Bruno Régent SJ | Paris
geb. 1947, Präsident der „Société des revues“ (SER), Regionalassistent der „Communauté de Vie chrétienne“
Im Licht der Genesis*
Mein Leben neu betrachten
Das Lied über den Ursprung, das die Bibel eröffnet (Gen 1), erzählt von der Schöpfung. Es kann auch als Erzählung über die Schöpfung des geistlichen Lebens im Menschen gelesen werden.1
Am Anfang (Tag 0)
Ohne Betrachtung bleibt die menschliche Existenz in der Gleichgültigkeit, in Grautönen hängen, wie in einem wüsten und wirren Raum, wo der Geist Gottes schwebt und nicht weiß, wo er sich niederlassen kann.
Noch vor dem ersten Lebenstag gibt es bereits eine grundlegende Vorgabe, die wir akzeptieren müssen: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst…“. Ein geistliches Leben zu beginnen setzt voraus, keine Angst zu haben vor der inneren Leere – dieser Offenheit, wo ein Wort nachhallen kann – und an Jemanden oder Etwas Ursprüngliches zu glauben, das uns vorausgeht und das Leben hervorbringt. Anzunehmen, dass „Gott schuf“, bedeutet zugleich zu verstehen, dass die Schöpfung – und insbesondere der Mensch – für etwas geschaffen sind. Darin spielt schon eine Anthropologie mit, ein Blick auf sich selbst, auf sein Leben und auf die Welt: Trage ich die Sehnsucht, still zu werden und mich dem zu öffnen, der mich ins Leben ruft? Oder strebe ich danach, mir eine Identität zu erfinden?
– Ich übe, fünf Minuten still zu werden und den Lauf meiner Gedanken anzuhalten.
– In Anlehnung an die Stammbäume Jesu in den Evangelien nach Matthäus und Lukas denke ich an meine Vorfahren zurück. Ich erkenne das weitergegebene Leben, das schließlich bei mir ankommt.
Licht (Tag 1)
Der erste Schritt ist das Erkennen von Licht und Finsternis sowie ihre Benennung. Ich erkenne das Wechselspiel von Tag und Nacht und benenne es. Was waren in meinem Leben Lichter und Finsternisse? Ich bemerke, dass diese Einteilung nicht genau mit Gut und Böse übereinstimmt, das wären moralische Kategorien (Adam und Eva wollten Gut und Böse kennen). Hier geht es um Freude und Traurigkeit, um das Gefühl. Eine geistliche Führung in Anspruch zu nehmen ist eine gute Möglichkeit, um den Grautönen zu entfliehen und sich beim Trennen und Benennen helfen zu lassen.
Betrachtung ist eine Unterstützung, um aus der Gleichgültigkeit herauszufinden, zu erkennen und zu beurteilen. Noch vor der Schöpfung von Zeit und Raum, Erde und Meer, ist die erste Trennung die von Licht und Finsternis, und sie mündet in Lobpreis: Gott sah, dass es gut war. Wo auch immer ich heute bin, jedenfalls ist es der erste der noch bleibenden Tage meines Lebens, und ich bin heute herausgefordert zur Trennung von Licht und Finsternis, die in Lobpreis mündet. In jedem Ereignis erkenne ich ein Licht und sehe, dass die Dinge und Wesen zum Leben gerufen sind; ich freue mich darüber und lobpreise den Schöpfer.
Zu leben beginnen bedeutet, der Verwirrung und Lüge zu entkommen. „Weh denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen, die die Finsternis zum Licht und das Licht zur Finsternis machen, die das Bittere süß und das Süße bitter machen.“ (Jes 5,20) Der Prophet verurteilt die Verwirrung zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Finsternis, zwischen Süßem und Bitterem. Wie soll man leben, wenn diese grundlegenden Anhaltspunkte durcheinandergebracht werden? Wehe denen, die aus Furcht vor Schuldgefühlen oder weil sie andere nicht verletzen wollen, das Böse nicht böse nennen: sie fallen nicht nur in Verwirrung, sondern lügen auch über das Leben und das, was es ist.
