IM SOMMERLICHEN WÜRZBURG
Hinter Xaver Marschmann schloss sich langsam die automatische Eingangstür zum Bau D8 der Universitätsklinik Würzburg, in dem die Hautklinik untergebracht war. Marschmann atmete befreit die frühsommerliche Brise ein. Seit er hier vor vier Jahren an einem bösartigen Hauttumor operiert worden war, unterzog er sich vierteljährlich einer Nachsorgeuntersuchung. Jedes Mal folgte ein befreites Aufatmen, wenn die Diagnose für ihn, so wie heute wieder, positiv ausgefallen war. Der pensionierte Kriminalbeamte setzte seine Sonnenbrille auf und schlenderte über das Klinikgelände in Richtung seines Autos, das er ein ganzes Stück entfernt geparkt hatte. Marschmann musste insgeheim grinsen. Die Finger der Ärztin, die ihn untersucht hatte, waren trotz der sommerlichen Temperaturen eiskalt gewesen. Die Gute sollte vielleicht öfter mal zur Anregung ihres Kreislaufs einen Schoppen trinken, dachte er. Er nahm sich vor, ihr bei seinem nächsten Termin einen Bocksbeutel aus seinem Weinkeller mitzubringen.
Auf dem Weg zu seinem Auto kam Marschmann am öffentlichen Klinik-Café vorbei. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war noch früh am Vormittag, bis zum Stammtisch fast noch zwei Stunden Zeit. Marschmann entschied, sich zur Feier des erfreulichen Untersuchungsergebnisses einen Kaffee und ein Stück Kuchen zu gönnen.
Weil er seit seiner Erkrankung direkte Sonneneinstrahlung möglichst mied, setzte er sich vor dem Café in eine schattige Ecke. Während er auf die Bedienung wartete, schob er seine Sonnenbrille auf die Stirn und studierte die Karte.
Es dauerte einen Augenblick, bis sich die Stimme so in sein Bewusstsein drängte, dass sie seine Kuchenfantasien verdrängte. Der ehemalige Kriminalbeamte stutzte, dann konzentrierte er sich. Diese Stimme! Niemals in seinem Leben würde er diese Stimme vergessen! Aber das konnte doch gar nicht sein! Der Mann, dem seiner Erinnerung nach diese Stimme gehörte, war seit Jahren tot!
Langsam hob er den Blick und spähte über den Rand der Kuchenkarte hinweg. Einige Meter von ihm entfernt erschienen zwei Männer. Der ältere der beiden saß in einem Rollstuhl. Sein geschientes Bein lag auf einer Fußauflage. Der Mann, dessen Stimme Xaver Marschmann so elektrisiert hatte, schob das Gefährt.
Die beiden entschieden sich für einen Tisch ein Stück entfernt. Der Begleiter des Rollstuhlfahrers setzte sich mit dem Rücken zu Marschmann. Marschmann konnte zwar nicht verstehen, worüber sie sich unterhielten, aber die Melodie der Stimme bohrte sich in seine Wahrnehmung und weckte eine höchst unangenehme Erinnerung. Wie es sich anhörte, sprachen die beiden Englisch.
In diesem Augenblick wurde die Terrasse von drei jungen Krankenschwestern aufgesucht, die sich zwischen Marschmann und den beiden Personen, die seine Aufmerksamkeit geweckt hatten, niederließen. Darüber hinaus wurde der Kriminalbeamte von der Bedienung, die ihn nach seinen Wünschen fragte, in seiner Konzentration gestört. Marschmann bestellte eine Tasse Kaffee. Den Kuchen verkniff er sich jetzt, weil er einsatzbereit bleiben wollte, falls die beiden die Terrasse wieder verließen. Als ihm die Bedienung kurz darauf den Kaffee servierte, zahlte er gleich.
