TEIL III:
Die überraschende Nähe
zwischen Christentum und Vegetarismus
(Urteilen)
1. Vegetarismus und Veganismus in der Geschichte
Im ersten Teil haben wir die gegenwärtigen gesellschaftlichen Trends im Blick auf Fleischverzehr und Fleischverzicht bzw. den Verzicht auf tierische Produkte insgesamt betrachtet. Sie fordern uns heraus, die eigentliche ethische und mitunter auch theologische Frage anzugehen : Wie verhält sich das Christentum zum Fleischkonsum? Ist eine vegetarische oder gar vegane Ernährung christliche Pflicht? Ist sie umgekehrt vielleicht verwerflich, weil sie als eine alternative Heilslehre missverstanden werden kann? Oder gibt es eine völlige ethische Neutralität des christlichen Glaubens gegenüber Fleischverzehr und Fleischverzicht?
Dieser Frage können wir uns in einem ersten Schritt durch den Blick in die Geistesgeschichte annähern:37 Welche philosophischen und theologischen Argumente wurden denn pro und contra Tiernutzung und Fleischverzehr vorgebracht? Wie haben jene, die sie vorbrachten, im Alltag gelebt? Und wie hat sich die Kirche dazu positioniert? Dabei müssen wir uns hier, wo es um einen geschichtlichen Rückblick geht, fast ausschließlich auf den Vegetarismus konzentrieren. Den Veganismus gibt es im abendländischen Kulturkreis wie erwähnt erst seit 70 Jahren. Einzig der Jainismus als zweieinhalb Jahrtausende alte
Religion, die wir aufmerksam analysieren werden, könnte in modernen Kategorien als vegan bezeichnet werden. Sein Ernährungsstil hat aber jenseits seiner eigenen Anhänger selbst in Indien nie Verbreitung gefunden.
Im Folgenden geschichtlichen Rückblick geht es nicht um enzyklopädische Vollständigkeit. Vielmehr sollen wesentliche Gruppen und Gestalten dargestellt werden, die zur Entwicklung und Verbreitung vegetarischen Gedankenguts beigetragen haben. Und da wir uns in ethischer Perspektive nach der christlichen Bewertung von Vegetarismus und Fleischkonsum fragen, gilt es v. a. die Gründe und Motive darzustellen, die VegetarierInnen in der Geschichte vorgebracht haben. Vorab soll aber ein kurzer Blick in die Prähistorie geworfen werden, die in Debatten über Fleischverzehr häufig eine Rolle spielt.
1.1 Menschwerdung durch Fleischnahrung in prähistorischer Zeit
War der Mensch ursprünglich ein Vegetarier? Gehört es womöglich zu seiner „Natur“, sich vegetarisch zu ernähren? Diese Frage bewegt seit der Antike viele vegetarisch lebende Menschen. Verschiedene Mythen stellen sich den Urzustand der Menschheit als einen Zustand vegetarischer Ernährung vor. So hat dieser Mythos in Griechenland seit Hesiod (geboren ca. 700 v. Chr.)38 und in Israel nach dem babylonischen Exil (587–540 v. Chr.) großen Anklang gefunden, nämlich in der ersten Schöpfungserzählung der Bibel (Gen 1,29 f). Doch muss man solche Mythen als das lesen, was sie sind, nämlich als Aussagen über Sinn und Ziel menschlichen Lebens, und nicht als prähistorische Reminiszenzen, die uns den tatsächlichen Hergang schildern. – Wie also war es wirklich? Heute besitzen wir Möglichkeiten zu einer ehrlichen Antwort.
