand, und man bereut. Wenn man sich häufiger gesehen hätte, wenn man gewusst hätte, wenn dieser oder jener Satz, statt beschwiegen oder übergangen zu werden, einem aufgefallen, kommentiert, gebührend beachtet worden wäre, wenn diese oder jene Antwort anders geklungen hätte? Was man behält, was man vergisst, was da ist, ohne dass man es weiß, und eines Tages wieder hochkommt – was endgültig verloren ist. Wird er, wird sie gewusst haben, was er für einen bedeutete, wie wichtig sie war? Und dieser Platz, der fortan leer ist, was tun damit?
As the summer neared, as the evenings lengthened, there came to the wakeful, the hopeful, walking the beach, stirring the pool, imaginations of the strangest kind – of flesh turned to atoms which drove before the wind, of stars flashing in their hearts, of cliff, sea, cloud, and sky brought purposely together to assemble outwardly the scattered parts of the vision within.
Während der Sommer nahte und die Abende länger wurden, kamen den Wachenden, den am Strand entlang Laufenden, den Hoffnungsfrohen, die den Priel aufrührten, die seltsamsten Visionen – Fleisch, das, in Atome zerfallen, vom Wind davongetragen wird, Sterne, die in ihrem Herzen explodieren, Klippe, Meer, Wolke und Himmel, die eigens angehäuft wurden, um die verstreuten Teile der inneren Vision im Außen zusammenzufügen. Um die verstreuten Fragmente der inneren Vision außen zusammenzutragen. Während der Sommer nahte, die Abende länger wurden, kamen den Wachgebliebenen, den Hoffnungsfrohen, die am Strand entlang liefen oder den Priel aufrührten, die eigenartigsten Visionen – in Atome verwandeltes Fleisch, das vom Wind verstreut wurde, Sterne, die in ihren Herzen aufleuchteten, Klippen, Meer, Wolke und Himmel, die mit Absicht zusammengebracht worden waren, um die verstreuten Splitter einer inneren Vision außen zu vereinen. Aber Vision...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Vorspiel
  5. Zwischenspiel
  6. I
  7. Zwischenspiel
  8. II
  9. Zwischenspiel
  10. III
  11. Zwischenspiel
  12. IV
  13. Zwischenspiel
  14. V
  15. Zwischenspiel
  16. VI
  17. Zwischenspiel
  18. VII
  19. Coda
  20. Quellen
  21. Impressum