Marschmann griff sich vom Nebentisch eine liegengebliebene Zeitung. Ein altes, aber probates Mittel der Tarnung bei der Observierung von Personen. Unbewusst war der pensionierte Kriminalbeamte wieder in die Rolle des Ermittlers geschlüpft.
Knapp zwanzig Minuten später rief der Mann mit der auffälligen Stimme die Bedienung, zahlte, erhob sich und fasste den Rollstuhl bei den Griffen. Marschmann wartete, bis sie die Terrasse verlassen hatten, dann setzte er seine Sonnenbrille auf und folgte ihnen in einiger Entfernung.
An der nächsten Straßenecke blieben die beiden Männer stehen. Marschmann stellte sich in den Eingangsbereich der hier angrenzenden Kinderklinik und tat so, als studierte er einen Aushang. Die beiden Männer wechselten noch einige Worte. Im nächsten Augenblick wandte sich der Mann im Rollstuhl ab und trieb sein Gefährt mit den Händen in Richtung Uni-Zentrum. Der Typ, der Marschmanns Interesse geweckt hatte, blickte kurz hinterher, dann drehte er sich um und marschierte den gleichen Weg wieder zurück. Der ehemalige Polizeibeamte beeilte sich, den Eingangsbereich der Kinderklinik zu betreten, damit er nicht gesehen wurde. Als der Mann vorbei war, verließ Marschmann seine Deckung und folgte ihm. Wie es aussah, hatte der Mann sein Auto auf dem gleichen Parkplatz abgestellt wie er.
Marschmann sollte Recht behalten. Zehn Minuten später beobachtete er, wie der Verfolgte auf dem Parkplatz der Kopfklinik in ein schwarzes Fahrzeug gehobener Klasse stieg, wo er sofort anfing zu telefonieren. Dies gab Marschmann die Möglichkeit, schnell sein Auto zu erreichen, sich hinter das Steuer zu schwingen und den Motor zu starten. Angespannt wartete er darauf, dass der Bursche losfuhr. Tatsächlich schob sich der Wagen im nächsten Moment aus der Parklücke und rollte vom Platz. Marschmann wartete mit der Verfolgung, bis der schwarze Wagen in Richtung Zinklesweg abbog, dann fädelte er sich hinter ihm in den fließenden Verkehr ein. Als er ihm über den Lindleshang in Richtung Versbacher Straße folgte, achtete er sorgfältig darauf, dass sich zwei andere Fahrzeuge zwischen ihm und dem Verfolgten befanden.
Diese Stimme, die bei ihm alle Alarmglocken hatte schrillen lassen, war eine Stimme aus seiner Vergangenheit. Ereignisse tauchten schlagartig wieder aus seiner Erinnerung auf. Zwanzig Jahre oder mehr waren seitdem vergangen. Die Stimme hatte einem Drogenboss gehört, in dessen Organisation das Landeskriminalamt Marschmann unter dem Decknamen Werner Grossmann als verdeckten Ermittler eingeschleust hatte.
Ercan Yülan, genannt „der Lächler“, hatte damals in Hessen und dem angrenzenden Bayern ein weit verzweigtes, bestens organisiertes Händlernetz für harte Drogen aufgebaut. Yülan war intelligent, skrupellos und für die Ermittlungsbehörden glitschig wie ein Aal. Obwohl die Landeskriminalämter beider Bundesländer hinter ihm her gewesen waren, war es den Polizeibehörden lange Zeit nicht gelungen, dem Lächler eine Straftat nachzuweisen. Jahrelang hatten die Ermittler nicht einmal gewusst, wie Yülan aussah. Die Mitglieder seiner Organisation, kleinere Dealer, die hin und wieder verhaftet worden waren, gaben vor, ihn nicht zu kennen, oder waren nicht bereit gewesen, gegen ihren Boss auszusagen. Es ging das Gerücht, Yülan würde jeden, den er des Verrats verdächtigte, gnadenlos beseitigen lassen. Er hatte den Ruf, Exekutionen von Verrätern persönlich beizuwohnen. Das Letzte, was die Opfer angeblich vor ihrem Tod sahen, war sein Lächeln.
