DRITTER TEIL
Der neue Mensch – seine Zukunft in den Ideen deutscher Denker
Einführung
H. R. Schmitz hat keine Notizen hinterlassen, die Auskunft darüber geben, warum ihm gerade das Thema des neuen Menschen so wichtig war; einzig seine Biografie erlaubt es, Rückschlüsse zu ziehen. Da ist als Erstes seine Kindheit und Jugendzeit zu befragen. Ruinen, Bombentrichter und Soldatenfriedhöfe prägten in der Nachkriegszeit über Jahre hinaus das Landschaftsbild, viele Menschen waren noch von den Kriegserlebnissen wie traumatisiert, zerstörte Familien standen vor einem Trümmerhaufen. Nur zaghaft begann der äußere und innere Wiederaufbau. Das obengenannte Drama Wolfgang Borcherts warf Fragen auf, die viele bis ins innerste Mark trafen: Darin schreit der Kriegsheimkehrer Beckmann seine Not hinaus, wo denn Gott gewesen sei in dieser Schreckenszeit, und bleibt ohne Antwort. Borchert sieht im Dasein des Menschen ein Pusteblumendasein: »Gestern und morgen, unser Leben liegt dazwischen: kükenfederleicht, katastrophenträchtig, kostbar und kurz.«656 Spätestens als Draußen vor der Tür zur Schullektüre wurde, kam der jugendliche Heinz Schmitz mit diesen Fragen in Berührung, wie seine zeichnerische Darstellung von Borcherts Vogelscheuchen-Menschen zeigt. Sein erwachendes Glaubensleben führt ihn auf einen Weg, auf dem er mit seinem Leben eine Antwort geben will und in eine Ordensgemeinschaft eintritt, in der er die Neuheit des Evangeliums zusammen mit anderen entdeckt. Als er dann theologisch zu arbeiten beginnt, stellen sich ihm die brennenden Fragen seiner Jugendzeit von Neuem, wenn auch in einem ganz anderen Kontext: Da findet die 68er Jugendrevolte statt, da erheben sich die Befreiungsbewegungen in Lateinamerika und da wird das ganze Ausmaß der in den sowjetischen Straflagern zu Tode Gekommenen deutlich. Das Zweite Vatikanische Konzil hat vielen Christen Mut gemacht, sich den Anforderungen einer neuen Zeit zu stellen; gleichzeitig aber wirken Denkweisen weiter, die zu Heilslehren eines Neuen Menschen mutiert sind und den christlichen Glauben von innen her aufweichen: All dies stellt ihn vor Fragen, auf die er nun auch mittels seiner Forschertätigkeit eine Antwort zu geben sucht.
Heinz R. Schmitz hat nicht die Absicht, die Geschichte des Mythos des Neuen Menschen657, der vor allem das 20. Jahrhundert geprägt hat, in allen Facetten nachzuzeichnen; ihm geht es vielmehr darum, den Wurzeln der Denkformen des deutschen nachlutherischen Denkens (= de la pensée allemande postluthérienne)658 vom Standpunkt der Seinsphilosophie aus nachzugehen und die Um- und Irrwege dieses Denkens zu benennen, ohne Scheu oder Rücksicht auf Personen mit großen Namen. Er erkennt, dass sich diesen Denkvorstellungen und philosophischen Systemen das Problem der Conditio humana und das Thema der Grenzüberschreitung menschlichen Seins mit besonderer Dringlichkeit und Schärfe stellt. Die Termini der Problematik werden in diesem Denken so radikal verändert, dass es »in dieser Debatte um die Zukunft der Menschheit und um die wahren Beweggründe ihres Hoffens geht«.659
Die Hauptinhalte der Untersuchungen von H. R. Schmitz werden in dieser Arbeit, wie anfangs beschrieben, unter dem Gesichtspunkt der Idee des Neuen Menschen in fünf Kapiteln dargestellt. Im ersten Kapitel wird der Erfahrung und der philosophischen Grundausrichtung Martin Luthers und ihrem Einfluss auf seine Theologie nachgegangen, das zweite Kapitel beschäftigt sich ausführlich mit Jakob Böhme und seiner Sicht der Ankunft des neuen Menschen, das dritte Kapitel bietet einen Einblick in die moderne Dialektik an, die beginnend mit Martin Luther, in G. F. W. Hegel ihren Gipfelpunkt erreicht. Das vierte Kapitel behandelt Martin Heidegger und die Frage nach dem Sein und das fünfte diskutiert Ernst Blochs Werk Atheismus im Christentum.
