Sehnsucht nach einem Zuhause, in dem wir genug sind
Ein Gespräch mit Arno Geiger
LS: Gehen wir zunächst die biographischen Stationen ab, die Ihnen einfallen, wenn ich sage „Ihr Vater“.
Geiger: Mein Vater, August Geiger, ist 1926 in Vorarlberg geboren, in einer damals kleinen Rheintalgemeinde in der Nähe von Bregenz, als drittes von zehn Kindern. Seine Eltern waren Kleinbauern. Das ist schon mal etwas Bedeutendes, dieses Aufwachsen in einer großen Familie mit vielen Geschwistern. Freunde hatte er eigentlich nie. Mein Vater hatte Familie. Familie bot ihm den sprichwörtlichen Schoß. Er hat das Gymnasium in Bregenz besucht, einerseits weil man zuhause die Söhne zum Mitarbeiten gebraucht hat und Schüler eher zur Verfügung standen als Lehrlinge. Andererseits, weil das lauter kluge Kinder waren, die allermeisten haben eine höhere Schule besucht. Mein Vater ist vom Gymnasium in den Krieg, hat vom Krieg nicht viel mitbekommen, aber nach Kriegsschluss ist er in Gefangenschaft geraten, auf dem Heimweg. Dort hat er dann wirklich traumatische Erfahrungen gemacht, in einem Lazarett der Roten Armee, in dem viel gestorben wurde. Ruhr und schlechte Betreuung. Mein Vater wurde schließlich entlassen, er war jung, gerade 19 Jahre geworden, hatte noch 40 kg. So hat er sich nach Hause durchgeschlagen. Und dann hat er sich von Wolfurt nicht mehr weggerührt. Urlaub gab es bei uns nie. Wolfurt, sein Heimatort, seine Familie: das war für ihn Sicherheit und Vertrautheit. Dort hat er gestaltet. Mit 26 Jahren wurde er Amtsleiter in Wolfurt und ist es geblieben bis zur Pensionierung. Er hat geheiratet, ein Haus gebaut, vier Kinder ins Leben begleitet. Für uns Kinder ein schönes Familienleben. Aber die Ehe war nicht so toll. Meine Eltern waren sehr unterschiedlich. Meine Mutter war Lehrerin, weltoffen. Aber für uns Kinder, wie gesagt, war es ein schönes Aufwachsen. Bald nach der Pensionierung ist mein Vater leider krank geworden.
LS: Wenn Sie auf die Sohn-Vater-Beziehung schauen, wie würden Sie die beschreiben?
Geiger: Mein Vater war ein begeisterter Vater von kleinen Kindern: extrem herzlich, begeisterungsfähig, einfach ein netter Vater. Wir haben ihn wahnsinnig gemocht. Aber mit Jugendlichen konnte er nichts anfangen, Jugendliche haben ihn verunsichert. Er war ein sehr freundlicher, aber auch konfliktscheuer Mensch.
LS: War er sehr fürsorglich?
Geiger: Eher freundschaftlich. Jugendliche gehen halt oft auf Konfrontation, damit konnte er nicht umgehen. Ich glaube, meine Auflehnung muss er als extrem enttäuschend empfunden haben.
LS: Können Sie sich an einen Konflikt erinnern, dem er sich nicht gestellt hat? Wo Sie gerne gehabt hätten, dass er Position bezieht?
Geiger: Dass man nie in den Urlaub gefahren ist, dass man nichts unternommen hat, dass er sich aus meiner Sicht in allzu engen Kreisen bewegt hat. Ich habe ihn oft aufgefordert, über den Tellerrand hinaus zu gehen, habe auf die Nachteile seiner Anspruchslosigkeit hingewiesen. Ich habe ihn spüren lassen, dass ich mir mein Leben anders vorstelle, dass ich mich von Vielfalt und nicht vom immer Gleichen angezogen fühle. Erst viel später habe ich begriffen, dass auch die Welt meines Vaters vielfältig war und dass auch die kleine Welt mehr hergibt als der Mensch zu begreifen vermag.
LS: Also der Makrokosmos im Mikrokosmos?
Geiger: So viel Einsicht hatte ich als Jugendlicher nicht, und mein Vater hat es mir nicht erklärt.
LS: Sie haben schon angedeutet, dass sich nach der Pensionierung bei Ihrem Vater eine Veränderung eingestellt hat. Wie haben Sie das gemerkt? Was hat sich da gezeigt? Was haben Sie beobachtet?