Deshalb hatten die Ermittlungsbehörden ein unverbrauchtes Gesicht benötigt, einen unbekannten Beamten, der noch niemals gegen Yülans Organisation eingesetzt worden war. Xaver Marschmann, der in dieser Zeit in der oberbayerischen Drogenszene ermittelt hatte, war dem LKA geeignet erschienen. Marschmann war unverheiratet und ungebunden. Er verfügte über die Unabhängigkeit, die erforderlich war, um für unbestimmte Zeit das gefährliche Leben als Undercoveragent in der Drogenszene zu führen.
Marschmann war mit seinem Einsatz einverstanden gewesen. Er bekam eine passende Legende und einen entsprechenden Lebenslauf geschneidert, der ihn in der Szene vertrauenswürdig erscheinen ließ. Nach dieser Vita hatte er gerade eine vierjährige Freiheitsstrafe wegen Drogenhandels abgesessen und befand sich auf Bewährung auf freiem Fuß. Da das LKA den Verdacht hatte, dass sich irgendwo in Würzburg ein Drogenlabor befand, zog Marschmann in die Mainmetropole. Sein Bewährungshelfer vermittelte ihm über die Stadtverwaltung auf dem Heuchelhof eine Sozialwohnung. Marschmann suchte nach einem Job, denn er brauchte dringend Geld. Da er laut dieses neuen Lebenslaufs früher einmal gekellnert hatte, bekam er in einer Würzburger Bar einen Job als Barkeeper. Dort entwickelten sich schnell Kontakte zu einschlägigen Kreisen. Immer wieder deutete er bei passender Gelegenheit an, dass er wieder aktiv mitmischen wollte, weil er Geld benötigte. Eines Tages wurde er in der Bar von einem Typen angesprochen, der ihm anbot, kleinere Kurierdienste zu verrichten.
Dem LKA war klar: Marschmann musste, um von der Organisation anerkannt zu werden, kleinere Straftaten begehen.
Zunächst wurde er von seinem Verbindungsmann nur als Drogenkurier in Franken eingesetzt, später auch zwischen Bayern und Hessen. Aus den Gesamtumständen schloss er, dass der Stoff in Unterfranken hergestellt wurde. Der Verdacht, dass Würzburg Produktionsstätte sein könnte, erhärtete sich. Als Marschmann allerdings auch nach drei Monaten noch keinen Schritt weitergekommen war, beschloss die Ermittlungsgruppe im Landeskriminalamt, ihre Strategie zu ändern. Marschmann alias Grossmann musste der Spitze der Organisation irgendwie positiv auffallen, damit er aufsteigen konnte. Beim nächsten Transport von Würzburg nach Frankfurt plante man eine Aktion. Auf dem letzten Parkplatz vor der hessischen Grenze wollte man einen Kontrollpunkt einrichten und eine groß angelegte Drogenrazzia durchführen. Marschmanns Aufgabe sollte es sein, die Kontrolle zu durchbrechen und erfolgreich vor der Polizei zu flüchten. Diese Aktion, so glaubte man im LKA, würde ausreichen, um sich der Spitze der Organisation zu empfehlen.
Doch es kam anders. Als Marschmann an diesem Tag in Würzburg losfahren wollte, glitt im letzten Augenblick ein Mann auf den Beifahrersitz. Marschmann warf ihm einen überraschten Seitenblick zu. Es handelte sich eindeutig um einen Türken.
„Fahr los!“, sagte der Unbekannte knapp, während er sich anschnallte. „Ich bin Ercan Yülan und werde dich ein Stück begleiten. Los, Grossmann, gib Gas, ich habe es eilig!“ Auffordernd sah er Marschmann an, dabei lächelte er.