Nach allen verfügbaren Erkenntnissen evolvieren die sogenannten Australopithekinen vor etwa 2,5 Mio. Jahren in zwei unterschiedlichen Typen : 39 Die robusteren Australopithekinen mit starken Backenzähnen essen in der Savanne des südlichen Afrika hartfaserige Pflanzen – sie sterben bei einer Klimaveränderung vor rund 1 Mio. Jahren aus. Die grazileren Australopithecinen essen auf der Grundlage eines differenzierten Werkzeuggebrauchs alles – auch Fleisch. Aus ihnen entwickelt sich vor etwa
1,5 Mio. Jahren der homo erectus, der gezielt auf die Jagd geht. „Der Übergang zur Jagd ist … die entscheidende ökologische Veränderung zwischen den übrigen Primaten und den Menschen. Man kann den Menschen geradezu definieren als den ‚hunting ape‘ … Die Jägerzeit umfasst den weitaus größten Teil der Menschheitsgeschichte; die höchstens 10 000 Jahre seit der Erfindung des Ackerbaus fallen demgegenüber kaum ins Gewicht. Von hier aus ergibt sich eine Perspektive, die die erschreckende Gewalttätigkeit verstehen lässt aus dem Raubtierverhalten, das er bei seiner Menschwerdung angenommen hat.“40
Die Techniken der Jagd entwickeln sich dabei sehr allmählich:41 Seit etwa 300 000 Jahren machen die Menschen Jagd auf kleine Großtiere, die über steile Klippen gescheucht und gestürzt werden – durch alle Männer, Frauen und Kinder eines Clans gemeinsam. Diese Form der Jagd ist allerdings sehr ineffizient und nicht nachhaltig, da der Verlust an Tieren, die man nicht essen kann, bevor ihr Fleisch verdorben ist, hoch ist, weil man viel zu viele Tiere auf einmal getötet hat. Vor etwa 30 000 Jahren entwickelt man daher die Pirschjagd mit gezielter Jagdtechnik und speziellen Waffen, die nur durch die Männer durchgeführt wird.
Vor der Sesshaftwerdung schätzt man den Fleischkonsum des Menschen auf etwa ein Drittel der benötigten Kalorien und damit auf knapp 800 Gramm pro Tag.42 Mit der Sesshaftwerdung nach der letzten Eiszeit vor etwa 10 000 Jahren entwickelt der Mensch Ackerbau und Tierhaltung. Dieser Paradigmenwechsel zwingt ihn wie von selbst zu strikter Ressourceneffizienz, da er seine Nahrung nun selbst erarbeitet. Das reduziert den Fleischverzehr drastisch, weil es effizienter ist, pflanzliche Kalorien direkt zu essen als indirekt durch den Tiermagen hindurch.43
1.2 Der religiöse Veganismus und Vegetarismus in Indien
Für eine dauerhaft vegetarische Lebensweise gibt es Rahmenbedingungen, die in vorindustriellen Agrargesellschaften notwendig gegeben sein müssen: zum einen eine hoch entwickelte Ackerbaukultur mit einer Vielfalt angebauter Nutzpflanzen, zum anderen ein Klima, das keine langen und strengen Winter kennt. Nur so ist eine ganzjährige, gesunde Ernährung mit pflanzlichen Lebensmitteln denkbar. In polarnahen Gebieten können die Menschen nicht genügend Vorräte für den Winter erwirtschaften und bleiben daher zumindest in der kalten Jahreszeit auf Jagd und Fischfang angewiesen.