Das ist eine tägliche Arbeit, die nie wirklich im Vorhinein gemacht werden kann. Sie erfordert die Entscheidung, dranzubleiben und sich nicht in die Illusion und Lüge der Verwirrung hineinziehen zu lassen. Wenn man über Licht und Finsternis, Süßes und Bitteres getäuscht wird, wem soll man dann glauben, wohin sich wenden?
Der Sieg des Lichts über die Finsternis wird in dieser täglichen Arbeit nicht durch das Verschwinden der Finsternis, sondern durch die Trennung errungen. Tag und Nacht werden sich auch weiterhin abwechseln, aber was zählt und woran man sich erinnert, ist das Licht. Das Wort „Tag“ hat zwei Bedeutungen: einerseits ist er das Gegenteil der Nacht und dauert nur einige Stunden, andererseits umfasst er auch Tag und Nacht, wenn man vom soundsovielten Tag spricht. Diese doppelte Bedeutung lässt schon den Sieg des Tages über die Nacht und des Lichtes über die Finsternis erkennen: Die wenigen hellen Stunden des Tages geben allen 24 Stunden den Namen. Auch im Kalender zählt man nur die Tage.
Will man ein geistliches Leben beginnen, empfiehlt es sich, mit einem täglichen Gebet der Betrachtung bzw. der Gottesbeziehung zu beginnen, in dem man vor allem auf die Ereignisse des Tages zurückschaut und für das Gute dankt. Es ist nicht leicht, in dieser Form des täglichen Gebets beharrlich zu sein; es ist Arbeit an mir selbst, um aus der Verwirrung zum Leben zu kommen. Wer in Unkenntnis und Gleichgültigkeit verharrt, bleibt in der Illusion, keine Möglichkeit zu Entscheidung und Selbstbestimmung zu haben, d.h. er zieht lebenslange Sklaverei vor.
In dieser ersten Orientierung ist der Unterschied zwischen Freude und Genugtuung bedeutend. Ich bin zufrieden mit dem, was ich gemacht habe (Genugtuung: ich habe „genug getan“): hier wird das Ergebnis, das ich vollbracht habe, in Verbindung mit meinen Plänen betrachtet. In der Zufriedenheit ist die Öffnung auf den Anderen hin weder in der Zielbestimmung noch in der rückblickenden Bewertung nötig. Im Gegenteil dazu kommt die Freude von einer Überraschung, einem Geschenk: Ich entdecke, wie jemand in der Freiheit wächst, bin Zeuge einer Geste der Solidarität, einer Heilung, eines Dienstes, und ich preise Gott für diese lebendige Menschlichkeit.
An jedem Schöpfungstag sagt Gott, „dass es gut war“. Und ohne, dass es einen Widerspruch darstellen würde, folgt sogleich: „Es wurde Abend und es wurde Morgen.“
– Ich schreibe Lichter und Finsternisse auf, die meine Existenz durchkreuzt haben.
– Erkenne ich den Unterschied zwischen dem, was mir Genugtuung verschafft, und dem, was für mich eine Freude ist? Zwischen dem, was mir zuwider ist, und dem, was mich traurig macht?
Höhen und Tiefen (Tag 2)
Am zweiten Tag wird das Wasser geschieden in das Wasser über dem Gewölbe und das Wasser darunter. Das Gewölbe, genannt „Himmel“, ist die Grenze.
