Bibelarbeit zu Eph 4,1–6.11–15
Manfred Seitz
Eine Versammlung von Menschen, die bereit ist, auf Gottes Wort zu hören, ist eine Gemeinde. Deshalb rede ich Sie auch so an: Liebe Brüder und Schwestern, es ist sinnvoll zunächst zu beten. Herr, der du dich selbst das ewige Wort genannt hast, erlöse uns vom Fluch der Worte. Sprich nur ein Wort, so wird unsere Seele gesund. Amen.
1. Zum Epheserbrief
Der Epheserbrief hat wesentlich zum Entstehen der Doppelnorm von biblischem Zeugnis und kirchlicher Lehre beigetragen. Dadurch hat sich der Glaubensstand der Alten Kirche merkbar stabilisiert. Damit ist der werdenden Weltkirche das Schicksal erspart geblieben, zeitgebundene theologische Ansprüche und Ideen für heilsverbindlich zu halten. Wenn heute weithin und außerhalb unseres Kreises Spiritualität als Ersatzform für diese Doppelnorm verstanden wird, hat sie das Zeugnis der Alten Kirche und dieses Briefes gegen sich. Der große spanische Maler Murillo, 1618–1682, hatte wiederholt den Auftrag, Kirchen auszumalen und vor allem die Decken von Kirchen. Bevor er einen Abschnitt dieser großen Gemälde weitermalte, stieg er vom Gerüst herab und legte sich auf den Boden, um sich einen Überblick zu schaffen, und immer das Ganze im Auge zu haben. So machen wir das aus.
Überblick über den Epheserbrief
Der Epheserbrief könnte von einem Paulusschüler verfasst worden sein, und es könnte sich um einen Kommentar zum Kolosserbrief handeln. Der Epheserbrief ist ganz klar aufgebaut und tiefsinnig gegliedert. Er besteht genau aus zwei Teilen. Der erste Teil, Kap. 1–3. Wir können ihn überschreiben, er enthält die Botschaft: Christus und seine Gemeinde. Oder mit anderen Worten: Das geschaute Geheimnis. Der zweite Teil ist dann der Teil, der die Gemeinde betrifft. Der Verfasser führt nun die Gemeinde auf den Übungsplatz des Glaubens: Die Gemeinde und ihr Leben in der Welt. Oder mit anderen Worten: Das gelebte Geheimnis.
Ein paar Worte zum ersten Teil: Die ersten drei Kapitel sind von zwei Wellen der Verkündigung durchzogen. Warum sage ich Welle? Die erste Welle ist das Kapitel 1. Die Welle hat einen Wellenberg, das ist die Botschaft; ein persönliches Zwischenstück, und dann das Wellental, die Fürbitte. Wenn Sie den Ephbrief ganz vor sich haben, dann beginnt der Epheserbrief nach dem Gruß mit dem größten Kapitel des NT, 1,3–10, dann kommt das Zwischenstück. Das Zwischenstück beginnt Paulus immer mit den gleichen Worten: Darum auch ich. Oder: Ich als der Gefangene. Immer steht das Ich genau erkennbar voran. Und dann, wenn das Zwischenstück, das kürzer oder länger sein kann, vorüber ist, dann kommt die Fürbitte. Und die zweite Welle ist eine Riesenwelle, das ist Kapitel 2 und 3. Warum folgt auf die Verkündigung das Zwischenstück? Warum redet der Paulus von sich selber? Zunächst zur Botschaft, oder zur Verkündigung. Wir wissen das alle aus unserer eigenen Verkündigung: Der Verkündiger kann nichts dazu tun, dass die Gemeinde, die Hörer, die Gemeindeglieder das, was er sagt, auch aufnehmen, verstehen, sich aneignen, übernehmen und durchführen können. Er ist vollständig ohnmächtig. Je leuchtender seine Verkündigung ist, desto ohnmächtiger ist er und empfindet er sich. Und aus diesem Grund redet Paulus, oder der Verfasser, von sich selber. Aus diesem Grund folgt auf den Wellenberg bzw. die Botschaft, das persönliche Zwischenstück. Der Verkündiger versteht sich nicht als Nachrichtensprecher, der, wenn er seine Botschaft geäußert hat, abschalten kann. Nein, er zittert darum, dass die Gemeinde es auch übernimmt und empfindet darin immer seine Ohnmacht. Es bewegt ihn. Er kann nichts tun. Und deshalb folgt auf das persönliche Zwischenstück die Fürbitte. Sie entspricht genau der Botschaft und der Ohnmacht des Verkündigers: Gott soll es tun. Gott muss es tun. Und in diesem Sinn geht er dann auf die Situation der Gemeinde ein. Soviel zum ersten Teil des Briefes. Noch eine Nebenbemerkung: Bei manchen Briefen wird die Fürbitte durch die Ermahnung ausgewechselt, also anstelle der Fürbitte kann auch die Ermahnung kommen, „darum, deshalb ermahne ich euch“. Viele Briefe kann man in dieser Weise aufschlüsseln.