Beinahe zeitgleich dürfte der Vegetarismus in zwei Hochkulturen entstanden sein: In Indien führt ihn der Gründer des Jainismus, Mahavira (gestorben 527 v. Chr.), ein – ein strenger Asket, der das hinduistische Prinzip der Ahimsa (Gewaltlosigkeit) mit dem Gedanken der Seelenwanderung verknüpft. Weil im Jainismus auch gegen Tiere keine Gewalt angewandt werden darf, leben die Mitglieder dieser Religion, in Indien gegenwärtig etwa 5 Mio., streng vegan, denn sie verzichten auf sämtliche tierischen Produkte, auch auf Leder, Seide und andere Kleidungsstücke mit tierischen Bestandteilen. In vielen ihrer Praktiken gehen sie sogar darüber hinaus, denn auch das unabsichtliche Töten von Tieren wollen sie unter allen Umständen vermeiden. Deswegen tragen sie unterwegs einen Mundschutz, um nicht versehentlich eine Mücke zu verschlucken, ja vermeiden das Unterwegssein soweit als möglich. Nach Einbruch der Dunkelheit essen sie nicht mehr, da Insekten in die Speise fallen und sterben könnten. Gemüse wie Zwiebeln oder Rüben, die unter der Erde wachsen, verzehren sie überhaupt nicht, weil beim Herausziehen Lebewesen getötet werden könnten. Folgerichtig üben Jainas keine Berufe aus, die das zufällige oder absichtliche Töten von Tieren mit sich bringen wie die Landwirtschaft, viele Handwerksberufe oder der Bergbau. So steht ihnen ein relativ eingegrenztes Spektrum an Berufen zur Verfügung – die meisten von ihnen sind Händler oder Bankiers.
Es ist evident, dass eine so rigide Askese, wie sie der Jainismus fordert, nur von einer kleinen Minderheit gelebt werden kann. 0,5 % der InderInnen gehören dem Jainismus an – und das war von Anfang an so. Die Radikalität der Interpretation der Gewaltlosigkeit sorgt dafür, dass diese Religion nie eine Massenbewegung wurde. Aber das wollte sie vermutlich auch gar nicht. Denn mit ihrer Lebensweise setzt sie sich ausdrücklich vom Buddhismus ab.44 Ihr „Super-Veganismus“ ist ein Identitätsmerkmal gegenüber allen anderen in Indien beheimateten Religionen.
Der frühe Buddhismus ernährt sich nämlich nicht vegetarisch – nicht einmal die Mönche verzichten auf Fleisch. Im „mittleren Weg“ sieht man den Vegetarismus sogar als zu extrem an und bekämpft ihn. Schließlich habe der Gründer Gautama Siddharta ebenfalls Fleisch gegessen.45 Erst im 3. Jahrhundert v. Chr. behauptet ein sri-lankischer Text, Buddha sei Vegetarier gewesen.46 Alles in allem ist eine charakteristische Ambivalenz der buddhistischen Texte zu beobachten:47 Für den Buddhismus sind Tiere einerseits fühlende, leidensfähige Lebewesen wie der Mensch, haben aber andererseits weniger Erkenntnis als Menschen und gehören folglich einer niedrigeren Klasse von Lebewesen an, weshalb die Wiedergeburt eines Menschen in einem Tier als schwere Strafe gilt. Die buddhistischen Texte sehen alle Lebewesen in einer universalen Harmonie vereint. Ihre Tötung wäre eine Zerstörung dieser Harmonie. Und doch fallen die Strafen für Tierschädigung geringer aus als solche für Menschenschädigung. Hier bleiben fundamentale Spannungen offen. Insgesamt zeigt der Buddhismus zwar von Anfang an eine hohe Wertschätzung für das Tier, kennt aber keine Verpflichtung zum Vegetarismus. Bis heute bleibt es bei einer sehr unterschiedlichen Praxis in den einzelnen buddhistischen Ländern und Klöstern.48
1.3 Der philosophische Vegetarismus der Antike
Die zweite Hochkultur, die fast gleichzeitig mit Indien einen vegetarischen Lebensstil entwickelt, ist Griechenland. Dort gilt Pythagoras (ca. 570–490 v. Chr.) als „Stammvater des Vegetarismus in Europa“.49 Ob Pythagoras selbst vegetarisch lebt, ist umstritten – die überlieferten Aussagen widersprechen einander. Die in der Geschichtsforschung meistvertretene These besagt, dass Pythagoras von sich selbst und seinen engsten Jüngern den Vegetarismus verlangt, von seinem erweiterten Schülerkreis nicht.50 Als originäre Gründe für diese Lebensweise finden sich in seinen Schriften die beiden Gedanken, dass Tiere beseelte Wesen sind und dass die Seele von Tieren zu Menschen wandern kann und umgekehrt. In den Schriften seiner Schüler kommen drei weitere Argumente hinzu: Die vegetarische Ernährung diene der Reinheit der Seele und der Klarheit des Denkens; Fleischgenuss sei gesundheitsschädlich; die Barmherzigkeit und Milde gegenüber Tieren sei Ausdruck wahrer Humanität.51
In beiden Ursprungsgesellschaften in Indien und Griechenland ist der Vegetarismus keine rein private Entscheidung, die Menschen für sich treffen und im stillen Kämmerlein leben. Vielmehr wird über die alternative vegetarische Lebensweise eine von der Mehrheitsgesellschaft differierende Wertorientierung gelebt, die für diese sichtbar ist. Und gerade weil Essen und Trinken ein enormes verbindendes Potenzial aufweisen, wird das Sich-Absetzen von den geltenden Standards des Essens wie von selbst als Distanzierung und Provokation empfunden. Vegetarismus begründet die Lebensgestalt einer gesellschaftlichen Minderheit, die sich als Elite versteht.
