
- 279 Seiten
- German
- ePUB (handyfreundlich)
- Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub
Über dieses Buch
"Was, um Gottes Willen, mache ich hier?", fragte sich Kriminalhauptkommissar Bernd Kellert. Er rutschte auf der harten Holzbank hin und her, fand aber keine bequemere Sitzhaltung. Noch mehr als Orgelkonzerte hasste Kellert das, was anschließend auf ihn wartete: der 'kleine Emp-fang', wie es auf der Einladungskarte angekündigt worden war.Doch dazu kommt es nicht mehr, denn schon bald ist Kellerts kriminalistische Kompetenz ge-fragt, als in der Domorgel eine Leiche gefunden wird. Und obwohl ihn seine Fälle schon öfter in kirchliche Kreise geführt haben, wartet diesmal eine besondere Überraschung auf ihn...
Häufig gestellte Fragen
Ja, du kannst dein Abo jederzeit über den Tab Abo in deinen Kontoeinstellungen auf der Perlego-Website kündigen. Dein Abo bleibt bis zum Ende deines aktuellen Abrechnungszeitraums aktiv. Erfahre, wie du dein Abo kündigen kannst.
Derzeit stehen all unsere auf mobile Endgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Perlego bietet zwei Pläne an: Elementar and Erweitert
- Elementar ist ideal für Lernende und Interessierte, die gerne eine Vielzahl von Themen erkunden. Greife auf die Elementar-Bibliothek mit über 800.000 professionellen Titeln und Bestsellern aus den Bereichen Wirtschaft, Persönlichkeitsentwicklung und Geisteswissenschaften zu. Mit unbegrenzter Lesezeit und Standard-Vorlesefunktion.
- Erweitert: Perfekt für Fortgeschrittene Studenten und Akademiker, die uneingeschränkten Zugriff benötigen. Schalte über 1,4 Mio. Bücher in Hunderten von Fachgebieten frei. Der Erweitert-Plan enthält außerdem fortgeschrittene Funktionen wie Premium Read Aloud und Research Assistant.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja! Du kannst die Perlego-App sowohl auf iOS- als auch auf Android-Geräten verwenden, um jederzeit und überall zu lesen – sogar offline. Perfekt für den Weg zur Arbeit oder wenn du unterwegs bist.
Bitte beachte, dass wir keine Geräte unterstützen können, die mit iOS 13 oder Android 7 oder früheren Versionen laufen. Lerne mehr über die Nutzung der App.
Bitte beachte, dass wir keine Geräte unterstützen können, die mit iOS 13 oder Android 7 oder früheren Versionen laufen. Lerne mehr über die Nutzung der App.
Ja, du hast Zugang zu Tote Archivarin - Gute Archivarin von Georg Langenhorst im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Literature & Crime & Mystery Literature. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.
Information
1.
‚Was, um Gottes Willen, mache ich hier?‘, fragte sich Kriminalhauptkommissar Bernd Kellert. Er rutschte auf der harten Holzbank hin und her, fand aber keine bequemere Sitzhaltung. Unauffällig wanderte sein Blick zur Armbanduhr, die er vorsichtig aus dem linken Ärmel seines frisch gebügelten Hemdes so zu sich drehte, dass seine Frau Beate, die rechts von ihm saß, davon nichts mitbekam. Hoffte er zumindest. ‚Erst zwanzig Minuten vorbei!‘, stellte er mit Schrecken fest.
Sie saßen in der vierten Reihe des Doms von Friedensberg, umtost von den mächtigen Klängen der berühmten Friedensberger Barock-Orgel. Weltweit eine der größten ihrer Art. Mit unvergleichlicher Tonfülle, behaupteten die Experten. Beate hatte es ihm extra aus einer Broschüre vorgelesen. Um ihm die Auszeichnung klarzumachen, als Ehrengäste zu diesem Konzert eingeladen zu sein. Der Ehre war er sich natürlich bewusst. Aber er hasste nun einmal Orgelmusik. Dieses aufdringliche Gepfeife und Gedröhne. Sein Musikgeschmack war von der Rockmusik der 60er und 70er Jahre geprägt. Des vergangenen Jahrhunderts. Hart, rhythmisch, grell, wild. Damit war er groß geworden. Die liebte er bis heute.