Dann der zweite Teil, auch wieder drei Kapitel, 4–6. Der Verfasser, der Verkündiger steigt sozusagen von der Kanzel und begibt sich mit der Gemeinde auf den Übungsplatz. Die Gemeinde und ihr Leben in der Welt. Der zweite Teil der Briefe, auch hier, ist schwerer zu gliedern. Grob gesagt: Es geht zunächst um Richtlinien für die ganze Gemeinde, dann betreffen die Ermahnungen die Familie und die Stände, und dann für einzelne. So könnte man die Ermahnungskapitel gliedern. So viel zur Einteilung. Murillo erhob sich wieder, stieg aufs Gerüst und malte weiter.
2. Eph 4,1–6 – Zur Grundlegung der Ethik
1So ermahne ich euch nun, ich, der Gefangene in dem Herrn, dass ihr der Berufung würdig lebt, mit der ihr berufen seid, 2in aller Demut und Sanftmut, in Geduld. Ertragt einer den andern in Liebe 3und seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens: 4ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung; 5ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; 6ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle in allen.
In diesem Abschnitt, vv. 1–6, geht es um die Einheit oder um das rechte Miteinander in der Gemeinde, in der Kirche und unter den Konfessionen. Einheit, das wissen wir aus der Erfahrung, Einheit ist etwas, was viele gemeinsam haben und zusammenhält. In Bubenreuth, da wo ich wohne, gibt es einen Sportverein. Ihm gehören die verschiedensten Menschen an, verschieden nach Charakter, Alter und Geschlecht, verschieden in ihrer politischen und religiösen Einstellung, verschieden in dem, was sie reden und denken. Aber der Sport verbindet sie alle, der Sport, der aus Freude an der Überwindung von Schwierigkeiten, aus Gesundheitsgründen oder um des Wettkampfes willen ausgeübt wird. Er ist das Band, das alle zusammenhält. An ihm kann man verstehen, was Einheit ist, das Gemeinsame einer Mehrheit, das, was viele gemeinsam haben und wodurch sie zusammengehalten werden. Der Apostel des Epheserbriefes fordert die Gemeinde zur Einheit, zur Einigkeit, zur Einmütigkeit auf. Seit fleißig zu halten die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens. Er wird Grund gehabt haben, und wir haben Grund, ihn anzuhören.
Auch in einer christlichen Gemeinde kommen die verschiedensten Menschen zusammen. Das war damals in der Großstadt Ephesus so, und so ist es heute bei uns. Was Ephesus und Kleinasien, die heutige Türkei, betrifft, müssen wir uns klarmachen, dass es sich um ganz kleine Gemeinden handelte. Der früher in Würzburg lehrende Josef Klauck hat die wesentlichen Forschungen über diese urchristlichen frühen Gemeinden vorgelegt, und mein Freund und Kollege Peter Stuhlmacher ebenfalls. Wir wissen auch aus den Ausgrabungen in Dura Europos, wie es war: Die hatten keine Kirchen und konnten nur in Privathäusern zusammenkommen, höchstens 20 bis 30 Personen. In Dura Europos meinte man, es könnten 40 Personen gewesen sein. Und an diese Hausgemeinden, in denen man eng und nicht ohne Spannungen zusammenlebte, sind die Ermahnung des Epheserbriefes und der anderen Briefe des NT gerichtet. Es ist deshalb nicht unproblematisch, wenn diese Ermahnungen gehäuft den heutigen Großgemeinden zugesprochen werden. Unsere gegenwärtigen Gemeinden, und wir, die wir diese apostolische Anrede hören, sind größer. Aber es ist damals wie immer: Jede und jeder bringen ihre Lebensgeschichten, ihre persönlichen Einstellungen und Denkgewohnheiten mit. Es sind alles Personen mit Vorlieben, Fehlern, Interessen und Wünschen. Und die sind in der modernen Welt, wie man weiß, noch viel ausgeprägter und mehr auf Durchsetzung aus als damals. Deshalb ist es unter uns ziemlich unklar, worin die Einheit der Christen eigentlich besteht.
