„Jeder Tag ein kleiner Tod” – „Chaque jour un petit mort”
Das Leben in einer Gemeinschaftsunterkunft bringt viele Herausforderungen mit sich. Viele macht es auf Dauer krank, Andere zerbrechen am Warten, an der lang anhaltenden Ungewissheit bezüglich ihres Asylverfahrens und der damit verbundenen Angst. Sr. Juliana Seelmann OSF
Das sogenannte „Würzburger Modell“, die medizinische Versorgung von Asylbewerber/innen in der Gemeinschaftsunterkunft (GU) in Würzburg, ist etwas Einmaliges in Bayern. Dieses Modell ermöglicht es einem Team aus Krankenschwestern, Ärzt/innen, Student/innen und Anderen unter der Leitung von Prof. Dr. August Stich, Chefarzt der Tropenmedizin des Klinikums Würzburg Mitte, Standort Missionsärztliche Klinik in Würzburg und Vorsitzender des Missionsärztlichen Institutes, Asylbewerber/innen medizinisch zu versorgen.
Seit sieben Jahren arbeite ich als Franziskanerin und Krankenschwester in der ehemaligen Kaserne am Stadtrand, obwohl es anfangs nur als dreimonatiges Praktikum gedacht war. Einige Mitschwestern machten bereits seit den 90er Jahren Besuche in der Gemeinschaftsunterkunft, engagierten sich in der Teestube oder im Spieletreff, waren Ansprechpartnerinnen und Fürsprecherinnen, einfach da, mit auf dem Weg.
Eine Aussage aus dem Sendungsauftrag unserer Kongregation der Oberzeller Franziskanerinnen lautet: „Wir lassen uns von der Lebenswirklichkeit der Menschen berühren“. Die Lebenswirklichkeit der Menschen auf der Flucht, die einen Ort der Sicherheit und eine neue Heimat suchen, hat mich in meinem Praktikum so sehr berührt, dass ich geblieben bin.
Auch Franziskus von Assisi ließ sich von der Lebenswirklichkeit der Menschen seiner Zeit berühren. Er hatte keine Berührungsangst, sondern ging auf den Aussätzigen zu und umarmte ihn. Menschen auf der Flucht haben Vieles hinter sich. In Europa erleben sie Ressentiments und Ängste aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe oder ihres Glaubens. Sie werden abgelehnt, zurückgewiesen und zwischen verschiedenen europäischen Staaten hin- und hergeschoben.
„ICH KANN NUR NOCH BEI LICHT SCHLAFEN.”
Von meinem Schlafzimmerfenster aus sehe ich meinen Arbeitsplatz. Oft blicke ich am Abend auf die bis tief in die Nacht hinein erleuchteten Fenster. „Ich kann nur noch bei Licht schlafen“, berichtete mir eine junge Äthiopierin. Ohne Licht habe sie ständig das Gefühl, es könne jemand im Raum sein, sich ihr nähern, wie sie es auf der Flucht – insbesondere im Gefängnis in Libyen – erlebt hat. Diese Erfahrung teilt sie mit anderen Geflüchteten, die in ihrer Heimat und auf der Flucht durch andere Länder Traumatisches durchgemacht haben. Montags bis freitags bieten wir in der medizinischen Sprechstunde Raum für physische und psychische Krankheiten, für Sorgen aller Art. Bestimmte Symptome können wir mit Medikamenten, Operationen, Therapien behandeln. Vieles können wir nur mit aushalten. Kaum aushaltbar sind Situationen, die sich ungerecht anfühlen oder ungerecht sind.
Ordensschwester der Dienerinnen der heiligen Kindheit Jesu OSF (= Oberzeller Franziskanerinnen), Krankenschwester in einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber/innen.
„ABER WIESO GLAUBEN SIE MIR DENN NICHT?”