Seine Frau hingegen bevorzugte eindeutig die Kirchenmusik. Gerade hier, im Dom. Ihr zuliebe war er mitgekommen, natürlich. Aber allein das war es nicht, was ihn dazu getrieben hatte, sich dieser Tortur – so empfand er es – auszusetzen. Es war eine Einladung. Von Professor Elmar Maria Brandtstätter, Pastoraltheologe an der hiesigen Katholisch-Theologischen Fakultät. Immer mal wieder hatten sich ihre Wege gekreuzt, oft genug im Zusammenhang mit Mordfällen, die Bernd Kellert aufzuklären hatte. Und sie waren sich sympathisch, der Kommissar und der Professor.
Nun war Brandtstätter sechzig Jahre alt geworden und hatte sich zu seinem Geburtstag weder eine Festschrift oder ein Symposion noch ein Festbankett gewünscht – andere Kollegen begingen so dieses ehrenhafte Jubiläum –, sondern ein Orgelkonzert im Dom. Und hatte ihn, Bernd Kellert, dazu eingeladen. Und seine Frau, natürlich. Beate war sofort hellauf begeistert gewesen. Und ihm war nichts anderes übriggeblieben als zuzusagen.
Und so saß er hier an einem lauen Montagabend im Juni kurz vor sieben: nicht weit entfernt vom Bischof, von den anderen Lehrenden der Fakultät, von erstaunlich zahlreich erschienenen Priestern, von Lokalpolitikern und von allerlei Honoratioren des kirchlich-bürgerlichen Establishments der feinen Friedensberger Gesellschaft. Einige wenige von ihnen kannte er persönlich, andere wenigstens vom Sehen oder aus der Zeitung.
Beate war in Hochstimmung, das merkte er ihr an. Mitten unter all diesen so wichtigen und angesehenen Leuten zu sein, der Musik zu lauschen, ihn an ihrer Seite zu wissen: Das war für sie ein Höhepunkt dieses Jahres. Also machte ihr Mann gute Miene zum – für ihn – bösen Spiel. Streckte sein Kreuz durch, verdrängte die unangenehm harte Berührung mit der hölzernen Rückwand der Kirchenbank, umspielte mit den Füßen die Kniebänke auf der letztendlich vergeblichen Suche nach einer bequemen Abstellfläche, versuchte sich auf die Tonflut zu konzentrieren und ließ die Gedanken kommen und gehen. Wenn nur diese Musik nicht wäre! Diese!
Wieder ein verstohlener Blick zur Armbanduhr: nur fünf Minuten vergangen! Wenn du Momente genießt, vergeht die Zeit wie im Flug. Und manchmal zieht sie sich bleiern in die Länge. So ist das wirklich! Beate bemerkte seinen Blick auf die Uhr, schüttelte kaum merklich den Kopf und lächelte demonstrativ in andächtiger Versunkenheit vor sich hin.
Links von Bernd Kellert saß Karsten Kaiser, Organist aus ihrer Wohngemeinde Polzingen. Auch ihm war die Ehre einer Einladung zugekommen. Nun lächelte Kaiser leicht süffisant vor sich hin, denn die Gefühlslage des Kommissars war ihm nicht entgangen. Aber dann ließ auch er sich vom Fluss der Tonwirbel mitreißen und vergaß augenscheinlich, wo er sich gerade befand.
