1. RELIGION
Karl Gabriel
Der lange Abschied von der Säkularisierungsthese – und was kommt danach?
Für die Frage nach der Zukunft von Religion und religiöser Bildung war lange Zeit – zumindest in Europa – der Horizont der Säkularisierungsthese dominierend. Für diejenigen, die sich im Umkreis von Franz-Xaver Kaufmann seit den 1970-er Jahren mit einer Soziologie des Katholizismus beschäftigten, gab es von Anfang an gute Gründe, an den allzu einlinigen und teleologischen Vorstellungen der Säkularisierungstheorie zu zweifeln. Zu ihnen gehörte Norbert Mette mit seinen frühen Arbeiten über die „Kirchlich distanzierte Christlichkeit“ und die missglückten Versuche einer katholischen Religionssoziologie. (vgl. Mette 1980/1982) Heute stehen wir am Ende eines langen Abschieds von der Säkularisierungsthese. Dies ist inzwischen zumindest die Mehrheitsmeinung unter den Religionssoziologen. Weniger einig ist man sich in der Frage, was nach dem Abschied von der Säkularisierungstheorie angesagt ist. Als direkte Alternative hat die These von der Rückkehr bzw. Wiederkehr der Religion in den letzten Jahren eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Im folgenden Beitrag soll auch diese Vorstellung einer Kritik unterzogen werden. Stattdessen plädiere ich für die Perspektive einer an der Vorstellung multipler Modernen orientierten religiösen Modernisierung.
Die Kritik der Säkularisierungsthese
Wie sich insbesondere an Max Weber, Emil Durkheim und Georg Simmel zeigen lässt, sind die Grundzüge der Säkularisierungsthese in die Ursprünge der Soziologie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eingelassen. (vgl. Krech/Tyrell 1995) Sie macht einen Teil der disziplinären Identität des Faches aus. Der Ausbau der These ging in drei eng aufeinander bezogene Richtungen: Webers Entdeckung des Kampfs der Wertsphären in modernen Gesellschaften wurde in der Theorie funktionaler Differenzierung entfaltet. Säkularisierung erhielt hier die Bedeutung der Trennung und Ablösung der gesellschaftlichen Funktionsbereiche von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft etc. von der Religion. Seit den 1930-er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Religion zum Gegenstand der neu entstehenden empirischen Sozialforschung. Sie wandte sich dem Messbaren an der Religion zu: Kirchgangshäufigkeit, massenstatistische Befragungen zu Gottesglauben, Befolgung kirchlicher Moralvorschriften und Vertrauen zur Institution Kirche. Die empirische Sozialforschung belegt seitdem, dass die so gemessene Religiosität bzw. Kirchlichkeit in lang- wie kurzfristiger Perspektive abnimmt. Sie stellt bis heute einen signifikanten Zusammenhang mit typischen Merkmalen moderner Gesellschaften wie Industrialisierung, Urbanisierung und Höhe des Bildungsgrads her. Die Säkularisierung als Rückgang des Glaubens auf individueller Ebene erhielt damit den Charakter einer vielfach bestätigten empirischen Tatsache. Noch in eine dritte Richtung erfuhr die Säkularisierungsthese einen weiteren charakteristischen Ausbau: Religion wurde in modernen Gesellschaften als Phänomen der Privatsphäre begriffen. Während die dominierenden Institutionen des öffentlichen Lebens nach säkularen, rationalen Maximen funktionierten, bleibe der Religion – so etwa Thomas Luckmann – das Reich des Privaten. Die Religion werde privatisiert, individualisiert und verwandele sich in einen Gegenstand individueller Wahlvorgänge.
Der Einfluss der Säkularisierungsthese reicht bis heute weit über die Soziologie hinaus. Man übertreibt kaum, wenn man sagt, die Säkularisierungsthese sei die dominierende Selbstverständigungskategorie des 20. Jahrhunderts gewesen, zumindest unter den Intellektuellen Europas. Die aufstrebenden Naturwissenschaften konnten sich auf sie berufen und alle Geisteswissenschaften sind von ihr imprägniert. Auch die Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts, die evangelische wie die katholische, lassen sich nicht begreifen ohne Bezug zum Horizont der Säkularisierungsthese.
