Nahtoderlebnisse
Nichts verändert die Sicht auf den Sinn des Lebens bedeutender als die Ausgangslage, dass es für uns noch mehr gibt als unser kurzes Leben. Alle Religionen prophezeien etwas Wichtigeres oder Höheres, dass uns noch verborgen ist. Nahtoderlebnisse sind Erlebnisse, die manche Menschen nach dem eigenen Tod und einer geglückten Reanimation berichten. Sie sind individuell verschieden, aber manche Teile von Erlebnissen häufen sich. Diese werden wir untersuchen:
- Tunnel mit Licht am Ausgang;
- sehr starke Gefühle wie Liebe, geliebt werden, Entspanntheit, Sorglosigkeit, innere Ruhe, Unbeschwertheit und andere;
- den Körper verlassen;
- das eigene Leben betrachten;
- Begegnung mit Verstorbenen;
- Zeitlosigkeit;
- Bewusstwerden des eigenen Todes;
- eine Lichtgestalt;
- Bewertung des eigenen Lebens und
- Rückführung ins Leben.
Wir leben in einem neuen Zeitalter, wenn es um Nahtoderlebnisse geht. Durch die heutigen Möglichkeiten von Reanimation in der modernen Medizin häufen sich Berichte solcher Phänomene in einer Weise, die Forschungsstudien ermöglicht. Krönung dieser Forschung wäre der Beweis einer ausserkörperlichen Erfahrung. Da liegt die Reibestelle zwischen Befürwortern und Skeptikern. Dieser Beweis würde eine Pforte öffnen, wäre eine wissenschaftliche Sensation und würde manche Denkweise verändern. Eine ausserkörperliche Erfahrung würde beweisen, dass nicht alles aus dem sterbenden Gehirn entspringt.
Gehen wir einmal davon aus, dass es ein Jenseits und einen Gott gibt mit all seiner Macht und seinen Möglichkeiten. Weshalb hat Gott uns nicht längst einen Beweis gegönnt? Wäre es nicht einfacher, ohne Zweifel von ihm Kenntnis zu haben? Diese Frage ist wichtig, weil die Antwort etwas über den Sinn aussagen könnte. Möglicherweise würden wir unser Leben mit der absoluten Gewissheit über Gott etwas anders gestalten. Wäre das aber vielleicht ein Konflikt im Sinn des Lebens? Würden wir heute mit Gottes Segen unseren Beweis bekommen, müssten wir uns auch fragen, weshalb jetzt? Weshalb erst nach ein paar Tausend Jahren oft erschreckender Menschheitsgeschichte? Haben wir eine derart falsche Vorstellung vom Jenseits und von Gott?
In unserer Vorstellung über Gott müssten wir zur Schlussfolgerung kommen, dass entweder Gott selbst uns keinen Beweis zeigen kann oder er es nicht möchte. Er könnte ja selbst an gewisse Einschränkungen gebunden und gar nicht so allmächtig sein oder aber Gott vermeidet es aus einem anderen Grund, den Beweis zu geben. Dann werden wir wohl auch in Zukunft keinen Beweis finden. Eine bewiesene ausserkörperliche Erfahrung würde übrigens nicht die Existenz Gottes beweisen, sondern nur, dass es nach dem Tod noch etwas geben muss.
Gestehen wir uns erst einmal zu, dass unser beschränktes Wissen über das Jenseits und Gott uns zu den übernommenen Sichtweisen und Annahmen verleitet. Wir orientieren uns normalerweise für Erklärungsversuche an religiösen Vorstellungen. Aber allein die Tatsache, dass viele verschiedene Religionen unterschiedliche Vorstellungen haben, zeigt die Aussichtslosigkeit dieser Wahrheitsfindung. Gehen wir aber davon aus, nichts über Gott und das Jenseits zu wissen, eröffnen sich vielleicht neue Möglichkeiten. Beachten wir zusammen einmal völlig unvoreingenommen vorliegende Indizien, um uns neuen Ideen zu öffnen.
