Kirchliche Orte und Kontexte
Thomas Söding
Auf hoher See
Kirchenschiffe im Neuen Testament
Das Neue Testament ist kein Modellbaukasten für das Schiff der Kirche, aber ein Logbuch, das seine Jungfernfahrt festhält, eine Tankstelle, die es mit Sprit versorgt, und ein GPS-System, mit dem es navigieren kann. Die Lebensverhältnisse der Menschen haben sich seit der neutestamentlichen Zeit grundlegend verändert, sodass jeder Versuch, die Urkirche zu kopieren, anachronistisch wäre. Aber zu allen Zeiten hat die Kirchenreform am Neuen Testament Maß genommen. Heute besteht die große Chance, die Orientierung in ökumenischer Gemeinsamkeit zu suchen – in einer intellektuellen Partnerschaft zwischen Exegese und Pastoraltheologie, Wissenschaft und Praxis, Kirchenliebe und Kritikfähigkeit.
1. Schiffsverkehr
Der intensive Schiffsverkehr, den die Evangelien auf dem See Genezareth und die Apostelgeschichte wie die Apostelbriefe auf dem Mittelmeer beschreiben, fängt wie in einem Brennglas die Dynamik der Mission ein, die Unberechenbarkeit der Elemente, die Zerbrechlichkeit der Gefährte, die Schwäche der Besatzung – und das Erreichen von Zielen, die ohne die Bootstouren außer Reichweite gewesen wären.
An der Kirche des Neuen Testaments1 fasziniert zweierlei: die Intensität des Glaubens und die Kreativität, mit der sie auf dramatisch neue Herausforderungen so reagiert hat, dass in der weiten Welt das Evangelium Wurzeln hat schlagen können; so sind neue Gemeindeformen entstanden, die das Band des einen Evangeliums, des einen Glaubens und der einen Taufe (Eph 4,4 f.) nicht zerrissen, sondern verstärkt haben. Die Wurzeln der Kirche liegen in Galiläa und Judäa; aber sie bricht mit großer Kraft – und unter großen Widerständen – ins Weite auf:2 in die Welt der Griechen und der Römer, der großen Städte und der langen Straßen, der weiten Landschaften und der neuen Kulturen. Die Ursprache der Kirche ist das Aramäisch Jesu; aber das Pfingstwunder3 besteht in der weit verbreiteten Einsicht, dass Gottes große Taten ohne jeden Bedeutungsverlust, im Gegenteil: mit großem Bedeutungsgewinn, in allen Muttersprachen dieser Welt verkündet werden können (Apg 2).4 Die Anfänge der Kirche liegen in den Wanderungen Jesu und seiner Jünger, ihrer Suche nach Gastfreundschaft in den Häusern Galiläas und Judäas, ihrer Pflege von Freundschaften, die durch die Gottesliebe inspiriert sind und deshalb auf die Nächstenliebe ausstrahlen; am Ende des neutestamentlichen Jahrhunderts gibt es ein (für die damaligen Verhältnisse) globales Netzwerk von Haus- und Stadtgemeinden; es gibt Ämter und christliche Familien; es gibt Wanderapostel, aber auch attraktive und missionarisch aktive Gemeinden; es gibt Sakramente, wenigstens Taufe und Eucharistie; es gibt eine vielstimmige Prophetie und eine ambitionierte Lehre; es gibt engagierte Sozialaktionen und eine reiche Liturgie. Es gibt dies alles weder in einer heilen Welt noch in einer idealen Kirche; Streit um Glaubensfragen ist an der Tagesordnung, Streit um Rollenfragen, Streit um Organisationsfragen. Aber es gibt das Glaubensleben in so faszinierenden und irritierenden Gestalten, dass – im Rückblick – die erstaunliche Erfolgsgeschichte der urchristlichen Mission analysiert und interpretiert werden kann: als singuläres Phänomen eines religiösen Aufbruchs, der im Glauben an den einen Gott, geführt vom Heiligen Geist, die Berufung erkennt, alle Völker zur Gottesliebe zu führen, und dabei auf keinen anderen setzt als auf Jesus Christus, der Gott einen Namen, ein Gesicht, eine Geschichte, ein Wort gegeben hat.