Brandtstätter war es gelungen, einen Organisten von internationalem Ruf nach Friedensberg zu locken: Mathieu Gentreville. „Der spielt normalerweise in Paris oder Mailand, stell dir das vor!“, hatte ihm Beate begeistert vorgeschwärmt. „Und jetzt bei uns in Friedensberg!“ Leider hatte diese ‚Koryphäe‘ – seine Frau hatte ihm das Wort Silbe für Silbe vorgesprochen – ein Programm ausgewählt, welches das Zuhören noch zusätzlich erschwerte. ‚Ist das jetzt modern, oder was?‘, fragte sich Kellert, während er die für seine Ohren unharmonischen Läufe, querklingenden Überlappungen und lärmenden Improvisationen über sich ergehen ließ.
Noch mehr als Orgelkonzerte hasste Kellert das, was anschließend auf ihn wartete: der ‚kleine Empfang‘, wie es auf der Einladungskarte angekündigt worden war. Das hieß ‚Smalltalk‘: Herumstehen mit einem Glas in der Hand; gezwungene Gespräche hier und da; verzweifelte Suche nach Menschen, die einen ansprachen; genaues Überlegen, wann und wie man sich wieder verabschieden und weiterziehen konnte. Und all das war ihm, der in seinem Beruf ständig reden musste, zuwider.
Hier erwies es sich als eine unschätzbare Erleichterung, Beate an seiner Seite zu wissen. Sie beherrschte das Spiel perfekt: lächelte, grüßte, zog ihn mit, gab ihm die richtigen Stichworte und Einsätze, führte ihn sicher durch das für ihn so ungeliebte Terrain. Sie wusste, dass er innerlich nur auf den richtigen Zeitpunkt wartete, um sich verabschieden zu dürfen, ohne dass es unhöflich wäre. Auch in dieser Hinsicht hatte sie ein perfektes Gespür für das richtige Timing. Für ihr eigenes, für seines, für das des jeweiligen Anlasses. ‚Doch, verheiratet zu sein, hat durchaus seine Vorteile!‘, ging es Kellert durch den Kopf, während sich der Schlussakkord im weiten Raum des riesigen Kirchenschiffes in zahllosen, immer leiser werdenden Echoschleifen verlor, bevor ein erst zögerlicher, dann tosender Applaus das Kirchenschiff füllte.
‚Auf zum zweiten Teil des Abends!‘, sprach er sich Mut zu und setzte sein professionelles Mir-geht-es-gut-Lächeln auf. Doch es sollte anders kommen, als er es zugleich erwartet wie auch befürchtet hatte. Kaum, dass sie sich aus der Kirchenbank herausgeschält hatten, um der Karawane der geladenen Gäste in ein Nebenhaus zu folgen, drängte sich ein Mann in dunklem Anzug – ‚hallo, den haben hier alle an!‘, ermahnte sich Kellert zu genauerer Beobachtung – von hinten an ihn heran, und raunte ihm etwas zu.
Noch halb betäubt von der Orgel verstand Kellert erst nicht, was der Mann ihm zuraunte. Aber dann erkannte er den korpulenten, glatzköpfigen Mann an seiner Seite. Wie hieß der gleich wieder? Dr. Franz Joseph Breskamp, fiel es ihm ein. Auf sein gutes Personengedächtnis war immer noch Verlass. Prälat, Leiter irgendeiner bischöflichen Einrichtung. Auch ihm war er zwei-, dreimal bei seinen Ermittlungen begegnet. Eher unangenehme Erinnerungen. Der Mann war ihm von Grund auf unsympathisch, das wusste er noch genau. Selbst wenn er vergessen hatte, warum eigentlich.