Im Raum, wo nicht nur Wasser ist (und jeder weiß, wie sehr eine Prüfung Spuren hinterlassen und einen Menschen überfluten und ertränken kann), gibt es ein Oben und ein Unten und einen Himmel, der zwischen den beiden ausgespannt ist um die beiden zu unterscheiden. Das Unten kann man anschauen, gestalten und erforschen. Das Oben ist unerreichbar: es erfordert das Vertrauen, dass uns der Himmel nicht auf den Kopf fallen und uns ertränken wird. Es ist der Bereich des Glaubens. Ein „Oben“ und ein „Unten“, und Paul Beauchamp würde sagen, es fehlt nur die Aufschrift „Vorsicht, zerbrechlich!“ auf dem Paket! Denn dieses Dazwischenstehen ist tatsächlich zerbrechlich: weder im Himmel (mit Gott, heilig) noch in der Unterwelt (ich bin weniger als nichts, ertränkt).
– Unterscheide ich in meinem Leben zwischen geschenktem Vertrauen (jemand vertraut mir, ich vertraue jemandem) und dem Erwerben von Sicherheiten und Wissen?
– Ich überlege, wie ich meine Zerbrechlichkeit im Sein lebe: Betrachte ich mich als weniger als nichts? Oder im Gegenteil fast als Gott? Fürchte ich mich vor einem bedrohlichen Himmel? Bin ich glücklich in meinem Sein, gläubig und fühle mich der Menschheit verbunden?
Fest und nahrhaft (Tag 3)
Am dritten Tag werden die unteren Wasser geschieden, sodass die „Erde“ und das „Meer“ entstehen. Die Erde wird von allen Arten von Pflanzen und Bäumen begrünt, jede nach seiner Gattung, alle mit Samen für die Fortpflanzung ausgestattet. Der Boden und die Nahrung gehen den Lebewesen voraus.
– Gott sah, dass die Erde, die er zum Leben gibt, gut war. Und wie sehe ich die Schöpfung, meine Erde?2
– Ich nenne feste Orte in meinem Leben, die Früchte tragen, und solche, die undicht sind (umspült von Reue, Depression, Verdrossenheit).
– Ich betrachte und benenne, was mich nährt und aufbaut, und was mich zerstreut und mir nicht weiterhilft (Lektüre, Verhältnis zu Lebensmitteln und Getränken, zum Rauchen etc.): Was nährt mein Herz und fördert Vertrauen und Großmut? Was nährt meinen Geist und regt intellektuelles Arbeiten und Kenntnis der Kunst und Technik an? Was nährt meine Freiheit und lehrt mich, verantwortungsvoll zu entscheiden?
Rhythmus und Gesetz (Tag 4)
Am vierten Tag erscheinen die Lichter. Ihre Funktion ist die Trennung von Tag und Nacht, sie dienen auch als Zeichen für die Bestimmung von Festen und für den Jahresablauf im Kalender. Das große Licht herrscht über den Tag, das kleine mit den Sternen über die Nacht. Die am ersten Tag vorgenommene Trennung von Licht und Finsternis wird jetzt durch Gesetze verstärkt, die als Zeichen dienen. Diese Hinweise sind hell, am Tag wie in der Nacht, in Zeiten des Trostes und in Prüfungen.
So gibt es im Universum Gesetze schon bevor der Mensch auftritt. Er kommt in eine Welt mit Gesetzen, die von seinem freien Willen unabhängig sind. Sie strukturieren das Wachstum des Lebens.
– Ich betrachte eine Periode meines Lebens, ein Monat oder Jahr, und erkenne darin die Rhythmen, Feste, Abwechslungen, die Lichter in der Nacht etc. Ich kann dabei an meine Beziehungen, die Arbeit, das Familienleben und die Ereignisse in meinem Land denken.
– Ich betrachte meine Zeiteinteilung: Entscheide ich selbst darüber? Wie gut halte ich mich daran?
– Ich betrachte mein Verhältnis zu den Geboten: Sind sie eine Einschränkung oder gute Orientierungspunkte für meine Leben? Sind die Gebote Willkür eines autoritären Gottes oder ein Geschenk vom Gott des Lebens? Welches ist das wichtigste Gebot?
Leben in Fülle (Tag 5 und Beginn Tag 6)
Am fünften Tag und am Beginn des sechsten füllen ...