Geiger: Dass er vergesslich wurde. Da haben wir zuerst einmal gesagt: „Na gut, er merkt sich auch nicht mehr alles.“ Und im Hintergrund immer die Frage: „Wie sehr interessiert ihn das überhaupt noch. Er zieht sich offenbar zurück.“ Die Vergesslichkeit wurde eher familienintern gedeutet, weil die Ehe auseinander gegangen war, die Kinder ihre eigenen Wege gingen und der Vater offenbar keine Strategien besaß, wie er sein Leben jetzt selbst gestalten könnte. Und sukzessive wurde es schlechter. Man gewöhnte sich an die schleichenden Einbußen. Bis dann Dinge geschahen, die mit Vergesslichkeit nicht mehr zu erklären waren. Also, wir haben lange verdrängt, dass der Vater langsam dement wird. Und plötzlich gab es Ereignisse, da konnten wir die Augen nicht mehr davor verschließen.
LS: Wie geht es Ihrem Vater heute?
Geiger: Mein Vater ist vor fünf Monaten gestorben. Er ist 88 Jahre alt geworden, war rückblickend fast 20 Jahre durch Demenz beeinträchtigt. Fast zwanzig Jahre, das ist eine lange Zeit, das trübt das erreichte hohe Alter beträchtlich. Klar wusste ich, dass der Tag irgendwann kommen wird. Trotzdem kam sein Tod plötzlich. Mein Vater war eineinhalb Tage krank, hat sich kurz ins Bett gelegt und ist gestorben. Er war offenbar schon sehr schwach, obwohl man es ihm nicht unbedingt angesehen hat. Er war physisch ein beeindruckender Mensch, ein schöner alter Mann.
LS: Hat sich durch den Tod für Sie nochmal etwas verändert? Oder auch im Sterben nochmal etwas gezeigt?
Geiger: Er fehlt mir. Jetzt habe ich keinen Vater mehr. Und mir tut es unendlich leid, dass seine letzte Lebensetappe, das Alter – dass das für ihn so schwierig war und traurig in vielerlei Hinsicht. Aber ich konnte loslassen. Das hat sich eben auch so entwickelt. Ich war jeden Monat für etwa eine Woche in Wolfurt. Ich habe immer den halben Sommer in Wolfurt verbracht. Ich habe so viel Zeit wie möglich mit meinem Vater geteilt, auch im Wissen, dass es nichts aufzuschieben gibt und dass man den Toten nichts hinterherrufen kann. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass das, was ich ihm jetzt noch hinterherrufen will, Dinge sind, die ich ihm oft gesagt habe, und das Bedürfnis, es noch einmal zu sagen, hört nicht auf. Aber nichts, was ich vergessen habe zu sagen. Das kommt vielleicht noch. Aber ich würde mir wünschen, es bliebe so.
LS: Also ein versöhnter Blick.
Geiger: Ja.
LS: Wann ist Ihnen klar geworden, dass Sie über die Erkrankung Ihres Vaters schreiben werden?
Geiger: Das muss um das Jahr 2004/2005 gewesen sein, als wir mittendrin waren in einer schwierigen Zeit. Da habe ich begriffen, dass wir initiativ bleiben müssen, dass wir uns nicht dem Schicksal ergeben dürfen und dass es weiterhin Möglichkeiten gibt, das Leben zu gestalten. Ich habe gemerkt, was für einen einschneidenden Lernprozess ich gerade durchmache in Konfrontation mit der Zerbrechlichkeit meines Vaters. Das hat mich auf meine eigene Zerbrechlichkeit verwiesen und wie schwer es mir fällt, mit dieser Situation umzugehen. Ich hatte mir eingebildet, ich bin jung, ich bin intelligent, ich bin gesund, mich kann nichts aufhalten. Und dann kommt eine Krankheit: und ich bin völlig hilflos. Für mich sehr wichtige Erfahrungen. Und dann auch manches Erstaunliche: dass die Krankheit nicht nur nimmt, sondern auch gibt, durch das familiäre Zusammenrücken. Und da habe ich mir gedacht, eigentlich solltest du darüber schreiben. In meinen Augen ist es die Aufgabe von Schriftstellern, über die Dinge zu schreiben, die ihnen am wichtigsten sind. Nicht über irgendein Bla-bla-bla, sondern über das, was einen an der Gurgel packt.
LS: Mir fiel besonders Ihre Schreibhaltung auf. Sie verwenden dafür ein Derrida-Zitat: man bittet um Vergebung, wenn man schreibt.