Die Grenze zwischen unserem Diesseits und einem möglichen Jenseits kann nicht überschritten werden. Mit einer Ausnahme. Nahtoderlebnisse könnten eine kurze Grenzüberschreitung darstellen. Untersuchungen und Bücher über Nahtoderlebnisse gibt es bereits manche. Sie sind leider oft polarisiert geschrieben, um die eigenen Vorstellungen zu bestätigen. Wir werden einen neuen Ansatz versuchen. Obwohl wir leider «noch» nicht auf wissenschaftlichen Beweisen aufbauen können, gibt es noch eine weitere Vorgehensweise. Die Nahtoderlebnisse wurden bisher noch nicht nach rein mathematischer Wahrscheinlichkeit untersucht. Beispielsweise besagt das zehntausendfache Würfeln, dass die Treffer-Abweichungen der sechs Zahlen gering sein müssen. Die Häufigkeit des Würfelns minimiert diese Abweichung. Dies stimmt so, wenn man weitere Einflussfaktoren ausschliessen kann. Würde eine Zahl auffallend häufiger gewürfelt werden, wäre das ein Indiz dafür, dass die Gewichtsverteilung des Würfels nicht einheitlich ist oder die Proportionen nicht stimmen. Es würde sogar auf diesem Weg beweisen und nicht nur ein Indiz sein, dass mit dem Würfel etwas nicht stimmt. Nach dieser Vorgehensweise werden wir häufig auftretende Phänomene bei Nahtoderlebnissen untersuchen. Ergebnisse werten wir nur, wenn andere Erklärungen auszuschliessen sind. Schaffen wir das nicht, ist das Phänomen nicht aussagekräftig und kann nicht beachtet werden. So wie zum Beispiel das Phänomen des Tunnels mit hellem Licht. Ein zu ähnliches Erlebnis erhält man durch Sauerstoffmangel im Gehirn mit dem eigenen Begriff «Tunnelblick». Alternative Erklärungsversuche gibt es bereits viele von Kritikern und Zweiflern. Diese werden wir ernst nehmen und gesondert betrachten.
In einer breit angelegten Forschungsstudie namens AWARE wurden über vier Jahre bis 2014 an 2060 Personen Phänomene bei reanimierten Patienten untersucht und gruppiert. Ein interessantes Teilgebiet war das Verstecken von Bildern in Operationsräumen, die der Sterbende zuvor nicht sehen konnte. Damit verfolgte man das Ziel zu untersuchen, ob das Phänomen oder eben nur der Eindruck davon, aus dem Körper zu treten und im Raum an der Decke zu schweben, sich beweisen liesse. Und zwar dadurch, ob die Wiederbelebten das Bild danach beschreiben konnten oder nicht. Durch die zu seltenen Fälle, die in diesen wenigen Räumen und der untersuchten Zeit Nahtoderfahrungen hatten, sind die Beweise bis heute leider ausgeblieben. Dies ist weder in der einen noch in der anderen Weise aussagekräftig.
Analysieren wir nun häufige Phänomene, angefangen mit denjenigen, die man kritisch betrachten sollte:
• Tunnel mit Licht am anderen Ende ...
Wie bereits erwähnt, ist dies eine häufige Beschreibung. Manche Betroffene verbanden die Erfahrung damit, aus dem Körper herauszutreten. Viele verbanden das Licht mit starken, positiven Gefühlen oder sahen darin sogar Gott selbst. Durch Blutmangel im Gehirn kann aber ein zu ähnlicher Effekt auftreten, der Tunnelblick. Da bei Herzstillstand auch Blutmangel im Gehirn entsteht, könnte das Erlebte durch dieses natürliche Symptom zumindest verzerrt werden, weshalb wir das nicht weiter untersuchen sollten.
• Sehr starke Gefühle wie Liebe, geliebt werden, Entspanntheit, Sorglosigkeit, innere Ruhe, Unbeschwertheit usw.