Liegt sie in der gemeinsamen Praxis? Aber die ist so verschieden. Oder ist die Einheit der Kirche gebunden an die Übereinstimmung in der Lehre? Wird sie durch die zentrale Leitung oder Verwaltung bestimmt? Oder hat sie ihren Grund darin, dass wir uns auf ein- und denselben Gott beziehen? Die Frage nach der Einheit ist deshalb so schwer zu beantworten, weil es in der Kirche nicht nur eine bereichernde Vielfalt von Personen, Frömmigkeitsstilen und Trägern von Gaben gibt, die der Einheit keinesfalls widerspricht, sondern sie ist so schwer zu beantworten, die Frage nach der Einheit, weil, was die verschiedenen Konfessionen betrifft, eine für viele heutige Menschen fast nicht mehr zu verstehende Gegensätzlichkeit in den Fragen des Amtes, des Abendmahls und der Kirche besteht. Die Uneinigkeit bis hin zu Gruppenbildungen, ja fast Spaltungen in der Kirche ist heute auch in ethischen Fragen, Fragen des christlichen Handelns und in der Einstellung zu den führenden Gesellschaftsproblemen zu spüren. Wenn sich auch, das muss ich anfügen, viele Gemeindeglieder nicht besonders oder überhaupt nicht dadurch berührt fühlen. Am schmerzlichsten wird die fehlende Einheit, die Uneinigkeit da erfahren, wo die Gemeinde, zu der man gehört, und die Kirche als Ganzes als zerstritten und zerrissen erlebt wird. Oder wenn die Meinungsverschiedenheiten auch durch die Gemeindeglieder am Wohnort gehen und sie trennen. Da liegt der Hauptherd der Anfechtungen, auf den uns der Epheserbrief lenkt.
Welcher Art die Uneinigkeit auch sei – der Apostel hat einiges dazu zu sagen. Bezeichnend ist zunächst einmal aber, was er nicht sagt und wovon er absieht. Er tadelt nicht. Er spricht nicht als Überlegener. Er handelt nicht überheblich. Er weiß, dass es zu Auseinandersetzungen kommen muss und dass sie auch in der Kirche und in den Gemeinden unvermeidbar sind. Es ist ja auch zwischen Paulus und den Aposteln in Jerusalem zu einer heftigen Kontroverse gekommen, ob die Christen die jüdischen Sitten und Gebräuche übernehmen müssten, was Paulus ablehnte. Entscheidend ist, wie mit den Konflikten, die immer wieder entstehen, umgegangen wird, und wie man die Auseinandersetzungen führt. Darüber spricht der Epheserbrief.
Er bittet: Führt euer Leben, wie es eurer Berufung als Christen entspricht, in aller Demut und Sanftmut. In Geduld ertragt einander in der Liebe. Demut heißt, wie der jüdische Philosoph Martin Buber sagt, gebeugt unter Gott, aufrecht unter den Menschen gehen. Sanftmut hat mit Sachlichkeit zu tun, und Geduld heißt auch, etwas aushalten, darunter bleiben, und verträglich in Liebe. Dazu gehört, miteinander wahrhaftig sein. Das sind edle Worte. Da scheitern wir alle ganz schön. Um sie zur Tat und zum Verhalten werden zu lassen, könnte die Unterscheidung zwischen respektieren und akzeptieren helfen. Ich respektiere etwas, was nicht mein Stil, meine Ansicht, meine Auffassung, meine Geschichte ist, aber ich lasse es stehen. Ich verstehe, warum es bei den anderen so ist, ich achte es in seinem Verständnis und Selbstverständnis. Aber ich kann es nicht akzeptieren, weil ich in einer anderen Tradition, Kirche, Gemeinschaft stehe. Der Unterschied von respektieren und akzeptieren erscheint mir in dieser Hinsicht hilfreich. Gibt es dann noch überhaupt etwas zu vermitteln?