2. Bootstypen
Die Geschichte der frühen Kirche kann und muss unter historischen5, soziologischen6 und kulturgeschichtlichen7 Gesichtspunkten rekonstruiert werden. Sie muss auch theologisch interpretiert werden: als prägende Anfangszeit für die Kirche aller Zeiten.8 Aber die Kirche des Anfangs kann auch erschlossen werden, wenn einige der prägenden Bilder betrachtet werden, von denen das Neue Testament voll ist; denn diese Bilder machen die Theologie der Kirche anschaulich; sie lassen wie durch ein Fenster auf Lebens- und Gotteserfahrungen des frühen Christentums blicken; sie reflektieren wie ein Spiegel die Blicke der Betrachter und stellen sie in den Horizont der originären Sendung Jesu.
Die zahlreichen Bilder der Kirche im Neuen Testament lassen weniger an eine Bastion denken, an der die Brandung sich bricht, als an ein Schiff, das auf hoher See starken Gegenwind hat. Das „Schifflein der Kirche“ ist, soweit die Quellen sprechen, ein neutestamentliches Bild. Es ist bei Weitem nicht das einzige, aber eines, das andere Assoziationen auslöst als der Fels oder der Stall, der Tempel oder der Acker. Ein Schiff braucht einen sicheren Hafen, sticht aber in See. Es geht auf kleine oder große Fahrt. Es transportiert Passagiere und Ladung. Es hat Segel und Ruder. Es braucht eine tüchtige Besatzung, eine gute Technik, ein genaues Ziel und eine klare Route. Das Bild liegt nahe, weil Petrus und Andreas, Jakobus und Johannes Fischer waren und weil Paulus sein Handwerk als Segelmacher verstanden hat. Es setzt eine Bootsgesellschaft dem frischen Wind der offenen See aus, hat aber nicht nur einzelne Surfer, sondern ganze Mannschaften vor Augen, die anderen zu Diensten, und bunte Reisegesellschaften, die voller Erwartung sind. Deshalb hat das Neue Testament Kirchenschiffe zu Wasser gelassen.
Es kennt verschiedene Bootstypen, die allesamt ihre Stärken und Schwächen haben, aber allesamt für Jesus und seine Jünger, für die Apostel und ihre Gemeinden wichtig geworden sind.
(1) Schiff in Seenot
Im Markusevangelium steht die Geschichte eines großen Seesturms, in dem die Jünger eine Heidenangst befällt (Mk 4,35–41):
35Als es Abend geworden war, sagte er zu seinen Jüngern: „Lasst uns hinüberfahren ans jenseitige Ufer.“ 36Und sie ließen das Volk zurück und nahmen ihn mit, wie er im Boot war, und andere Boote waren bei ihnen. 37Da kam ein starker Sturm auf, und die Wellen schlugen ins Boot, so dass es vollzulaufen begann. 38Er selbst schlief im Heck auf einem Kissen. Da weckten sie ihn und sagten: „Meister, kümmert dich nicht, das wir untergehen? 39Aufgestanden, bedrohte er den Sturm und sagte zum Meer: „Schweig und verstumme!“ Da legte sich der Wind, und es herrschte große Stille. 40Da sagte er ihnen: „Was seid ihr ängstlich? Habt ihr noch keinen Glauben?“ 41Und sie fürchteten sich sehr und sagten zueinander: „Wer ist er, dass ihm der Wind und die Wellen gehorchen?“