Die Kritik der Säkularisierungsthese gewinnt heute auf verschiedenen Ebenen an Boden. Zuerst trifft es die Annahme, mit der Säkularisierung habe man wissenschaftlich einen gesellschaftlichen Prozess identifiziert, der notwendig und zielgerichtet verlaufe und zwangsläufig auf ein Ende der Religion hinauslaufe. Bis auf einige versprengte kämpferische Atheisten – heute zumeist in einem biologistischen und naturalistischen Gewand – vertritt die Säkularisierungsthese als Teleologie, als Ziel von Geschichte und Gesellschaft eigentlich niemand mehr. Ein zweites Feld der Kritik betrifft den inhärenten Eurozentrismus der Säkularisierungsthese. Die These ist im westlichen Europa entstanden und zeigt sich in die weltanschaulichen Frontstellungen, wie sie sich nur in Teilen Europas entwickelten, tief verstrickt. Im Verhältnis zur übrigen Welt nährte sie zudem den Glauben an eine überlegene Mission Europas für die ganze Welt. In den Vereinigten Staaten hat sich die Säkularisierungsthese nie voll entfalten können, und heute sieht sich die Mehrheit der amerikanischen Religionssoziologen im Recht, wenn sie sagt, bei der Säkularisierungsthese handele es sich um ein typisch europäisches Produkt. Die katholische Theologie hat früh nach dem Konzil von den sich neu entwickelnden außereuropäischen Theologien einen Spiegel vorgehalten bekommen, auf dem zu erkennen war, wie stark auch die katholische Theologie des 20. Jahrhunderts eine Fixierung auf das Säkularisierungsproblem erkennen lässt. Dass die Säkularisierungsthese eine eurozentristische Schlagseite besitzt, wird heute kaum jemand ernsthaft bestreiten wollen.
Aus der Soziologie selbst hat der spanisch-amerikanische Soziologe José Casanova vor über 15 Jahren viele kritische Argumente zur Säkularisierungsthese gebündelt und mit Wucht vorgetragen. (vgl. Casanova 1994) Das Hauptproblem der Säkularisierungsthese sieht Casanova darin, dass sie in problematischer Weise Aussagen zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, zur Abnahme individuellen Glaubens und zur Privatisierung der Religion zu einer einzigen These unentwirrbar miteinander verschränke. Die drei Prozesse müssen aus seiner Sicht als einzelne betrachtet werden. Hatte Casanova in den 90-er Jahren zumindest noch den Prozess der funktionalen Differenzierung als konstitutiv für moderne Gesellschaften betrachtet, so rückt er heute auch davon noch ab. Für die Entwicklungen im Verhältnis von Religion und Politik zum Beispiel sei die Säkularisierungsthese im Sinne funktionaler Differenzierung wenig instruktiv. Fruchtbarer sei es, von einer Vielzahl verschiedener Modelle wechselseitiger Tolerierung von Religion und Politik auszugehen. Offenkundig sei, dass mit Prozessen der Modernisierung nicht notwendig der Rückgang individuellen Glaubens verbunden sein müsse. Außer für den Westen Europas treffe dies empirisch einfach nicht zu. Am Beispiel so unterschiedlicher Phänomene wie der islamischen Revolution im Iran, der Befreiungstheologie in Lateinamerika, der Solidarnoszbewegung in Polen und der religiösen Rechten in den USA kann Casanova überzeugend belegen, dass auch von einem zwangsläufigen Zusammenhang von Modernisierung und Privatisierung der Religion nicht ausgegangen werden könne.
Die Kritik der These von der Rückkehr der Religion
Auch die These von der Rückkehr der Religion kann Bezug nehmen auf Max Weber. In der aufgewühlten Situation des Jahres 1917 in München formuliert er in einem berühmt gewordenen Vortrag zum Thema ‚Wissenschaft als Beruf‘: „Die alten, vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“ Der siegreiche, moderne Kapitalismus – so Weber schon 1904 am Ende der ‚Protestantischen Ethik‘ – ist zu einem „stahlharten Gehäuse“ geworden. „Niemand weiß noch“, – so verweigert er sich einer Prognose – „wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden“ (Weber 61985, 605; 91988, 204). Heute machen zwei religiöse Expansionsbewegungen weltweit auf sich aufmerksam, auf die im Zusammenhang der These von der Wiederkehr der Religion gern verwiesen wird. Das pfingtlerische Christentum wächst augenblicklich an vielen Stellen der Welt mit einer erstaunlichen Dynamik. Dies trifft für große Teile Ostasiens zu, eingeschlossen Chinas. Mit atemberaubendem Tempo nehmen die charismatischen Gruppen schon seit einigen Jahren in Lateinamerika zu. Auch das südliche Afrika ist Schauplatz einer Expansion charismatischen Christentums. Mit Evangelikalen und katholischen Charismatikern überschreitet die Bewegung typischer Weise auch die Konfessionsgrenzen. Die zweite weltweite religiöse Expansionsbewegung ist uns in Europa präsenter: die des Islam. Dabei machen Europa und der Nahe Osten nicht einmal den vorrangigen Ort islamischer Expansion aus. Indonesien stellt inzwischen das bevölkerungsreichste muslimische Land der Welt dar. Außer in Ostasien und unter den Migranten Europas wächst der Islam auch in Schwarzafrika. Von einem von Westeuropa aus sich ausbreitenden Prozess der Säkularisierung im Sinne des Verschwindens von Religion ist augenblicklich wenig in der Welt zu spüren. Im Gegenteil: die Religion ist in vielen Teilen der Welt eindeutig im Vormarsch.