Wir könnten es auch gar nicht, denn das vom Apostel angemahnte Verhalten ist nicht dergestalt, dass es uns auferlegt oder aufgezwungen werden soll. Es handelt sich auch nicht um eine Veranlagung oder um eine Willensanstrengung, sondern es handelt sich um Kräfte des Reiches Gottes, der oberen Welt. Was heißt das? Die stehen genau in den Versen 4, 5 und 6. Ich sage es gleich mit unseren Worten. Wir werden mit der ephesinischen Gemeinde daran erinnert, dass wir getauft, zum Glauben an Jesus Christus berufen, seiner Gemeinde zugeordnet und für ihn und die Wirkungen seines Geistes beschlagnahmt worden sind. Die Kräfte für das gemeinschaftsdienliche und -fördernde Verhalten kommen also woanders her. Das Verhalten, das der Einheit dient, ist Gabe Gottes.
Der Apostel bezeichnet auch den Bereich näher, in dem das möglich ist: die Gemeinde als Leib des Herrn Jesus Christus. Sie ist sein irdischer Leib und deshalb von vielen Bewegungen, Ereignissen und Strömungen der Zeit betroffen. Wir können es deshalb auch als normal ansehen, dass dieser Leib sich im Lauf der Zeit verändert und in seiner Zusammensetzung, in allen Mitarbeitern, Mitarbeiterinnen und leitenden Personen sich immer wieder neu darstellt, sich auch hier in Deutschland anders darstellt als in Afrika, Asien und Amerika.
Als Leib Christi ist die Gemeinde und die Gesamtheit der Gemeinden, die Kirche, nur ein einziger Leib. Es kann sich deshalb nicht ein Teil der Kirche als den wahren Leib ausgeben. Nun sage ich offen das uns am stärksten Bekümmernde. Auch wir haben eine Geschichte und eine Führung Gottes, die uns so werden ließ, wie wir geworden sind. Aber wir spüren wenig Verständnis dafür. Und Verständnis heißt ja auch, sich verstehend (und nicht nur abgrenzend), sich einmal auf die andere Seite stellen. Das Vorhandensein vieler Kirchen und die Vorstellung, sie seien, so verschieden sie sind, ein Leib, stellt uns vor einen letzten Gedanken. Sie führt uns zu der Erkenntnis, dass die Einheit der Kirche nicht dargestellt, sondern nur geglaubt werden kann. Deshalb bekennen wir auch: Ich glaube eine heilige christliche Kirche. Dieser Glaube hat seine klaren Gründe. Sie liegen in der Antwort auf die Frage, worin müssen Christen einig sein. Sie müssen einig sein im Bekenntnis zu Jesus Christus, einig durch das Leben mit der Bibel, einig durch die Teilhabe am liturgischen Leben der Kirchen und im Vertrauen darauf, dass Jesus Christus der Herr ist.
Ich äußere einen letzten Gedanken zu diesem Abschnitt. Ich bin Schüler eines Martyriumstheologen, Prof. Eduard Steinwand, 1890 bis 1960. Eduard Steinwand war Theologe und Arzt. Er war viele Jahre in der Ukraine Pfarrer, bevor er den Lehrstuhl seines durchs Martyrium getöteten Lehrers Traugott Hahn, der 1919 in Dorbat von den Bolschewiken erschossen wurde. Er war sieben Jahre Pfarrer in der Ukraine während der russischen Revolution und war zum Tode verurteilt. Er stand mit verbundenen Augen an der Wand. Da raste ein Bote heran und schrie: Was macht ihr da, wir brauchen doch Ärzte in der Seuchenzeit. Es wurde ihm die Binde wieder abgenommen, und er kam mit dem Leben davon. Sie können sich vorstellen, dass dieser geprägte Theologe, den seine orthodoxen Brüder einen evangelischen Starez nannten, mein Leben und meine Theologie tief geprägt hat. Und deswegen ist das, was ich jetzt äußere, nicht mein Gedanke. Eduard Steinwand war der Auffassung, dass die Endmartyrien der Kirche sich nicht an der Christologie entscheiden, sondern an den Menschenrechten. Das ist deswegen hochinteressant, weil die Dinge ja schon im Gang sind. Und das zweite: Sie könnten laut Mt 24 so unerträglich sein, dass wenn Gott die Zeit nicht verkürzen würde, wir sie nicht überleben könnten. Und deshalb hat Eduard Steinwand geäußert und stimmte darin mit meinem anderen Lehrer und späteren Kollegen Peter Brunner in Heidelberg, der die große Theologie des Gottesdienstes geschrieben hat, überein, dass die Endmartyrien die Kirchen endlich und am Ende zur Einheit führen können.