Menschen auf der Flucht sind manchmal Monate oder Jahre unterwegs und haben auf dieser Wegstrecke Traumatisches erlebt. Solche Erlebnisse prägen sich tief in die Seele ein. Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden häufig unter wiederkehrenden Erinnerungen (sog. Flashbacks). Sie haben Schlafstörungen, Alpträume oder Ängste. Auf der einen Seite kehren diese Erinnerungen ständig wieder, auf der anderen Seite vermeiden Menschen es, sich in Situationen zu begeben, die sie an die traumatische Situation erinnern. Ein Kennzeichen für eine Belastungsstörung ist eine teilweise oder vollständige Unfähigkeit, sich an einige wichtige Aspekte des belastenden Erlebnisses zu erinnern. Je nachdem, wie resilient und widerstandsfähig sie sind, können sie die Erlebnisse gut verarbeiten.
Im Interview mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) müssen Geflüchtete möglichst genau und ausführlich schildern, was passiert ist. Ablehnende Bescheide des BAMF werden oft damit begründet, dass die Darstellung im Asylantrag nicht konkret und detailreich genug gewesen sei.
Eine knapp 20 Jahre junge Frau kann und will sich nicht erinnern an all die schrecklichen Erlebnisse, die ihr widerfahren sind. Deshalb hat sie beim Interview wenig ausführlich und anschaulich berichtet. Sie wusste zwar, wie wichtig ihre Aussage ist, aber sie schaffte es in vielen Punkten nicht, sich einem fremden Menschen gegenüber zu öffnen. Trotz der beigelegten ärztlichen Atteste, die den Verdacht einer PTBS nahelegten, wurde ihr Antrag mit der Bemerkung „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt. „Aber wieso glauben sie mir denn nicht?“, fragte sie mich oft. Irgendwann schlug diese Frage in Trotz um: „Dann geh‘ ich halt zurück, wenn die in Deutschland mich hier nicht wollen.“ Und das, obwohl es kein Zurück für diese junge und intelligente Frau gibt. Keine Heimat – nirgends. Nach drei Jahren des Wartens auf eine Antwort hat sich neben Unverständnis, Trotz und Ärger auch Lethargie in ihr breitgemacht.
„ICH MÖCHTE WIEDER ARBEITEN – EINFACH LEBEN.”
Kürzlich traf ich bei einem Hausbesuch einen syrischen Mann, der mit einer Kaffeetasse in der Hand vor dem Familienhaus saß, in dem er schon seit rund zwei Jahren mit seiner Frau und zwei Kindern lebt. Ich setzte mich zu ihm, um mich zu erkundigen, wie es ihm geht. „Jeder Tag ist wie ein kleiner Tod“, schildert er, da er schon so lange in der Gemeinschaftsunterkunft lebt, wartend und bangend, wann es endlich weitergeht. Andere Geflüchtete aus Syrien sind längst ausgezogen, machen Integrationskurse. Sein Asylverfahren zieht sich in die Länge, weil sein Sprachtest nicht eindeutig ist. Grund mag sein, dass er schon als Kind mit seinen Eltern seine Heimat verlassen hat und erst als Erwachsener zurückkehrte. Seine Sprachentwicklung fand in einem anderen Land statt. „Ich möchte wieder arbeiten - einfach leben,“ sagte er.
Irgendwann hielt er das Warten nicht mehr aus und meldete sich bei der Rückkehrerberatung. Eine freiwillige Ausreise war nicht möglich, weil er keine Papiere hat und den Behörden unklar ist, woher er überhaupt kommt. Letztlich machte er sich mit seiner Familie auf dem gleichen Weg zu Fuß und per Anhalter auf den Rückweg nach Syrien. Dann machte ihm unser vernetztes europäisches System einen Strich durch die Rechnung. In einem anderen europäischen Land wurden sie kontrolliert und postwendend in das Ersteinreiseland zurückgeschickt - wie es das Gesetz vorsieht. Jeden Tag ein Stück von sich verlieren und sterben. So fühlt es sich für viele Asylsuchende an, abhängig von einem System, welches sie - genauso wenig wie ich - oft nicht verstehen. Immer wieder kommen Geflüchtete mit verzweifeltem Gesichtsausdruck und einem ablehnenden Bescheid vom Bundesamt in unsere medizinische Sprechstunde. „Dublin“, sagen sie resigniert und fragen, ob wir nicht „eine Kirche“ wüssten. Es hat sich unter Geflüchteten verbreitet, dass es Kirchenasyl gibt, auch wenn viele nicht wissen, was das bedeutet. In ihrer Verzweiflung würden sie alles tun, Hauptsache sie müssen nicht mehr zurück in das Ersteinreiseland. Obwohl es ein europäisches Land ist, heißt es nicht unbedingt, dass die Menschen dort gut behandelt wurden. „In Italien schlief ich jede Nacht mit Angst auf der Straße, meist hielt eine von uns Wache, ständig hatten wir Angst vor Männern“, berichtete eine Frau.