Die These von der Wiederkehr der Religion bereitet aber ebenfalls nur schwer zu leugnende Schwierigkeiten. Wie schon die frühen Andeutungen Max Webers belegen, bleibt die These der Perspektive der Säkularisierung verhaftet. Wer von einer Wiederkehr spricht, setzt voraus, dass vorher eine Abreise bzw. Abkehr stattgefunden hat. Die These von der Wiederkehr der Religion teilt damit die Probleme, die im Zusammenhang mit der Säkularisierungsthese angesprochen wurden. Die Vermutung liegt nahe, dass die Wiederkehrthese denjenigen europäischen Intellektuellen besonders plausibel erscheint, die bis vor Kurzem noch die Religion im unaufhaltsamen Prozess des Verschwindens sahen.
Man muss die Argumentation von Ronald Inglehart und Pippa Norris nicht teilen, um insbesondere mit dem Blick auf Europa gegenüber der These der Wiederkehr der Religion ein Unbehagen zu empfinden. Inglehart und Norris halten trotz der weltweiten religiösen Expansionsprozesse an der klassischen Säkularisierungsthese fest. (vgl. Norris/Igelhart 2004) Sie deuten die empirischen Hinweise auf eine Wiederkehr der Religion an vielen Stellen der Welt gewissermaßen als eine vorübergehende Delle im Verdrängungsprozess der Religion. Diese lasse sich einfach dadurch erklären, dass in vielen Teilen der Welt die Armut nicht ab-, sondern zunehme. Wo sich aber Armut ausbreite, dort kehre auch – darüber brauche man sich nicht zu verwundern – die Religion zurück. Wenn und soweit es gelinge, die Lebenssituation der Menschen zu verbessern und sicherer zu machen, komme es auch wieder zu dem bekannten Zusammenhang von Anhebung des materiellen Lebensstandards und dem Verschwinden der Religion. Theoretisch erweisen sich Inglehart und Norris als Verfechter einer allzu einfachen These einer Kompensationsfunktion der Religion. Diese ist schwer mit der Einsicht in die Vielfalt von Funktionsbezügen der Religion in Einklang zu bringen. Empirisch müssen sie mit Blick auf den Fall der Vereinigten Staaten die Aufmerksamkeit ganz auf die Dimension der Sicherheit bzw. Unsicherheit lenken. Die ungesicherten Lebensverhältnisse als den alleinigen Verursacher für die Religiosität in den USA in Anschlag zu bringen, bleibt aber wenig überzeugend.
Der eigentliche kritische Testfall für die These der Wiederkehr der Religion bleibt das westliche Europa. Befürworter wie Gegner der Säkularisierungsthese sind sich soweit einig, dass das westliche Europa seit den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts einen Prozess der Schwächung der kirchlich verfassten Religion erlebt. Ohne, dass es Anzeichen eines Trendumkehrs gäbe, nehmen seit dieser Zeit Kirchenmitgliedschaft und regelmäßiger Gottesdienstbesuch ab, sinkt der Einfluss der Kirchen auf die religiösen Überzeugungen und moralischen Orientierungen der Menschen und verliert eine kirchlich geprägte Lebensführung an institutioneller Absicherung. Was macht man mit diesem unbestrittenen Befund, wenn man trotz allem von der Wiederkehr der Religion auch für Europa überzeugt ist? Der verständliche Ausweg besteht darin, zwischen Kirchlichkeit und Religiosität eine scharfe Kluft anzunehmen, die alternative, außerkirchliche Religiosität als die eigentliche Religiosität zu betrachten und der kirchlichen Religion einen marginalen, vernachlässigbaren Status zuzuschreiben. Damit gerät die Position einer Wiederkehr der Religion auch in Europa aber in Widerspruch zu schwer zu leugnenden empirischen Tatsachen. Zwei seien besonders hervorgehoben: Die anwachsenden Phänomene einer alternativen Religiosität haben ihren Ort nicht jenseits, sondern primär im Umfeld der Kirchen. Wo die kirchliche Religion geschwächt ist, findet auch die alternative Religiosität keinen Nährboden. Dies ist eine der Schlussfolgerungen, die sich aus der Entwicklung von Religiosität und Kirchlichkeit in den Neuen Bundesländern nach 1989 ziehen lässt. Die von vielen erwartete breite Rückkehr zu den Kirchen fand nach 1989 nicht statt. Es gab aber auch keine nennenswerte Hinwendung zu Formen alternativer Religiosität. In Westdeutschland sind Phänomene alternativer Religiosität in signifikant höherem Maße zu beobachten als in Ostdeutschland.