_________________________
Erstes Kapitel
Martin Luther am Ursprung der modernen Denkweise
Einleitung
Martin Luther wird im Werk des H. R. Schmitz oftmals genannt und zitiert, aber nur eine Untersuchung ist ihm allein gewidmet. Es handelt sich dabei um die schon erwähnte Arbeit mit dem Titel Aux origines de la pensée moderne: Le drame luthérien. Dieser Text war ihm so wichtig, dass er den französischen Titel, wie erwähnt, für seine Mutter auf Deutsch übersetzte: An den Ursprungsgründen des modernen Denkens: das dramatische Ringen Martin Luthers.
Ein anderes Kapitel – über das dialektische Denken bei Martin Luther – ist in eine Arbeit eingebettet, die unter dem Titel Progrès social et Révolution – L'illusion dialectique ebenfalls schon genannte wurde. Ein anderer wichtiger Beitrag zu Luthers geistiger Entwicklung findet sich mitten in einer Arbeit über Jakob Böhme.660
Heinz Schmitz wuchs in einem Milieu auf, das ganz katholisch geprägt war. Doch schon von Kindheit an hatte er Kontakt mit evangelischen Christen, denn seine Mutter ging sehr liebevoll mit Nachbarskindern um, die aus evangelischen Familien kamen.661 Wie berichtet, hatte er in den zwei Jahren seines Aufenthalts in der Fraternität in Hamburg das protestantisch geprägte Milieu aus eigenem Erleben kennen gelernt und einen guten Zugang zu den Menschen gewonnen. Als dann einige Jahre später seine Ordensgemeinschaft die Gründung einer weiteren Fraternität in Deutschland in Erwägung zog und sich die Frage stellte, in welcher Stadt das sein könnte, trat er für eine Stadt mit einem einfachen Arbeitermilieu in einem protestantischen Umfeld ein.662 Auch das ist ein Zeichen dafür, dass er evangelische Christen besonders ins Herz geschlossen hatte. Seine betont kritische Einstellung zu Martin Luther betrifft in erster Linie das philosophische Gedankengut, das vom Reformator ausging und das seine neue Lehre ganz wesentlich durchdringt. Dieses philosophische Gedankengut kritisierte Schmitz, wie schon erwähnt, während seines Theologiestudiums so kompromisslos, dass der Studienleiter Frère André die betreffende Hausarbeit über Martin Luther zurückwies. Da diese Arbeit nicht erhalten ist, kann sie auch nicht mit späteren Analysen über das Denken Martin Luthers verglichen werden. Heinz R. Schmitz selbst sah keinen Widerspruch darin, eine Person als solche zu achten und gleichzeitig sachliche Kritik an ihrem Denken und Handeln zu üben. In weiterer Folge ergab es sich, dass seine Fachkenntnisse über Martin Luther in den Kreisen der Dominikaner in Toulouse sehr geschätzt wurden. Zum 450-jährigen Gedenken an die Reformation im Jahr 1967 gab es auch in Frankreich ein großes Interesse an Martin Luther und seinem Werk. Wenn damals im französischen Kulturkreis ein neues Buch über Luther erschien, so ersuchten die Redaktionen der theologischen Zeitschriften wie Revue Thomiste oder Nova et Vetera für gewöhnlich unseren Autor, eine Rezension für sie zu verfassen. Als er sich dann mit dem Werk Martin Heideggers zu beschäftigen begann, stieß er, wie berichtet, erneut auf die Thematik des Reformators, sodass er sich entschloss, seine bis dahin gewonnenen Erkenntnisse in der oben genannten Arbeit über Martin Luther zu verwerten.
Das, was Schmitz besonders hervorhebt, ist der philosophische Neuansatz Luthers mit seinen Auswirkungen auf die Theologie. Während ein Théobald Süss663 sich von dem philosophischen Denken Martin Luthers eine Erneuerung der Philosophie erhofft, vertritt Schmitz genau die gegenteilige Meinung: Diese Erneueru...