Ich höre viele solcher Geschichten von Menschen, die auf der Straße gelebt haben, die nichts oder wenig zu essen hatten, keine medizinische Hilfe erhielten - und das alles vor unseren Augen. Mir drängt sich das Bild auf, dass wir mit unserem Dublinsystem in Europa Menschen wie Päckchen verschicken. Niemand interessiert sich für den „Inhalt“, dass jemand verheiratet ist, Schlimmes in einem anderen EU-Land erlebt hat. Diese Sachverhalte werden nicht geprüft. Es geht nur um Dublin-Fälle. Ich finde es ein unmenschliches Hin- und Herschieben von Menschen, die nach langen Wegstrecken zur Ruhe kommen, eine Sprache lernen, arbeiten und sich einbringen wollen. Stattdessen schicken wir sie von A nach B. Damit verhindern wir Integration und Familienzusammenführungen.
Immer mehr Kirchen, Gemeinden und Klöster versuchen in begründeten Einzelfällen die Dublin-Rückführungen durch Kirchenasyle zu umgehen, aber der Bedarf übersteigt bei weitem die vorhandenen Plätze. Und was ist eigentlich ein „begründeter Ausnahmefall“? Ich wünsche niemandem, dass er oder sie nach Flucht vor Krieg oder Verfolgung noch eine Odyssee durch Europa erleben muss.
„DAS IST SO SCHLIMM, ICH KANN DIR DAS GAR NICHT ERZÄHLEN.”
Diesen Satz höre ich oft. Besonders Frauen waren in ihren Heimatländern und auf der Flucht Gewalt ausgesetzt. Schutzlos ausgeliefert, mussten sie Vieles ertragen und erdulden, um ihre Flucht fortzusetzen. Gerade von Libyen berichten Frauen Schreckliches. „Elf Monate war ich im Gefängnis eingesperrt. Du möchtest gar nicht wissen, was sie alles mit uns gemacht haben“, erzählte eine junge, schwer traumatisierte Frau aus der Elfenbeinküste. Dabei zeigte sie Narben auf ihren Unterarmen. Wiederholte Vergewaltigungen, eine daraus folgende Schwangerschaft und Misshandlungen haben sie körperlich und seelisch tief verwundet.
Von all dem wissen wir in Europa seit langem, es gibt Berichte von Ärzte ohne Grenzen, von Pro Asyl, Amnesty International. Selbst das Auswärtige Amt kritisierte die Lage in libyschen Flüchtlingslagern scharf. Dennoch versucht Europa, sich weiter abzuschotten. Im August letzten Jahres wurde Libyen mit Millionen Hilfsgeldern unterstützt, die Küstenwache besser ausgebildet, um Flüchtlinge in ein Land zurückzubringen, in dem sie schwersten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. Manchmal fühlt es sich ziemlich hilflos an, in diesem System zu arbeiten und das Leid der Menschen zu teilen. Sprachlos, entsetzt und geschockt machen mich politische Entwicklungen in unserem Land. Mögliche Veränderungen durch eine Neuauflage der Großen Koalition sind beängstigend. Permanent wird überlegt, wo Familiennachzug begrenzt oder Leistungen eingeschränkt werden können. Vorgesehen ist eine weitere Unterstützung der sogenannten „Türsteher-Länder“, um Migrationsströme zu begrenzen. Erfahrene Gewalt und Inhaftierung machen für viele Geflüchtete die Gemeinschaftsunterkunft zu einem Ort der Retraumatisierung. Obwohl sie nicht eingesperrt sind, löst diese Art der Unterbringung Erinnerungen aus. Das Zusammenleben ist aufgrund unterschiedlicher Ansichten, Gewohnheiten und Bedürfnisse konflikthaft. Es fehlt an Privatsphäre und Schutzraum.