Entgegen der eigentlichen Vermutung und des Schreckens des Todes beschreiben fast alle solche positiven Gefühle bei den gesamten Erlebnissen. Die Gegenargumente gegen eine spirituelle Bedeutung lauten, dass das sterbende Gehirn selbst einen Trommelwirbel aus Gefühlen auslöst beim Sterben, die entweder als natürliche, schreckmildernde Funktion vom Gehirn gesteuert oder aber auch als Folge oder Reaktion des sterbenden Gehirns zu verstehen ist. Dies ist eine Begründung, die wir nicht ausschliessen können, aber später kommen wir noch einmal darauf zurück.
• Den Körper verlassen haben ...
Untersuchungen der eigenen Körperwahrnehmung konnten zeigen, dass vergleichbare Sinnestäuschungen hervorgerufen werden können. Durch Drogen oder elektrische Stimulation bestimmter Hirnregionen kann die eigene Sinneswahrnehmung für unser Körper/Raum-Gefühl beeinflusst werden. Dies führt zu einem Empfinden von Leichtigkeit, des Schwebens und davon, nicht mehr im Körper zu sein. Da solche Erlebnisse durch normale Prozesse des Sterbens, insbesondere durch das Ausschütten körpereigener Opiate verzerrt werden könnten, verliert dieser Teil der Nahtoderlebnisse leider seine Aussagekraft.
• Das eigene Leben betrachten ...
In einem kurz scheinenden Moment sieht man die wichtigen Punkte des eigenen Lebens wie in einem Film ablaufen. So erstaunlich dieses Phänomen ist, zumindest ein ähnliches Erlebnis kann auch durch Drogen, Hirnstimulation oder bei unmittelbarer Todessituation ausgelöst werden. Dieses Erlebnis tritt allerdings meist einzeln auf, ohne weitere Teile von Nahtoderlebnissen und falls doch, dann nur kombiniert mit dem Gefühl der Körperlosigkeit, die selbst auch stimuliert oder mit Drogen herbeigeführt werden kann.
Es gibt viele Berichte von tragischen Situationen, bei denen vom Betroffenen instinktiv vermutet wurde, die Situation nicht zu überleben. In solchen Momenten kann man die Rückschau erleben, selbst wenn keine reale Todesgefahr vorhanden war.
Es ist erstaunlich und interessant, dass die eigene Einschätzung, die Situation nicht überleben zu können, denselben Teil von Nahtoderlebnissen auslösen kann wie bei einem «echt» Sterbenden. Genauso kann man diese Erlebnisse haben, obwohl das Bewusstsein durch natürliche oder künstliche Ohnmacht ausgeblendet ist, aber ein Herzstillstand erfolgt, also den eigentlichen Moment seines Sterbens und die Reanimation nicht bewusst wahrnehmen konnte. Von daher müsste man vermuten, dass dieses Phänomen keinem übernatürlichen Ursprung zuzuschreiben ist, denn weshalb sollte aus einer spirituellen Ordnung heraus ein Prozess eingeleitet werden, wenn der Tod sogar nur fälschlicherweise angenommen wird. Ein Erklärungsversuch ist auch, dass man sich nur mit dem eigenen Leben befasst, weil man davon ausgeht, gleich zu sterben, weswegen eine derartige Lebensrückschau vom Unbewussten hervorgebracht wird. Bei einem Unfall könnte das ja stimmen, jedoch bei Drogen oder Elektrostimuli nicht.
Auch die Detailliertheit und Realitätsbezogenheit der Erinnerungen sind erstaunlich. Es gibt keine vergleichbaren Erinnerungserlebnisse. Im Wachzustand verblassen Erinnerungen mit der Zeit. Wir vergessen vieles, was weit zurückliegt, das kennen wir alle. Träume können erstaunlich kreativ sein und Erinnerungen in Träume einbinden, aber sie zeigen nie eine wahrheitsgetreue und detaillierte Wiederholung eines realen Erlebnisses. Im Sterbemoment können wir trotz aller ablenkenden Ereignisse einen tiefen Zugang zu unseren Erinnerungen erhalten, den man sonst nur aus der Hypnose kennt. Ob diese Erinnerungen unverfälscht die früheren Ereignisse widerspiegeln oder wie sonst üblich mit der Zeit eine eigene, leicht verfälschte Dynamik besitzen, wäre eine eigene Untersuchung wert. Leider müssen wir diese Frage offen und das ganze Phänomen als aussagelos stehen lassen.