Verdammt, das war Yülan, der Boss, persönlich, schoss es Marschmann durch den Kopf. Aber was hatte der Mann für eine Stimme! Marschmann hatte erhebliche Mühe, sich sein Erstaunen über deren extrem hohen Klang nicht anmerken zu lassen. Was seine Stimmbänder erzeugten, war reinstes Falsett! Diese hohen Töne standen im krassen Gegensatz zur Figur des Mannes. Yülan war sicher über einsneunzig groß, kräftig und durchtrainiert. Unter dem linken Ärmel seines teuren Jacketts war eine eindeutige Ausbeulung zu erkennen. Der Typ war bewaffnet!
„Verdammt, Grossmann, jetzt mach schon! Oder hast du ein Problem?“ Seine Augen bekamen einen harten Glanz, als er Marschmanns Zögern bemerkte. Das Lächeln blieb dabei jedoch in seinem Gesicht wie eingemeißelt stehen.
Marschmann wusste natürlich, wie Yülan in der Organisation genannt wurde. Er riss sich zusammen, ignorierte die Stimme und das Lächeln und startete den Motor. Viel mehr beschäftigte ihn die Frage, wieso sich der Boss, der sich, wie er wusste, normalerweise immer im Hintergrund hielt, in sein Fahrzeug gesetzt hatte. War etwa seine Tarnung aufgeflogen? Marschmann merkte, wie seine Handflächen feucht wurden. War er jetzt womöglich auf dem Weg zu seiner eigenen Hinrichtung?
Bei Heidingsfeld fuhren sie auf die A 3 und Marschmann alias Grossmann gab Gas. Auf der Fahrt bis Marktheidenfeld sprach Yülan kein Wort. Marschmann hatte den Eindruck, dass er tief in Gedanken versunken war. Die Anspannung des verdeckten Ermittlers stieg fast ins Unerträgliche. Wenn Yülan bei der Kontrolle mit im Auto saß, würde der ganze Plan auffliegen. Marschmanns Schusswaffe war mit Platzpatronen geladen, so dass er schießen konnte, ohne jemanden zu verletzen. Von den kontrollierenden Beamten waren drei bestimmt, die ebenfalls mit Platzpatronen auf den flüchtigen Grossmann schießen sollten. Marschmann war klar, dass Yülan im Ernstfall von seiner scharfen Waffe Gebrauch machen würde. Für die völlig überraschten Kollegen bestand Lebensgefahr! Marschmann musste den Einsatz unbedingt stoppen! Er beschloss, bei der Raststätte Spessart einen kurzen Stopp einzulegen. Ihm war klar, dass sein Boss etwas dagegen haben würde. Die Hohlräume seines Fahrzeugs waren mit Heroin vollgestopft, das für den Frankfurter Markt bestimmt war. Mit so einer brisanten Fracht machte man normalerweise keine Pause.
„Es tut mir leid, Herr Yülan“, begann Marschmann wenige Kilometer vor der Raststätte und verzog das Gesicht, „aber ich muss mal dringend zur Toilette.“
Der Lächler sah seinen Fahrer mit zusammengekniffenen Augen an. „Was soll der Unsinn? Du kannst mit dem Zeug im Wagen nicht anhalten.“
„Ich weiß“, gab Marschmann zurück, „aber ich habe gestern Sushi gegessen und ich fürchte, ich habe das Zeug nicht richtig vertragen. Jedenfalls habe ich echte Verdauungsprobleme.“
Yülan gab ein Knurren von sich. „Okay, dann fahr den nächsten Parkplatz an. Ich werde hier im Wagen bleiben.“
„In ein paar Minuten sind wir an der Raststätte Spessart“, erklärte Grossmann erleichtert.
„Keine Raststätte!“ Das Fauchen seiner Stimme strafte sein Lächeln Lügen. „Nimm den nächsten Parkplatz, dort gibt es auch eine Toilette.“
Marschmann fluchte innerlich. „Hoffentlich halte ich noch so lange durch“, stöhnte er mit verkniffener Miene und drückte das Gaspedal weiter ...