Zu den Phänomenen – ich komme zum zweiten Argument – einer Wiederkehr der Religion gehört wiederum unbestritten eine gewisse neue Sichtbarkeit der Religion bzw. eine Wiederkehr der Religion in den öffentlichen Raum. Wenn man danach fragt, welche Religion heute primär in die Öffentlichkeit zurückkehrt, so ist es wiederum nicht die alternative Religiosität. Vielmehr sind es primär weltweit, aber auch in Europa, die alten Kirchen und die außerchristlichen traditionelle Religionsgemeinschaften. José Casanova hat als erster mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die traditionellen Religionsgemeinschaften die primären Träger dessen sind, was er die De-Privatisierung der Religion nennt. Ich komme zu dem Schluss, dass es gute Gründe gibt, heute sowohl die Säkularisierungsthese als auch die These von der Wiederkehr der Götter als unbefriedigend zu betrachten. Deshalb erscheint es mir geboten, nach einen Konzept zu suchen, das die gegenwärtige religiös-kirchliche Lage besser zu erklären vermag als die beiden alternativen Positionen.
Multiple Modernen und religiöse Modernisierung
In einer gegenwärtig noch andauernden Debatte um die Kritik der älteren Modernisierungstheorie sind die Einwände noch einmal verschärft worden. War man sich bisher sicher, dass die Kernelemente der Moderne – wie etwa eine liberal-kapitalistische Wirtschaftsentwicklung und Demokratisierungsprozesse – sich wechselseitig notwendig bedingen, so ist man heute bei der Annahme notwendiger Zusammenhänge vorsichtiger geworden. Eine scharfe Gegenüberstellung von Tradition und Modernität – so ein weitere Einsicht – macht wenig Sinn. Vielmehr wirken Traditionen in der Moderne weiter und spiegeln sich in eigenen Formen von Modernität wider. Damit entspricht heute die Vorstellung von Modernisierung mehr einer Arena möglicher Optionen und Wege als einem gerichteten Prozess. Auf der Linie einer konsequenten Öffnung des Spielraums der Moderne liegt auch, wenn etwa Phänomene des Fundamentalismus als Alternativen in der Moderne und nicht als Alternativen zur Moderne in den Blick kommen. Shmuel Eisenstadt hat für die skizzierte Öffnung des Modernisierungskonzepts die Formel von der „Vielfalt der Moderne“ oder von den „multiplen Modernen“ eingeführt. (vgl. Eisenstadt 2000)
Meine These ist die, dass das Konzept der multiplen Modernen die Chance bietet, jenseits von Säkularisierung und Wiederkehr der Religion eine angemessene Perspektive für die Entwicklung von Religion und Christentum heute zu gewinnen. Eine erste, weitreichende Konsequenz besteht darin, Religion entschieden in und nicht jenseits der Moderne zu verorten. Die immer wiederkehrenden Spannungen zwischen Religion und Modernität sind typisch moderne Phänomene und keineswegs ein Zeichen dafür, dass die Religion irgendwie nicht zur Moderne gehört bzw. passt. Konflikte zwischen den Wertsphären – so schon Max Weber – machen gerade ein zentrales Charakteristikum der Moderne aus.
Mit einem kurzen Blick auf die Soziologie des Katholizismus lässt sich die Fruchtbarkeit der angesprochenen Perspektive verdeutlichen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erfindet sich der Katholizismus in der Moderne und als modernes Phänomen gewissermaßen neu. Die katholische Kirche nimmt erst im 19. Jahrhundert die uns so vertraute, zentralisierte organisatorische Gestalt an. Die Päpste werden Träger eines spezifischen modernen Charismas. In den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts nutzen die katholischen Akteure die Chance zu einer umfassenden Milieubildung unter den Katholiken. Sie fußt auf der Entfaltung eines eigenen Vereinswesens, einer eigenen Weltanschauung, eigenen Institutionen und eigenen, dem Alltag Struktur gebenden Ritualisierung...