„Herr Kommissar!?“, flüsterte ihm dieser Breskamp ins Ohr. Der zugleich gehetzte wie fragende Ton verhieß nichts Gutes. Beate schaute verunsichert und neugierig auf den ihr unbekannten Sechzigjährigen mit Priesterkragen. Was wollte der von ihrem Mann? Bernd Kellert war nicht weniger überrascht. „Ja?“, gab er rasch, knapp und leise zurück. „Kommen Sie, bitte! Wir brauchen Ihre Hilfe!“ ‚Wir‘, das klang schon einmal schlecht. Man hatte Breskamp zu ihm geschickt. ‚Man‘. Wer immer. Warum immer. Mimik und Tonfall des Priesters ließen keinen Zweifel an der Dringlichkeit seines Anliegens.
Kellert, vor Kurzem fünfundfünfzig geworden und mit mehr als vierunddreißig Dienstjahren auf dem Buckel, wusste, wann es ernst war. Und irgendwo im Hinterkopf loderte die überaus reizvolle Perspektive auf, unverhofft um den ungeliebten Empfang herumkommen zu können. „Beate, entschuldigst Du mich bitte für einen Moment?“, wandte er sich an seine Frau, ohne große Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Sie schaute ihn aus großen Augen unverständig an, schüttelte kaum merklich fragend den Kopf. Aber sie kannte ihren Ehemann gut genug, um die Situation richtig einzuschätzen. „Ach, Herr Kaiser“, wandte sich Kellert an den Organisten ihrer Heimatgemeinde, der direkt hinter ihm aus der Bank getreten war. „Wären Sie eventuell so freundlich, meine Frau zu dem Empfang zu begleiten? Ich komme gleich nach.“
Karsten Kaiser, der Beate Kellert gut kannte, da sie oft seinen eigenen, weitaus bescheideneren Konzerten in der kleinen Kirche von Polzingen lauschte, zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe, zuckte mit den Achseln und antwortete umgehend: „Aber nichts lieber als das!“ Er wies der elegant gekleideten Frau mit der linken, ausgestreckten Hand den Weg. Sie stutzte einen Moment lang, nickte ihm dann freundlich wortlos zu, und schloss sich dem von ihm angedeuteten Zug der Ehrengäste an. Mit einem kurzen, besorgten Blick drehte sie sich noch einmal um, um ihrem Mann hinterherzuschauen. Der folgte mit gezügelten, aber raschen Schritten dem Prälaten in den nur wenig beleuchteten hinteren Teil des Doms.
2.
„Was gibt es denn?“, fragte Kellert den ihm voran hastenden, vor Anstrengung leise keuchenden Priester. „Sehen Sie selbst!“, gab dieser knapp zurück. Dr. Breskamp führte den Kommissar zu der gewundenen Steintreppe rechts von dem großen, eigentlich immer geschlossenen Portal des Doms. Das schmiedeeiserne Trenngitter, das normalerweise den Zugang nach oben versperrte, war geöffnet. Der Prälat griff zu dem linksseitig angebrachten Geländer und zog sich von Stufe zu Stufe. Kellert folgte, ohne den Handlauf zu berühren.
Noch nie war der Kommissar hier oben auf der Orgelempore gewesen. Warum auch? Außerdem war der Zugang ja stets versperrt. Kellert war in Friedensberg aufgewachsen, und als Schüler hatten sie einmal im Rahmen des Religionsunterrichts eine Domführung unternommen. Aber hinauf zur Orgel hatte sie ihr Weg nicht geführt, da war er sich sicher. Der riesige Spieltisch mit den Manualen war hell erleuchtet. Ein Spiegel blitzte hinunter in das Kirchenschiff. Zwei Männer standen dort, in ein aufgeregtes Gespräch vertieft. Sie verstummten sofort, als sie die Neuankömmlinge bemerkten.
„Mathieu Gentreville, der ehrenwerte Künstler dieses Abends“, stellte ihm Breskamp den einen vor, den anderen als „Zinngruber, Prälat Johannes Zinngruber: der Domvikar, also der Bistumsbeauftragte für den Dom!“ Die Männer reichten sich mit knappem Druck die Hände. Johannes Zinngruber – auch er mit Priesterkragen, aber hager, hochgewachsen, asketisch wirkend – hatte die Lippen fest zusammengekniffen, sagte kein Wort, blinzelte ihm nur ernst zu. Und der weltberühmte Organist, dem Kellert die für ihn tatsächlich unvergesslichen, vierundachtzig einzeln abgezählten Minuten zu verdanken hatte, blickte mit wirren Augen durch den Raum, ohne sich auf einen Gegenstand oder eine der Personen fixieren zu können.
