Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben
Über diesen Glaubenssatz brauchen Gläubige sich mit niemandem zu streiten. Dass Jesus vom römischen Landpfleger Pontius Pilatus zum Tod verurteilt und anschließend gekreuzigt wurde, ist eine rein historische Nachricht. Auch Menschen, die mit dem Christentum nichts am Hut haben, können diese von den Evangelien überlieferte Nachricht nachvollziehen. Christgläubige allerdings werden sich überlegen, warum diese Aussage Teil ihres Bekenntnisses ist – und was sie bedeutet.
Die namentliche Nennung des römischen (›heidnischen‹) Prokurators Pontius Pilatus verweist darauf, dass Gottes Heilswirken sich in unserer ganz und gar profanen Geschichte vollzieht.
Zur Zeit des Pilatus (und des römischen Kaisers Tiberius und des galiläischen Landesfürsten Herodes; vgl. Lukas 3,1) wurde Jesus gekreuzigt. Diese an Nüchternheit und Knappheit kaum zu überbietende Aussage erweckt bei vielen den Eindruck, dass Jesus die Menschheit allein durch sein Leiden und durch seinen Kreuzestod erlöst habe. Auffallenderweise fehlt dabei jeder Hinweis auf Jesu Lehren und Wirken. Fest steht aber, dass Jesus ausgerechnet wegen seiner Predigt und seiner Praxis am Kreuz endete – und nicht etwa, weil Gott das so wollte.69
Rechtfertigung allein aus Glaube
Ausschlaggebend für die Absicht seitens der damaligen Religionsbeamten, Jesus zu beseitigen, war unter anderem seine Zuwendung zu den Zöllnern und Sünderinnen, die man als von Gott verstoßen betrachtete. Nicht nur im Umgang mit ihnen, sondern auch in manchen seiner Gleichnisreden machte Jesus deutlich, dass Gott diese Menschen nicht von seiner Liebe ausschließt (Parabel vom gütigen Gutsbesitzer: Matthäus 20,1–16; Gleichnisse vom Pharisäer und vom Zöllner: Lukas 18,9–14; vom verirrten Schaf und der verlorenen Drachme: Lukas 15,1–10; von der Liebe des Vaters zu seinen beiden Söhnen: Lukas 15,11–31).
Durch sein Verhalten macht Jesus jenen Menschen Mut, die ihr Leben weitab von Gottes Weisungen und Verheißungen fristen. Geflissentlich vermeidet er es, mit irgendwelchen Drohreden auch noch den letzten Rest ihres ohnehin kümmerlichen Selbstbewusstseins zu zerstören. Vielmehr ist er sich gewiss, dass einzig seine Frohbotschaft von der Vergebung die Umkehr bewirkt, und dass jene, die sich am weitesten von Gott entfernt haben, sich ihm mit umso glühenderem Herzen zuwenden können.
Mit einem Wort, Gottes Bereitschaft zum Vergeben ist bedingungslos, wenn die Fehlbaren willens sind, ihr Leben zu ändern.
Wie eine Mutter, von deren Kindern eines erkrankt ist, ganz und gar für dieses eine Kind da ist, so sorgt sich Gott um jene, die ihr Lebensglück am falschen Ort suchen.
Dass Jesus sich durch sein Verhalten selbst beim Wort nimmt, zeigt der Evangelist Lukas gleich anhand zweier Episoden. Da ist zunächst die Schilderung von der Begegnung zwischen Jesus und dem Zöllner Zachäus.
»Jesus kam nach Jericho und ging durch die Stadt. Und siehe, da war ein Mann namens Zachäus; er war der oberste Zollpächter und war reich. Er suchte Jesus, um zu sehen, wer er sei, doch er konnte es nicht wegen der Menschenmenge; denn er war klein von Gestalt. Darum lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus zu sehen, der dort vorbeikommen musste. Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und sagte zu ihm: Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus bleiben. Da stieg er schnell herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf. Und alle, die das sahen, empörten sich und sagten: Er ist bei einem Sünder eingekehrt. Zachäus aber wandte sich an den Herrn und sagte: Siehe, Herr, die Hälfte meines Vermögens gebe ich den Armen, und wenn ich von jemandem zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück. Da sagte Jesus zu ihm: Heute ist diesem Haus Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist. Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist« (Lukas 19,1–10).
Für Jesu Landsleute entbehrt diese Episode nicht einer gewissen Ironie; der Name Zachäus geht zurück auf das hebräische sakkai (vgl. Esra 2,9; Nehemia 7,14) und bedeutet der Reine oder der Gerechte.