Zukünftig sollen Asylbewerber/innen in Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen untergebracht werden, sog. „Anker-Zentren“. Berichte von schon bestehenden Lagern zeichnen ein düsteres Bild der Isolierung. Geflüchtete haben kaum bis keinen Zugang zu Rechtsberatung oder Rechtsanwälten, sie werden überwiegend mit Sachleistungen versorgt. Es gilt ein generelles Arbeitsverbot, und Kinder müssen eine „Lagerschule“ statt eine Regelschule besuchen. Diese Verschärfungen sind aus meiner Sicht nicht hinnehmbar.
„WIE BEI MARIA UND JOSEF: VERSCHLOSSENE TÜREN, NIEMAND HAT PLATZ.”
Wo bleibt der Blick auf das einzelne Schicksal der Geflüchteten? Es ist an der Zeit, endlich ein Einwanderungsgesetz zu schaffen, um legale Migrationswege zu ermöglichen. Das Dublinsystem darf nicht verschärft, sondern muss abgeschafft werden, um das sinnlose Hin- und Herschieben von Menschen zu beenden. Und am wichtigsten: Es sollte endlich der Blick auf die Menschen gerichtet werden, auf die, die an unsere europäische Tür klopfen und um Einlass und Schutz bitten. Ich werde nie den Satz vergessen, den ein junger Syrer mir einmal sagte: „Wie bei Maria und Josef: Verschlossene Türen, niemand hat Platz.“ Sind unsere Türen verschlossen oder offen?
Dresdner Erfahrungen
Warum Theologinnen und Theologen sich einmischen müssen
Vor mittlerweile zwei Jahren haben Theologen aus Dresden kritisiert, dass bei Veranstaltungen in kirchlichen Räumen menschenfeindliche Äußerungen unwidersprochen blieben. Unter der Überschrift „Neutral bleiben – keine Option für Christen“ forderten sie pastorale Mitarbeiter/innen in Sachsen auf, sich einzumischen und dafür Sorge zu tragen, dass Fremdenfeinde in Gesellschaft und Kirche nicht zu Wortführern werden. Monika Scheidler
Die Initiatoren des Offenen Briefes aus Dresden meinen, dass Christen nicht neutral bleiben dürfen, wo gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit geschürt wird. Zur Begründung erinnern die Dresdner Theologen an ein Wort von Werner Leich (Thüringer Landesbischof in den Jahren 1978 bis 1992) zur kritischen Differenzierung: „Kirche ist für alle da, aber nicht für alles.“ An diesen Aufruf zur Unterscheidung der Geister anknüpfend mahnen die Dresdner Kollegen: „Wo gegen Andere gehetzt wird, wo Menschen bedroht werden, dürfen wir Christen uns nicht auf eine scheinbar neutrale Position verschanzen und den Harmoniebedürfnissen innerhalb christlicher Gemeinden mehr Gewicht beimessen als der Einheit von Gottes- und Menschenliebe.“
UNTERSCHEIDUNG DER GEISTER FÖRDERN UND BEGEGNUNGSRÄUME GESTALTEN
Bei Gesprächen mit Pegida-Sympathisanten und Christen in der AfD lässt sich beobachten, dass „ihre emotionsgeladenen Äußerungen kaum kontrolliert sind von rationalem und prosozialem Denken, wenn sie Gerüchte, Katastrophenszenarien und Verschwörungstheorien verbreiten“ (Scheidler, 211; vgl. auch Prantl, 59). Wer sich um seelsorgerliche Gespräche mit Menschen bemüht, die zu fremdenfeindlichen und islamophoben Einstellungen neigen, kann in Phasen, in denen die Gesprächspartner zumindest eine gewisse innere Balance und Fähigkeit zur Selbstdistanzierung haben, auch ein Abwägen im Sinne der ignatianischen Unterscheidung der Geister (vgl. Scheidler) ermöglichen....