Dass die Geschichte grenzwertig ist9, lässt sich nicht leugnen. Es ist geradezu ihre Pointe. Der Rahmen stimmt: Das Boot gehört zu den Realien der Geschichte Jesu und seiner Jünger; Markus hat zuvor erzählt, dass Jesus vom Boot aus das Volk, das am Ufer stand, lehrte, weil der Andrang so groß war (Mk 4,1 f). Die starken Winde am See Genezareth werden auch in antiken Reiseführern beschrieben. Aber all das sind nur Materialien, mit denen die Erzählung spielt. Im Kern steht ein atmosphärischer Exorzismus: Wie er sonst die bösen, die unreinen, die lautstarken und die stummen Geister verjagt, um die besessenen Menschen zu befreien (Mk 1,21–28; 5,1–20; 7,24–30; 9,14–29), so herrscht er hier mit durchschlagendem Erfolg Sturm und Wellen an: Sobald er die Turbulenzen verjagt hat, herrscht Ruhe. Jesus wird durch die Geschichte mit einem antiken Supermann vergleichbar, von dem man sich erzählt, dass er die wilden Elemente zu zähmen imstande war.10 Aber wer dieser Fährte folgt, gerät auf einen Holzweg. Erstens führen die Traditionsspuren der Geschichte in die Weisheit Israels, die Gottes Macht über das tobende Chaos des nassen Elementes erfasst (Hi 26,12; Ps 65,8; 89,10); vielleicht darf man noch an Jona denken, der sich aber opfert, um das Schiff aus der Seenot zu retten (Jona 1,4–16). Ein Spektakel ist die Geschichte nicht, sondern eine Epiphanie: Gott selbst ist dort, wo Jesus ist, und übt seine Macht aus, wie Jesus sie ausübt. Das allerdings ist Christologie pur.
Zum anderen steht nicht der Exorzismus Jesu, sondern der Glaube seiner Jünger im Mittelpunkt. Zwar geht die Initiative, über den See zu fahren, von Jesus aus (V. 35); aber die folgenden Verse sind aus der Perspektive der Jünger erzählt: Ihnen gehört das Boot; sie nehmen ihn mit (V. 36); sie ängstigen sich im Sturm (V. 40), während er im Heck des Bootes schläft (V. 38); sie wecken ihn und machen ihm Vorwürfe (V. 38); sie werden von Jesus kritisiert (V. 40), aber sie haben in der Geschichte das letzte Wort – wenngleich lediglich mit einer Frage: „Wer ist er?“ (V. 41).
Die Sturmstillungsgeschichte ist also eine Jüngergeschichte und eine Glaubensgeschichte; in diesem Sinn kann sie auch als eine Kirchengeschichte gelesen werden. Das Problem dieser Geschichte scheint bei Jesus zu liegen: Er wirkt abwesend11, denn er schläft; er wirkt desinteressiert, denn er tut nichts; er wirkt hilflos, denn er bringt sich selbst in Gefahr. Aber in Wahrheit, zeigt die Geschichte, liegt das Problem bei den Jüngern. Sie haben Angst, weil sie nicht sehen, dass Jesus mit ihnen im Boot ist und seelenruhig schläft, weil ihm weder Sturm noch Wellen etwas anhaben können; wenn aber er vor dem Untergang sicher ist, dann auch seine Jünger, die mit ihm in einem Boot sitzen. Dass Jesus schläft, strahlt Sicherheit aus und sollte die Jünger seiner Gegenwart gewiss machen, bewirkt aber im Gegenteil Unsicherheit und Ungewissheit.
Deshalb vertreibt Jesus Sturmgetöse und Wellengebrause: nicht, um seine Haut zu retten, sondern um seine Jünger von ihrer panischen Angst zu befreien. Nach Markus handelt er zuerst, bevor er seine Jünger nach ihrem Glauben fragt (Mk 4,39 f.). So hat es in etwa auch Lukas erzählt (Lk 8,24 f.). Matthäus hat allerdings in seiner Geschichte eine Umkehrung vorgenommen: erst kommt die Frage, dann die Aktion (Mt 8,26).12 Beide Konstellationen sind auf ihre Weise stimmig; beide stellen die Glaubensfrage.
