PRAXIS
Authentizität muss man gut inszenieren. Das YouTube-Casting 1‘ 31“
Ihre Videos werden monatlich im zweistelligen Millionenbereich abgespielt, sie besitzen eine absolute Monopolstellung in der Produktion jugendkultureller Ästhetik und Ausdrucksformen, dennoch sind die Ü25-Jährigen quasi vollkommen unbekannt. Die Rede ist von Dagmar Ochmanczyk oder Erik Range, online – und überhaupt – besser geläufig als DagiBee und Gronkh. Jan Kuhn
ENTSCHULDIGUNG, SIE HABEN DA ETWAS VERLOREN…
Sie gehören zu den Superstars einer ganzen Generation, mit ihrer augenscheinlichen „Authentizität“ beherrschen sie die mobilen Bildschirme wie niemand sonst (tagesaktuelle Zahlen zu You-Tube, Twitch und Instagram werden von der Internetplattform Social Blade zusammengetragen und aufbereitet. Für die Top 100 der You-Tuber in Deutschland siehe http://socialblade.com/youtube/top/country/de/mostsubscribed).
Wie kann es sein, dass sich innerhalb von wenigen Jahren – vollkommen unbemerkt – neue Orte der Kreation kultureller Ausdrucksformen und Sprachen entwickelt haben? Was sind die Charakteristika und Logiken dieser neuen Lebensräume? Und: Was bedeutet dies für bestehende kirchliche Kommunikationsstrukturen?
IDENTITÄTSKONSTRUKTIONEN IN EINER „ENTGRENZTEN“ WELT
„Wer bin ich?“, also die Frage nach der eigenen Identität ist zutiefst persönlich wie privat. Sie ist in einer Gesellschaft, die vor allem die öffentliche Produktion und Vermarktung des digitalen Ichs bis in die Perfektion gesteigert hat, ebenso obsolet wie gleichermaßen allgegenwärtig. Dies zeigt auch die starke Rezeption in sämtlichen Kulturfeldern wie bspw. in Literatur, Musik und Film wie auch in der Verwendung als offizielles YouTube Motto – „Broadcast Yourself“. Worin liegt aber dieser starke Wunsch nach einer derart expressiven Darstellung der eigenen Identität begründet, wie es vor allem in den Social Communities (Snapchat, Instagram & YouTube) praktiziert wird?
In einer Gesellschaft, die einem von Geburt an Beliebigkeit in allen Bereichen des Lebens suggeriert, liegt die Herausforderung von Identitätskonstruktion in dem einfachen Zugang zu einer Vielzahl von potenziell adaptierbaren Schnittmustern. Hinzu kommt eine einhergehende – nicht aber deckungsgleiche – Dekonstruktion von gesellschaftlich starken Leitbildern wie Geschlechterrollen oder allgemein anerkannten gesellschaftlich konstituierten Werten. Dabei ergibt sich Identität im Wesentlichen aus der Auseinandersetzung von Gesellschaft und Individuum. Die Produktion von Alleinstellungsmerkmalen nach außen dient auch einer Selbstvergewisserung nach innen. Dieser Vorgang ist, aufgrund der fluiden und erodierenden fixen Wertesysteme der umgebenden Gesellschaft, nicht nur äußerst komplex, sondern auch zu einem „unabschließbaren Projekt“ (Keupp, 100) geworden. Gerade für Jugendliche bedeutet dies die Aneignung vollkommen neuer „Lesekompetenzen“ und Fähigkeiten der Selbstorganisation.
geb. 1987; Wiss. Mitarbeiter und Doktorand am Zentrum für angewandte Pastoralforschung (Bochum); Projektleiter Web-Video-Wettbewerb 1’31”; Arbeitsfelder: Bewegtbild-Kommunikation, Jugendkultur & Mediennutzung.