„Folgen Sie mir bitte!“, wandte sich Breskamp ohne große Umschweife an den Kommissar. Der Organist blieb zurück, sank auf die Sitzbank vor dem Spieltisch, während sich der Domvikar den vor ihm hergehenden Männern anschloss. Wie eine Burgmauer ragten die riesigen, metallenen, matt glänzenden Orgelpfeifen steil vor ihnen in die Höhe. Acht bis zehn Meter, schätzte Kellert mit schnellem Blick. Dicht an dicht. Die Empore gab davor nur einen schmalen Gang frei, auf dem man nur dann Raum fand, wenn man sich mit dem Gesicht zur Orgel oder in das Kirchenschiff nebeneinander gruppierte.
Aber dieser Gang führte bis zur Ecke des Orgelbaus und bog dann nach rechts ab. Kellert staunte, wie viel Platz dieses Instrument einnahm. Es mochte alles in allem an die fünfzehn Meter breit sein, und – wie er erst jetzt erkennen konnte – vielleicht acht Meter tief. Diese Ausmaße konnte man von unten, aus dem Kirchenschiff, bestenfalls erahnen.
Noch mehr staunte Kellert allerdings, als Breskamp auf eine kleine dreistufige Metallkonstruktion zuging, die zu einer schmalen, geöffneten Tür führte. Einer Tür hinein in die Orgel! „Vorsicht, Kopf einziehen!“, warnte der Vorangehende. Stimmt, für einen Mann wie Kellert mit etwas über eins achtzig Größe war der Durchgang zu niedrig. Und allzu breit durfte man auch nicht sein. Breskamp, einen halben Kopf kleiner als der Kommissar, dafür aber breithüftig und mit fülliger Bauchrundung, bewegte sich mit Mühe. Kellert, der im letzten Jahr fast fünf Kilo zugenommen hatte, ermahnte sich seinerseits kurz: ‚Junge, du musst wirklich abnehmen!‘ Aber er passte durchaus in den sich ihm nun öffnenden Raum.
Erstaunt blickte er sich um. Er befand sich in einer Welt, für die er noch keinerlei Vergleichsbilder abrufen konnte. Es roch intensiv nach Holz. Behandeltem, lackiertem Holz. ‚Ikea‘, dachte er unwillkürlich. Hinzu mischte sich ein metallischer Duft und etwas, das ihn an ‚Staub‘ denken ließ. Aber hatte Staub überhaupt einen Geruch? Erhellt wurde das Innere der Orgel von matten Glühbirnen, deren Verdrahtung sich wie ein Adernetz über die hölzernen Wände zog. Manche Winkel blieben unausgeleuchtet, andere waren gut erkennbar.
Vor ihm: ein enger, niedriger Gang, wie durch eine Tropfsteinhöhle. Aber hier tropfte nichts, hier war es trocken. Staubtrocken. Er räusperte sich. Rechts und links: eng aneinander geschmiegte Metallröhren, tausende. Manche dick wie mittlere Buchenstämme, andere dünn wie feine Äste. Außen, auf der von ihm abgewandten Seite, riesige Ungetüme, die sich in die Höhe verloren, das Ende nicht sichtbar. Innen, direkt zu berühren, Pfeifen, klein wie Streichhölzer, aber auch andere, deren Höhe bis zu seiner Körpergröße reichten. Nach einem für ihn nicht erkennbaren System. Ein wahnwitziger Irrgarten. Wie eine metallene Baumschule. Voller seltsamer, sich nach oben hin verjüngenden, mit jeweils einem feinen Schlitz versehenen Sprossen. Das Ganze war so groß wie ein Einfamilienhaus. Mit mehreren Etagen.