• Begegnung mit Verstorbenen ...
Ein häufiger Teil bei Nahtoderlebnissen ist, verstorbene Freunde und Verwandte zu treffen. Wie beim Betrachten des eigenen Lebens kann auch dieser Teil eine Folge mit natürlichem Ursprung sein. Unser Unbewusstes könnte die Verbindung zwischen der Realität des eigenen Sterbens mit den verstorbenen nahen Personen wie eine gedankliche Brücke herstellen und die Fantasie den Rest übernehmen. Manch einer wird das nun für weit hergeholt halten, von einem sterbenden, sauerstoffarmen Gehirn solche Funktionen zu erwarten. Dies könnte aber möglich sein. Bei Untersuchungen der Universität Michigan an sterbenden Ratten konnte nachgewiesen werden, dass nach dem Herzstillstand eine kurze Phase sehr aktiver Hirntätigkeiten beginnt. In dieser Zeit könnten gewisse Nahtoderlebnisse vom Gehirn gesteuert werden. Wissenschaftler versuchen Erklärungsversuche bei bekannten Vorgängen zu finden. Nicht bei unbewiesenen, unstofflichen Philosophien. Es gibt aber auch Berichte, dass man alte Freunde getroffen hätte, von denen man vorher nicht einmal gewusst habe, dass sie inzwischen verstorben sind. Leider kann ein solcher Fall wissenschaftlich nur schwer bewiesen werden. Interessant ist hier die Wahrscheinlichkeit, denn normalerweise sind fantasievolle Produkte unseres Unbewussten nicht sehr realitätsbezogen. Es müsste viele Fälle von Begegnungen mit nahestehenden Personen geben, die noch gar nicht verstorben sind, was nicht der Fall ist. Deutungen hin oder her, wir können in diesem Teil der Phänomene keine wertvolle, richtungsweisende Bedeutung erkennen.
• Zeitlosigkeit: in kurzer Zeit viel erleben, das normalerweise viel mehr Zeit beansprucht hätte
Eine verschrobene Wahrnehmung des Zeitempfindens kann auch durch Drogen hervorgerufen werden. Dieses Phänomen messen zu können wäre sehr hilfreich, allerdings kann ein blosser Eindruck nicht untersucht werden. Man müsste der Empfindung des Erzählers vertrauen. Dass körpereigene Hormone und Drogen, die während des Sterbens ausgeschüttet werden, das Empfinden stören könnten, ist naheliegend. Ein spiritueller Hinweis auf ein Leben nach dem Tod ist es jedenfalls nicht ohne Beweise. Bei einem untersuchten Fall berichtet die AWARE-Studie von einem Patienten, der beschrieb, wie er seine Wiederbelebung aus einer Ecke des Raums beobachtete. Seine Angaben waren erstaunlich genau. Er beschrieb auch zweimal den Ton eines bestimmten Gerätes gehört zu haben. Nach seiner Beschreibung konnte es nur ein Gerät sein, das im Drei-Minuten-Intervall den beschriebenen Pfeifton erzeugte. Dadurch konnte sein Erlebnis zeitlich eingeordnet werden. Als die Maschine diese Töne erzeugte, hatte der Patient keine messbare Hirntätigkeit. Das könnte man nun als Zeichen verstehen, dass die Abläufe doch nicht vom Gehirn gesteuert sind, aber naheliegender ist, dass die EEG-Messverfahren zu oberflächlich und ungenau messen, um tiefere Hirnregionen zu erfassen. Jedenfalls konnte man durch diesen Bericht erkennen, dass die Erlebnisse nicht vor oder nach dem Herz...