Man könnte die Herausforderungen aktueller „Millennials“ (nach 2000 Geborene) insofern zusammenfassen, dass aus den ehemaligen Sinn- und Identitätssuchern des 20. Jh. hoch funktionale Identitätsmanager des 21. Jh. geworden sind. Inwiefern die dargestellte und kommunizierte Identität in sozialen Interaktionen erfolgreich – also passgenau – ist, wird dabei extern evaluiert. Die gelungene Darstellung des eigenen Selbst ist die „derzeit global gängige ‚Leit-Währung‘ für soziales Prestige“ (Niemand, 213). Sie ist normativ positiv aufgeladen, lässt sich quantitativ graduieren und versteckt sich hinter dem Modewort „Authentizität“.
WER IN SEINER KOMMUNIKATION NICHT ALS AUTHENTISCH WAHRGENOMMEN WIRD, IST SOZIAL TOT
Jugendliche Zuschauer sind besonders trainiert darauf, in Sekundenschnelle den Content mitsamt seiner ästhetischen Formatierung (Kleidung/Set) und dem gewählten Format als authentisch kredibel zu bewerten und diesen schnellstmöglich auf seine Adaptierbarkeit hin zu scannen (Lesekompetenz). Wer diesen „Lackmustest“ der persönlichen Kommunikation nicht besteht, wird aussortiert, in Zukunft weniger bis gar nicht rezipiert, kommt damit in der Realität der Jugendlichen nicht mehr vor – ist sozial tot.
Es gibt also ein hohes Eigeninteresse, in der eigenen Kommunikation als authentisch wahrgenommen zu werden und die Umstände zu produzieren/inszenieren, damit dies überhaupt gelingen kann. Aber ist Authentizität und Inszenierung nicht ein Widerspruch in sich? Da jede Professionalisierung der Branche eine strategische – also geplante – Inszenierung mit sich bringt, sind besonders die Formate auf YouTube erfolgreich, die eine Offenlegung der Produktionsumstände gewährleisten. Dies kann entweder durch szenespezifische Codierungen wie Aufnahmen mit wackeligen Handkameras oder auch durch eigene Formate (bspw. ‚Roomtour’/ ‚Follow Me Around’) geschehen. Hierbei filmt der Produzent sein Produktionsset und, da es sich in der Regel um eine Privatwohnung handelt, alle relevanten und nicht relevanten Faktoren im Bereich der Produktion. Sie rücken die Produktion des inszenierten Bewegtbildes aus dem Arkanen in die Öffentlichkeit, welches von den Zuschauern kommentiert und diskutiert wird.
WIR SIND WIE ALIENS IM NEUEN (DIGITALEN) LEBENSRAUM – NUR OHNE FANCY RAUMSCHIFF
Die Frage nach Glaubensvermittlung in sozialen Netzwerken ist ein in der Breite unbearbeitetes Feld, welches in seiner Beschaffenheit neue Möglichkeiten bietet und in seiner Relevanz absolute Notwendigkeiten aufzeigt. Die Präsenz von Kirche in digitalen sozialen Netzen ist allerdings, was die Formate angeht, erschreckend eindimensional und in der Quantität völlig unzureichend. Die Abwesenheit auf Plattformen wie YouTube ist nicht nur aufgrund der gigantischen Nutzungszahlen (>1Mrd. Nutzer/Tag) eine vergebene Chance – vielmehr ist sie gefährlich, da die kulturellen Ausdrucksformen und Sprachen kontinuierlich fremder werden. Man ist immer häufiger auf externe Übersetzer angewiesen.
Genau an dieses Problem dockt der – als einmaliges Projekt gestartete – YouTuber Wettbewerb 1’31” an, welcher sich aufgrund des Erfolges inzwischen im dritten Durchlauf befindet. Neben der Entdeckung und Förderung von jungen Videotalenten geht es gleichermaßen darum, neue Ausdrucksformen zu identifizieren, zu verstehen. Hier zeigt sich wiederum der kommunikative Charakter des Projektes: Es geht eben nicht darum, eine verpackte digitale Variante der Katechese zu betreiben, sondern in einen dialogischen Prozess mit jungen Kreativen zu treten. Hierbei wurden analoge wie digitale Räume in Form von mehrwöchigen Workshops geschaffen, in denen man auch über Glaubens- und Wertethemen reden kann.