Kellert war nur kurz stehengeblieben, um sich zu orientieren, aber sein ungeduldiger Wegführer blickte wiederholt zurück und mahnte ihn so wortlos zur Eile. Eine Stiege führte nach unten, in ein anderes ‚Geschoss‘, eine Spur führte weiter geradeaus, aber Breskamp kletterte schwer atmend und rechts wie links an den Rändern schabend eine steile, schmale Holzleiter hoch, die sich nach rechts wandte. ‚Wie auf einem Hochsitz‘, dachte Kellert, ‚aber schmaler. Wie eng mag das sein?‘, überlegte er. ‚Sechzig, siebzig Zentimeter? Mehr jedenfalls nicht.‘ Seine Hüften streiften die hölzernen Wände des Aufstiegs, der sich drei Meter emporreckte.
‚Gott sei Dank habe ich keine Platzangst!‘, sagte er zu sich selbst. Und schmunzelte. Der Gedanke sollte ihn beruhigen, merkte er. Aber er kam gar nicht dazu, lange über diesen seltsamen Ort nachzudenken. Oben befand sich wieder eine kleine, enge Plattform, auf der Breskamp, den Priesterkragen lockernd und mühsam nach Luft schnappend, bereits auf ihn wartete. Doch, es gab Luft hier drinnen, aber die war unbewegt, schwer, irgendwie bleiern.
„Und?“, fragte Kellert, während er registrierte, dass Prälat Zinngruber in der Hauptetage der Orgel zurückgeblieben war. Seinen hochaufgeschossenen, hageren Körper musste er nach vorn bücken. Von dieser Haltung aus spähte er etwas linkisch zu ihnen hinauf. Für einen dritten Erwachsenen wäre hier oben aber tatsächlich auch kaum noch Platz gewesen.
Kellert witterte den säuerlichen Duft des schwitzenden Prälaten, der sich mit dessen süßlichem Rasierwasser zu einem unangenehmen Gemisch vermengte. Zurückweichen konnte er nicht. Den intuitiven Abstand, den man wann immer möglich zu anderen hielt, konnte man hier vergessen.
Nach außen fiel der Blick auf die obersten Teile der großen Orgelpfeifen, nach innen herrschte schwer durchdringliches Dämmerlicht. Langsam gewöhnten sich die Augen an die Sichtbedingungen. Nun erkannte Kellert: In den nach hinten weiter in die Tiefe führenden Raum war eine Sperrholzwand, so schien es ihm, eingezogen. Und darin befand sich, kaum wahrnehmbar, eine Tür. Mit Griff und Schloss. Wortlos wies Dr. Breskamp auf diese Tür, zog einen kleinen, unauffälligen Schlüssel aus der Westentasche seines Jacketts, und schloss auf.
Das Türschloss klemmte, Breskamp musste den Schlüssel mehrfach ansetzen und mit i...
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Halbtitel
- Titel
- Impressum
- Inhalt
- Folgende Personen treten auf
- Kapitel 1.
- Kapitel 2.
- Kapitel 3.
- Kapitel 4.
- Kapitel 5.
- Kapitel 6.
- Kapitel 7.
- Kapitel 8.
- Kapitel 9.
- Kapitel 10.
- Kapitel 11.
- Kapitel 12.
- Kapitel 13.
- Kapitel 14.
- Kapitel 15.
- Kapitel 16.
- Kapitel 17.
- Kapitel 18.
- Kapitel 19.
- Kapitel 20.
- Kapitel 21.
- Kapitel 22.
- Kapitel 23.
- Kapitel 24.
- Kapitel 24.
- Kapitel 25.
- Kapitel 26.
- Kapitel 27.
- Kapitel 28.