Als oberster Steuereinnehmer arbeitet Zachäus mit der römischen Besatzungsmacht zusammen, von der er sein Zollamt in Pacht hat. Politisch betrachtet ist er ein Kollaborateur. Die Abgaben setzt er so fest, dass ihm nach Abzug der Pachtsumme ein ansehnlicher Gewinn bleibt. Wodurch er sich auf Kosten seiner Landsleute bereichert. Nach jüdischem Verständnis gilt er schon deshalb als unrein, weil er Umgang mit den Römern (d. h. mit Heiden) pflegt.
Offensichtlich hat dieser Ausbeuter schon einiges von Jesus und von dessen Wirken gehört. Er möchte ihn sehen, ob aus Neugier oder weil er das Gespräch mit ihm sucht, lässt der Evangelist offen.
Für Jesus ist Zachäus vermutlich kein Unbekannter. Dennoch bittet er ihn um Gastfreundschaft. Dieses Entgegenkommen vermittelt Zachäus das Gefühl, trotz seiner dubiosen Machenschaften nicht abgelehnt zu werden.
Die Geschichte hätte auch eine ganz andere Wendung nehmen können – etwa indem Jesus ihn ignoriert: Was habe ich denn mit diesem Menschen zu schaffen?!
Eine weitere Möglichkeit: Jesus teilt die Entrüstung der Anwesenden, begibt sich aber dennoch ins Haus des Zachäus und benützt die Gelegenheit, um ihn gründlich abzukanzeln. Er lässt kein gutes Haar an dem Mann; er hält ihm seinen unmoralischen Lebenswandel vor Augen, führt alles an und zählt alles auf, was ohnehin offensichtlich ist, bis Zachäus sich ganz klein und elend vorkommt.
Es braucht keine überschäumende Fantasie, um sich vorzustellen, wie die Geschichte in diesem Fall ausgegangen wäre: Weil Zachäus sich vor seinen Landsleuten und, mehr noch, vor sich selbst schämt, senkt er den Blick. Er weiß, dass Jesus recht hat. Die ganze Nacht über quälen ihn Selbstvorwürfe. Am anderen Morgen verabschiedet sich Jesus von ihm, nicht ohne ihn noch einmal ermahnt zu haben. Zachäus bleibt zurück – und alles bleibt beim Alten.
Bekanntlich verläuft die Geschichte anders. Jesus will nicht einen Schuldigen überführen, sondern ein Herz anrühren.
Bezeichnend ist, dass Jesus Zachäus mit keinem Wort zur Wiedergutmachung auffordert. Spontan erklärt dieser sich dazu bereit: »Wenn ich von jemandem zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück« (Lukas 19,8). Das jüdische Gesetz erkannte nur in einem einzigen Falle, nämlich bei Viehdiebstahl, und selbst da unter bestimmten Einschränkungen, eine vier- oder fünffache Rückerstattung (Exodus 21,37: »Wenn einer ein Rind oder ein Schaf stiehlt und es schlachtet oder verkauft, soll er fünf Stück Großvieh für das Rind oder vier Stück Kleinvieh für das Schaf als Ersatz geben«). Die Wiedergutmachung, die Zachäus verspricht, übersteigt also bei Weitem das geforderte Maß, ganz abgesehen davon, dass er die Hälfte seines Vermögens an die Armen verteilen will.
Wenn Jesus betont, dass Zachäus’ Haus »heute das Heil geschenkt worden ist«, bezieht sich das nicht nur auf die Umkehr des Zachäus, sondern bedeutet gleichzeitig, dass er trotz seines ›unreinen‹ Berufs von Gott angenommen ist.
Ähnlich verhält sich Jesus, als eine anonyme Sünderin (die später fälschlicherweise mit Maria aus Magdala identifiziert wurde) ihn im Haus des Pharisäers Simon aufsucht (Lukas 7,36–50). Die ist ihm offenbar schon früher begegnet. Jetzt hat sie gehört, dass er bei einem Frommen zum Mahl geladen ist und zögert keinen Augenblick, sich Zugang zu ihm zu verschaffen. Mit einem Alabastergefäß voll wohlriechenden Öles nähert sie sich ihm »von hinten«, kniet sich hin und beginnt hemmungslos zu weinen, wobei sie mit ihren Tränen Jesu Füße benetzt. Die trocknet sie mit ihrem Haar, küsst sie und salbt sie mit dem kostbaren Öl. Der Gastgeber ist indigniert ob der von den Anwesenden als peinlich empfundenen Situation, und mehr noch, weil Jesus kein Wort über eine notwendige Sühne verliert. Der wendet sich an die Frau und sagt bloß: »Dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden« (7,50)!