Bei Markus fragt Jesus, ob die Jünger „noch keinen Glauben haben“ (Mk 4,40), bei Lukas, „wo“ ihr Glaube sei (Lk 8,25). Glaube hieße, auf die Gegenwart Gottes in der Gegenwart Jesu zu vertrauen, auf die Macht Gottes über das Chaos, auf ihre sichere Überfahrt auf dem tobenden See. Es ist ein Glaube, der sich christologisch tief ausloten lässt, aber ohne einen Hoheitstitel und ohne ein exaktes Bekenntnis auskommt. Der Glaube, den Jesus vermisst, ist der Glaube an Gott, der sich im Glauben an Jesus konkretisiert. Nach Markus fragt Jesus, warum die Jünger „noch“ keinen Glauben haben; das ist weniger Vorwurf als fragende Feststellung – und öffnet den Weg einer Zukunft, die zur Entdeckungsgeschichte des Glaubens wird, auch wenn sie in der Krise des Karfreitags beendet zu sein scheint. Lukas sieht die Jünger von Anfang an im Horizont des Glaubens, aber in verschiedenen Szenen, so auch hier, ohne Bezug zu ihm: Er müsste da sein, aber sie finden ihn nicht.
Matthäus dagegen redet, wie häufig, vom „Kleinglauben“ (Mt 8,26).13 Das ist ein Glaube, der will, aber nicht kann. Er ist hin- und hergerissen zwischen menschlichen Ängsten und göttlichen Verheißungen. Nach Matthäus haben die Jünger Jesus nicht mit dem Vorwurf konfrontiert, sie im Stich zu lassen, sondern gerufen: „Herr, rette uns! Wir gehen zugrunde“ (Mt 8,25). Das ist Ausdruck tiefen Vertrauens auf Jesus – aber eben doch auch der Angst, unterzugehen, obwohl Jesus da ist. Deshalb ist die Sturmstillung bei Matthäus ein Zeichen, wie sicher die Jünger sind, wenn sie mit ihm im Boot sitzen, und eine Aufmunterung, den kleinen Glauben wachsen zu lassen, den Jesus nährt.
Alle Versionen der Geschichte enden mit der Frage nach der Identität Jesu. Das ist nicht die schlechteste Schlusspointe. Das Boot ist an Land – doch nach Markus und Lukas wissen die Jünger nicht, wie ihnen geschieht (Mk 4,41; Lk 8,23), während nach Matthäus die Zuschauer sich fragen, was da eigentlich passiert ist und wer es inszeniert hat.
Die Seefahrgeschichte, als Kirchengeschichte gelesen, öffnet die Augen für die Widrigkeiten draußen, aber mehr noch für die Schwierigkeiten drinnen. Das Problem liegt nicht beim Schiff, nicht beim See, nicht in der Umwelt, sondern bei den Jüngern. Es ist das Problem mangelnden Glaubens. Weil der Glaube fehlt oder ganz klein ist, wird Jesus nicht als der gesehen, der das Boot über Wasser hält und an sein Ziel kommen lässt. Weil aber Jesus an Bord ist, wird es am Ende doch eine glückliche Fahrt.
(2) Schiffstour mit Aussicht
Nach den Synoptikern gibt es eine zweite Seefahrt, die das Glaubensproblem der Jünger von einer anderen Seite zeigt, weil Jesus eine andere Rolle spielt. Zu dieser Episode gibt es auch eine Parallele bei Johannes. Im Markusevangelium lautet die Geschichte (Mk 6,45–53):
45Und sofort nötigte er seine Jünger, in das Boot zu steigen und ans andere Ufer nach Bethsaïda zu fahren, bis er die Menge entließe. 46Und nachdem er sie verabschiedet hatte, ging er auf den Berg, um zu beten. 47Als es Abend geworden war, fuhr das Schiff mitten auf dem See, Jesus aber war allein an Land. 48Als er sah, wie sie sich beim Rudern quälten (denn sie hatten Gegenwind), kommt er um die vierte Nachtwache zu ihnen. Er ging über das Wasser, und er wollte an ihnen vorübergehen. 49Sie aber, als sie ihn über den See wandeln sahen, hielten ih...