Die ersten beiden Durchgänge des Wettbewerbs zeigen: Es wurde nicht nur eine signifikante Gruppe von Talenten für Themen mit religiösem Bezug aktiviert, sondern durch die engagierte Begleitung in den Workshops hat sich eine äußerst ambitionierte Community von Nachwuchsfilmemachern und YouTubern gegründet, die mit Unterstützung des ZAPs weiter zusammen an Projekten arbeitet. Wir haben gelernt, dass es nicht das eine Geheimrezept für erfolgreiche digitale (Glaubens-)Kommunikation in Social Communities, speziell auf YouTube, gibt. Sehr wohl lassen sich aber gewisse Spielregeln identifizieren, die nachfolgend in fünf Doppelpaarungen zusammengefasst werden sollen:
AUTHENTISCH & PERSÖNLICH
Der Erfolg des Formates misst sich nicht in erster Linie an der (technischen) Qualität des Contents, sondern vielmehr an der Vielfalt, der Schnelligkeit, aber vor allem an der Persönlichkeit des Senders einer Information. Es kommunizieren Individuen, nicht Institutionen. Die Authentizität des Senders ist die Schlüsselkomponente schlechthin. Sie bestimmt, ob eine Information angenommen wird oder nicht. Ebenso ist es nicht möglich, diese zu produzieren, denn es handelt sich immer um eine externe Zuschreibung.
Die Abwesenheit auf Plattformen ist nicht nur eine vergebene Chance – sie ist gefährlich
DIALOGISCH & MULTIPLIZIERT
Ein Spezifikum von Sozialen Netzen ist die hohe Interaktivität. So fordern YouTuber ihre Zuschauer zu einem Dialog in den Kommentaren auf und beziehen diese wiederum in die Produktion neuer Formate ein. Obwohl es sich hierbei um eine klassische One-to-Many-Kommunikation mit stark gruppenkonstituierenden Mechanismen handelt, ist die Ansprache stets an einzelne Individuen gerichtet. Sie ist damit multipliziert und persönlich zugleich.
DIVERSIFIZIERT & NAH
Um in Social Communities erfolgreich zu kommunizieren, ist es wichtig, zielgruppenrelevante Fragen zu beantworten. Hierbei ist es besonders entscheidend, dass dem Sender die Lösungskompetenz für das jeweilige Problem zugeschrieben wird. So sind die erfolgreichen Vloger meist nur wenige Jahre älter als ihre Zuschauer. Sie sind praktisch ältere digitale Geschwister, die zur Problemlösung hinzugezogen werden.
ENTLOKALISIERT & ZEITVERSETZT
Digitale Kommunikation findet in der Mehrheit der Fälle auf mobilen Endgeräten statt. Dies bedeutet, dass man den Zuschauer viel häufiger „unterwegs“ antrifft. Damit sind die potenziellen Zeitfenster des Kontaktes kürzer und in der Regel zeitversetzt. Die typische Länge eines VLOGS beträgt zwischen 8-15 Minuten.
SEQUENTIELL ADAPTIERBAR & AKTUELL
Inhalte in den Lebenswelten von Jugendlichen werden selbständig rezipiert und adaptiert. Sie beschränken sich dabei weder auf sinnstiftende Komplettangebote noch auf spezifische Kanäle. So ist für viele Jugendliche Facebook ab dem Moment „uncool“ geworden, an dem sich „Papa auch einen Account gemacht hat“. Orte, Logiken und Ausdrucksformen wechseln dem Zeitalter gemäß rasant. ■
LITERATUR
Niemand, Christoph, Was an der Bibel authentisch sein kann. Texte, Interpretationen, Menschen, in: Kreutzer, Ansgar / Niemand, Christoph (Hg.), Authentizität – Modewort, Leitbild, Konzept. Theologische und humanwissenschaftliche Erkundungen zu einer schillernden Kategorie (Schriften der Katholischen Privat-Universität Linz, Bd. 1), Regensburg 2016, 201-229.