Geiger: Das ist geschrieben im Rückblick auf die Anfänge der Krankheit, als Hilflosigkeit und Ungeduld Hand in Hand gegangen sind. Ich wollte nicht wahrhaben, dass mein Vater krank ist. Es wäre natürlich schöner gewesen, es hätte sich um Antriebslosigkeit gehandelt, dann hätte man von heute auf morgen sagen können: „Okay, ich reiß mich zusammen.“ Und dann wäre alles wie ein böser Traum verflogen. Also habe ich versucht, den Vater aufzurütteln. Aber im Nachhinein hätte ich mich besser mit ihm solidarisiert gegen die Krankheit, statt ihm auf die Nerven zu fallen mit meiner Ungeduld und Enttäuschung. Ja, es steckt auch das Bedauern in dem Buch, dass ich am Anfang nicht klüger und freundlicher war. Aber klar, wer ist schon von Anfang an klüger? Aber es ist wichtig für mich, dass ich das Buch aus der Haltung heraus geschrieben habe, dass ich schwach bin. „Der alte König in seinem Exil“ ist kein Buch, das Stärke signalisieren will. Es ist ein Buch, in dem ich mir meiner Schwäche bewusst bin.
LS: Immer wieder spürbar ist der Respekt dem Menschen gegenüber. Es fallen Begriffe wie „immer noch ein beachtlicher Mensch“ oder natürlich auch der Titel „Der alte König in seinem Exil“. Wie kamen Sie darauf?
Geiger: Das ist ein modifiziertes Zitat aus einem Roman von Virginia Woolf, „Die Fahrt zum Leuchtturm“, ein autobiographisch stark beeinflusstes Buch. Da stolpert der Vater dieser Familie verloren durch den Garten, und dann kommt dieser Satz „wie ein König in seinem Exil“. Das hat mich emotional angesprochen, weil daraus einerseits die Verlorenheit spricht und andererseits der Respekt vor der Person. Für Kinder ist der Vater im besten Fall so etwas wie ein König, positiv besetzt, ein König, der sowohl Macht besitzt als auch Güte. Auf meinen Vater passt das sehr gut. Als ich den Titel formuliert hatte, wusste ich, es gibt keinen besseren.
LS: Ihre Gefühle gehen hin und her. Zum einen schreiben Sie: „Ich bin nicht nur erschöpft, sondern es gibt immer wieder auch Zustände der Inspiriertheit“. Und dann wieder: „Mir ist als würde ich dem Vater in Zeitlupe beim Verbluten zuschauen“. Also ganz unterschiedliche Gefühle.
Geiger: Es wechselt stark. Es war bis zuletzt erstaunlich, wie unmittelbar ich an das Gefühlssystem meines Vaters angekoppelt war. Wenn es ihm gut ging, ging’s auch mir gut. Wenn es ihm schlecht ging, wollte ich ihn aus dem Loch herausholen. Aber wenn das nicht funktionierte, war ich stark gefährdet, ebenfalls in ein Loch zu fallen und mit meinem Leben zu hadern: „Warum passiert das mir!?“ Obwohl ich ja nur indirekt betroffen war. Und trotzdem: „Ich wäre lieber glücklich! Warum fahre ich nicht in der Welt umher, mach‘ dieses und jenes. Warum sitze ich hier herum in diesem Schreckenskabinett.“ Und dann änderte sich die Situation wieder, vielleicht durch ein richtiges Wort, vielleicht einfach nur so. Und mein Vater war fröhlich und sagte Dinge, die klug waren. Und ich dachte mir: „Ah, schön haben wir’s! Und mein Vater ist zwar dement, aber keineswegs dumm.“ Plötzlich greift er hin und gibt mir etwas. So ein toller Mensch. Und er versucht mich zum Lachen zu bringen. Und so wechselt es, oft wirklich von einem Moment auf den anderen. Schon anstrengend. Aber mit den Jahren hatte ich gelernt, darauf zu vertrauen, dass die guten Momente überwiegen.
LS: Was immer wieder in Ihrer Beschreibung der Demenzerkrankung auftaucht, ist diese tiefe Heimatlosigkeit, zuhause zu sein und sich nicht zuhause zu empfinden. Im Grunde genommen eine Erfahrung von Exil.