Immer wieder spricht Jesus von der voraussetzungslosen Zuwendung, die Gott dem Menschen entgegenbringt. Und wenn er davon redet, kommt der Begriff Verdienst in seinem Sprachschatz nicht vor. Begreiflicherweise, denn Gott kennt keine käufliche Liebe. Um es mit einem Bild zu sagen:70 Wie die Sonne nicht scheint und der Regen sich nicht ergießt, weil die Bäume grünen und die Blumen blühen, sondern damit sie wachsen und sich in ihrer ganzen Pracht entfalten können, so darf man auch Gottes Liebe zum Menschen nicht als Belohnung für irgendwelche guten Werke interpretieren. Gott nimmt jeden Menschen an, so wie er ist, weil nur auf diese Weise das Gute in ihm Wurzeln fassen und wachsen kann.
Gottes Zorn besänftigen?
In krassem Widerspruch zu Jesu Predigt und Praxis scheint die über Jahrhunderte hin vertretene kirchliche Lehre zu stehen, nach welcher der Mann aus Nazaret mit seinem Tod die Schuld der Menschen gesühnt hat, um Gottes Zorn zu besänftigen. Das heißt, dass er durch sein Lebensopfer zugunsten einer sündigen Menschheit dem Rächergott gewissermaßen in den Arm gefallen ist.
Was in dieser Sache über Jahrhunderte hin von den Kanzeln herab verbreitet wurde, scheint diesen Rückschluss zuzulassen. Als Paradebeispiel sei ein Abschnitt aus einer Karfreitagspredigt des heiligen Laurentius von Brindisi (1559–1619) zitiert:
»Es war der Wille Gottes, es war das Gebot Gottes, dass Christus für das Heil der Welt am Kreuz sterbe, wie es Gottes Gebot war […], dass das Osterlamm getötet, das Kalb zur Sühne geschlachtet, Isaak als Ganzopfer dargebracht wird. Wie also sündigten die Juden, die Christus kreuzigten, wenn es Gottes Wille, Gottes Gebot war? Weil sie das nicht nach dem Willen Gottes taten. Wenn sie mit der Frömmigkeit, in der die Priester im Tempel reine und heilige Tiere opferten, in der das ganze Volk das Osterlamm tötete, in der die Seeleute den heiligen [!] Jona ins Meer warfen in der Erkenntnis, dass dies der Wille Gottes sei, wenn also die Juden in solcher Frömmigkeit Christus getötet hätten, hätten sie gewiss eine Gott überaus willkommene Tat [!] getan, sie hätten nämlich Gott ein Opfer dargebracht, das den süßesten Duft verströmt. Und wenn es auch an Menschen gemangelt hätte und sie es nicht hätten ertragen können, die Hand an den eingeborenen Sohn Gottes zu legen, dann hätten es die Engel des Paradieses getan [!], wie der Engel aus dem Himmel herabstieg, um Christus zu stärken, damit er das bitterste Leiden und den Tod des Kreuzes ertrage, weil es so der Wille Gottes war. Ja, was sage ich? Die heiligste Jungfrau hätte es getan [!], da sie doch mit viel größerer Liebe zu Gott mit vielen schier unendlichen Graden [der Liebe] ausgestattet war im Vergleich zu Abraham. Wenn also jener aus großer Liebe zu Gott unter dem Druck des göttlichen Befehls den einzigen und geliebten Sohn Gott opfern wollte, um wie viel mehr Maria. Aus welchem Grund denn, meint ihr, ist sie beim Kreuz gestanden, an dem der Sohn hing und sie sah? Wusste sie etwa nicht, dass ihre Gegenwart den Schmerz des Sohnes über die Maßen vermehrte und seine ganz zerschlagene Seele durch ihre Tränen noch bitterer machte? Dennoch stand sie beim Kreuz des Sohnes, weil sie anerkannte, dass es so [d. h. dass diese Art von Tod] der Wille Gottes war.«71
Befremdlich ist schon der Umstand, dass der Prediger Jesu Tod mit dem Opfer Abrahams in Verbindung bringt. Seiner Ansicht nach geht es beim Kreuzesopfer um die Besänftigung eines zürnenden Gottes; bei Abraham hingegen handelt es sich um eine von Gott verhängte Glaubensprobe. Woher weiß Laurentius von Brindisi, weshalb Maria unter dem Kreuz stand? Geradezu haarsträubend ist die Tatsache, dass er den Engeln und sogar Jesu eigener Mutter unterstellt, dass sie den Gottessohn selbst abgeschlachtet hätten, wenn die Juden ihnen nicht zuvorgekommen wären. Das Beispiel zeigt, zu welch horrenden Schlussfolgerungen eine Theologie gelangt, wenn sie davon ausgeht, dass der Kreuzestod Jesu von Gott gewollt war.
Die von Laurentius von Brindisi und unzähligen anderen Predigern vertretene geradezu perverse Sinndeutung de...