Wie entwickelte sich der Vegetarismus im griechischrömischen Kulturkreis weiter? Platon (428–348 v. Chr.) unterhält eine enge Beziehung zu den Pythagoräern. Auch er vertritt die Lehre von der Seelenwanderung, auch er schließt die Tiere als beseelte Wesen in diese Lehre ein. Inspiriert von Hesiod ist Platon überzeugt von einer Urzeit, in der alle Menschen vegetarisch lebten.52 Damals sei der
Staat ein vegetarisch lebendes Gemeinwesen gewesen, dann aber degeneriert.53 Trotz dieser erkennbaren Präferenz für den Vegetarismus erhebt Platon aber keine explizite, für alle verbindliche ethische Forderung. Dennoch ist seine Sympathie für den vegetarischen Lebensstil später eine fruchtbare Quelle für die Neuplatoniker, die konsequent vegetarisch leben.54
Gegen die pythagoräische und platonische Präferenz des Vegetarismus erheben sich schon bald prominente Gegenstimmen : Herakleides von Pontos (390–322 v. Chr.), ursprünglich ein Schüler Platons, wird ein dezidierter Antivegetarier. Seine Argumente sind uns durch Porphyrios bekannt:55 Wenn man keine Tiere essen dürfe, dann auch keine Pflanzen – sie sind ebenfalls beseelt; wenn man kein Fleisch essen dürfe, dann auch nicht Milch, Honig und Eier – auch deren Verzehr beraube die Tiere. Der Ovo-Lacto-Vegetarismus ist für Herakleides also inkonsequent. Darüber hinaus bietet er zwei Argumente, die seines Erachtens stark für den Fleischverzehr sprechen : Einerseits würden sich die Tiere ohne ihre Tötung durch den Menschen zu stark vermehren, und andererseits sei eine frühe Tötung gut für die Tiere, weil ihre Seelen dann schneller wieder in einen Menschen gelangen, und das sei ja besser.56 Man merkt schon: Herakleides glaubt weder an die Seelenwanderung noch an eine Tierseele, nimmt aber fiktiv an, es wäre so, um die vegetarischen Philosophen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.
Zum stärksten Gegner vegetarischen Lebens entwickelt sich die Stoa, die strikt anthropozentrisch denkt: Der Mensch ist den Göttern verwandt und besitzt die Vernunft. Damit ist er den Tieren weit überlegen. Hier greift die Stoa alte griechische Ideen auf, aus denen die
Bezeichnung der Tiere als vernunftlose Wesen entsteht, spitzt diese These aber massiv zu: Tiere haben weder Vernunft noch Gefühle – sie können sich nur „gewissermaßen“ freuen, erinnern, zürnen. Im Sinne der stoischen Teleologie ist damit klar: Tiere sind nur (!) zum Wohl des Menschen erschaffen57 und daher mit Eigenschaften begabt, die für den Menschen besonders hi...