Geiger: Ich habe lange gebraucht, hier zu einer produktiven Haltung vorzudringen. Mein Vater hat das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, selber gebaut. Er hat die Ziegel selber gegossen, er hat das Elektrische, die Installationen, alles selber gemacht. Sein Haus war von enormer Wichtigkeit für ihn. Und plötzlich erkannte er es nicht mehr! Das überstieg meine Vorstellungskraft. Unvorstellbar. Ein Irrtum. Entsprechend hartnäckig habe ich versucht, ihm zu erklären: „Das ist dein Haus! Du hast es selber gebaut.“ Ich habe ihm Dinge gezeigt, die er eigentlich hätte kennen müssen. Aber er war nicht zu überzeugen. Das war schwer nachzuvollziehen. Und ich habe lange gebraucht, zu realisieren, dass die Krankheit ein Gefühl von Irritation erzeugt. Mein Vater hat hin und wieder gesagt: „Das stimmt schon, dass das aussieht wie bei mir zuhause. Aber irgendetwas ist anders.“ Und dieses „Irgendetwas ist anders“, das ist eben die Krankheit. Mein Vater sehnte sich an einen Ort, an dem er die Irritation nicht mehr spürte, wo er sich geborgen fühlt, wo er sich wieder sicher fühlt, wo er nicht ständig angefochten ist. Und allmählich habe ich begriffen, der einzige Weg, ihm ein Gefühl von Geborgenheit zu geben, ist der, sich mit ihm zu solidarisieren, indem ich sage: „Ja, das ist nicht unser Zuhause, wir gehen gemeinsam nach Hause.“ Dieses Angebot, diese Solidarisierung, verbunden mit dem Angebot, gemeinsam zu gehen, hat ihn sein Zuhause bis zu einem gewissen Grad wiedererkennen lassen. Die Solidarisierung hat Ordnung geschaffen. Er hat dann gesagt: „Ich rühre mich hier nicht weg. Du sagst mir, wann wir gehen. Mensch, dass du tatsächlich mit mir gehen willst, das rechne ich dir hoch an.“ Ich glaube, das rührt an etwas zutiefst Menschliches. Die Krankheit macht es sichtbar, aber in Wahrheit haben wir alle diese Sehnsucht: nach Geborgenheit, nach einem Zuhause, in dem wir genug sind, in dem wir nicht in Frage gestellt werden als das, was wir sind. Wo wir einfach genug sind und geliebt werden. Im Buch verweise ich auf die Sehnsucht der Menschen nach einem solchen Ort im Jenseits. Ich glaube, dass es tatsächlich Verwandtschaften gibt zwischen der Sehnsucht meines Vaters nach einem Zuhause und der Sehnsucht nach dem Himmelreich: dieses Angenommenwerden, dieses Geborgensein.
LS: Sie schreiben, auch das Singen hat ihn mit sich in Berührung gebracht, ebenso der Kirchgang, da war er Teil eines Ganzen.
Geiger: Musik, Lieder, die ihm seit Jahrzehnten vertraut waren, ritualisierte Dinge… Mein Vater war Ministrant bis ins Erwachsenenalter. Er konnte noch im Alter die halbe lateinische Messe auswendig. Manchmal saß er am Küchentisch und hat die lateinische Messe gelesen. Das war so tief in ihn eingeschrieben, all diese rituellen, liturgischen Sätze, Formeln, die Lieder, die Gesänge. Ich glaube, dass man derlei mitnimmt und dass Wiederholung Vertrauen schafft, weil das richtige Wort wieder kommt, alles an seinem Platz, eine geordnete Welt. Gläubig war mein Vater immer tief, das hat ihm geholfen, die Krankheit anzunehmen. Aber er hat sich auch gewehrt. Ich habe das immer wieder als berührend und auch als schrecklich empfunden, wenn er gesagt hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen!“ Das kam aus einem sehr tiefen Schmerz.
LS: Es gibt zwei Menschen in Ihrem Text, die Ihren Vater verstanden haben: die Betreuerin Daniela und die Enkelin Eva. Von Daniela heißt es, dass sie immer wieder sagte: ich habe 24 Stunden Zeit zu warten. Von der Enkelin Eva: sie war im Kopf frei und absichtslos. Sind das die Grundvoraussetzungen im Umgang mit Demenz: ich habe mit dir nichts vor, ich will dich nicht kommandieren. Einfach zu sagen: du darfst sein!
Geiger: Ja, genau. Daniela hatte 24 Stunden Zeit zum Warten, das haben die meisten nicht. Daniela war 24-Stunden-Betreuerin und hatte eine extrem gute Art. „August, wenn du jetzt nicht willst, vielleicht willst du dann in einer Stunde. Und wenn nicht heute, dann rasieren wir dich halt morgen. Ist doch wurscht.“ Sie hat ihn nie bedrängt und sie hat ihm immer das Gefühl gegeben, dass er jemand ist. Wenn sie einkaufen gegangen ist, dann hat er ihr Fahrrad geschoben oder hat den Korb getragen – und da war er jemand, der zählt. Nicht jemand, der herumkommandiert wird. Die jüngste Enkelin, die kannte ihren Großvater nicht anders als de...