Keupp, Heiner, Das spätmoderne Subjekt – von der Suche nach dem authentischen Glück erschöpft?, in: Kreutzer, Ansgar / Niemand, Christoph (Hg.), Authentizität – Modewort, Leitbild, Konzept. Theologische und humanwissenschaftliche Erkundungen zu einer schillernden Kategorie (Schriften der Katholischen Privat-Universität Linz, Bd. 1), Regensburg 2016, 89-116.
We lost the story
Oder: Wie die Kirche wieder lernt, gute Geschichten zu erzählen
Es war keine gewöhnliche Nacht, damals während meines Freisemesters in Dublin. Anstatt in einem Pub verbrachte ich die Nacht in der Kirche, die – auch anders als üblich – aus allen Nähten platzte: Osternacht. Von allen Osterpredigten, die ich bislang gehört habe, ist mir nur diese immer noch im Gedächtnis. Christian Schröder
Fr. Robert atmete hörbar durch nach den vielen Lesungen aus dem Alten Testament. „People somehow lost the story“, war sein erster Satz. Und er meinte damit, dass viele Menschen emotional sehr empfänglich für die Botschaft der Auferstehung seien. Nur: Sie haben die entsprechende Geschichte dazu verloren, die ihnen zeigt, was das eigentlich für ihr Leben bedeuten könnte. Dafür machte Fr. Robert nicht die Leute selbst verantwortlich. Sondern sich und alle, die als Christinnen und Christen glauben, dass das Evangelium die „greatest story ever told“ ist.
WE LOST THE STORY
Es gab diese Zeit, als die Kirche ziemlich viel Energie ins Erzählen von Geschichten investiert hat. Eigentlich war es sogar eine ziemlich lange Epoche. Immer wieder dachten sich Christinnen und Christen originelle Formate aus, mit denen sie ihren Zeitgenossen von ihrem Glauben erzählen konnten. Zum Beispiel durch die Architektur berühmter Kirchengebäude. Oder durch die bunten Kirchenfenster, die das Drama der Bibel- und Heiligengeschichten darstellten. Oder das religiöse Theater der Jesuiten. Oder die Verbindung der Epiphaniegeschichte mit dem Eine-Welt-Gedanken in der modernen Sternsingeraktion.
Das Erzählen von dem, was Christinnen und Christen glauben, scheint mir derzeit kein Aushängeschild der christlichen Kirchen zu sein. Viele Gemeinden haben zwar ein starkes liturgisches oder diakonisches Profil. Aber welche Pfarrei legt etwa ganz bewusst den Schwerpunkt auf Verkündigung, auf die Artikulation von Glaubenserfahrungen in der Sprache von heute? Wo werden überhaupt von Christinnen und Christen spannende religiöse Geschichten erzählt, die weder ästhetisch noch dramaturgisch abfallen gegenüber dem, was wir sonst gewohnt sind von Netflix, youtube, Videospielen oder populärer Musik?
Es gibt tatsächlich solche Orte. Und viele davon liegen in den USA. Wo Gemeinden, anstatt den dritten Aushilfsorganisten anzustellen, einen Rock- oder Popmusiker als „artist in residence“ mit einem monatlichen Sockelbetrag unterstützen, damit er dabei hilft, auch moderne Gottesdienste ansprechend zu gestalten. Oder ein Team von Videofreaks aufbauen, die das Leben der Gemeinde inklusive Glaubenszeugnissen vom Firmling bis zum Seniorenkaffee ins Internet übertragen, damit man endlich mal eine Antwort auf die Frage bekommt: Warum gibt es euch als Kirche eigentlich? Was ist eure Message? Mit Unterstützung des Projekts Crossing Over hatte ich die Chance, einige solcher Orte zu besuchen. In vier kurzen Schlaglichtern, die jeweils eine zentrale These aus den Lernerfahrungen der Reise illustrieren, möchte ich von den aus meiner Sicht wichtigsten Erkenntnissen für die pastorale Situation in Deutschland erzählen. Eine ausführlichere Dokumentation der Reise findet sich auf www.storychurch.de.
Dr. theol., Pastoralassistent in der Pfarre Franziska von Aachen. Schwerpunkte: Jugendpastoral (u.a. Jugendkirche kafa...