3. VV 11–15 – Der Urgrund der Einheit
11Und er hat da einige als Apostel eingesetzt, einige als Propheten, einige als Evangelisten, einige als Hirten und Lehrer, 12damit die Heiligen zugerüstet werden zum Werk des Dienstes. Dadurch soll der Leib Christi erbaut werden, 13bis wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollendeten Mann, zum vollen Maß der Fülle Christi, 14damit wir nicht mehr unmündig seien und uns von jedem Wind einer Lehre bewegen und umhertreiben lassen durch trügerisches Spiel der Menschen, mit dem sie uns arglistig verführen. 15Laßt uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus.
Ganz kurz einige Erläuterungen dazu. Der Epheserbrief knüpft hier an den siebten Vers an: Einem jeglichen ist gegeben die Gnade nach dem Maß der Gabe. Das Maß der Gabe, darüber müsste man tiefsinnig werden, vor allem an Benedikt von Nursia nicht vorübergehen, der das Maß in die abendländische Kultur gebracht hat. Die Gaben werden hier konkretisiert in der Aufzählung der Ämter. Es sind in hohem Maße die Ämter, die das Heil an die Menschen vermitteln. Ihre Aufgabe ist nicht, jetzt rede ich evangelisch, der Gemeindeaufbau. Es gab ja in den Jahren, nachdem die messianischen Hoffnungen auf die Seelsorge sich gemildert haben, als nächstes Paradigma den Gemeindeaufbau. Zehn Jahre lang haben weniger die Universitäten als vielmehr die Gemeinden darüber geredet. Und da gab es ein Missverständnis: Als hätten diese hier aufgezählten Hirten und Lehrer den Gemeindeaufbau zu betreiben. Nein, sondern die hier genannten Hirten und Lehrer haben die Gemeinde anzuleiten, daß ihre Glieder den Gemeindeaufbau betreiben. So verhält sich die Sache. Und deshalb, und das ist ja auch sehr aufschlussreich, reicht diese Aufzählung der Ämter schon hinein in die kommende Geschichte der Kirche. Allerdings ist der Gedanke der apostolischen Nachfolge hier noch nicht ausgebildet.
Bedeutsam ist die Bestimmung des Zieles in V. 13: Bis dass wir alle hinankommen zur Einheit des Glaubens und zur Erkenntnis des Sohnes Gottes, zur Reife des Mannesalters, zum vollen Maß der Fülle Christi. Diese Zielbestimmung gilt für diejenigen, die das Heil vermitteln und für diejenigen, die den Gemeindeaufbau dann betreiben. Das rührt an die in einer uns fremden Sprache vorgetragenen Raumvorstellungen aus Eph 3,18. Auch darüber möchte man länger reden. Ich verstehe es als einen Erkenntnisraum nach allen Seiten, in dem die Getauften und vom Heiligen Geist geleiteten Christen leben.
Zusammengefasst wird das in einer scharfen Frontstellung, die heute sehr modern ist: Diejenigen, die in diesem Erkenntnisraum leben, werden häufig als unmündig angesprochen. Ich bemerke eine lustige Geschichte eines meiner Theologiestudenten, der hat ein Industriepraktikum an einem Förderband gemacht. Und nach drei Wochen, wo sie weithin schweigend da miteinander gearbeitet haben, oder Belangloses geredet haben, sagte ein Arbeiter: „Was machst denn Du eigentlich?“ Dann hat der Student gesagt: „Ich studiere Theologie.“ Und da sagte der: „Du armer Hund!“ Das ist eine humorvolle Bestätigung, wie diejenigen, die in diesem Erkenntnisraum leben, aufgefasst werden. Der berühmte Missionswissenschaftler Georg Vicedom, den ich noch als Student hörte, warf uns immer vor, wir hätten die Gemeinden 400 Jahre unmündig gehalten, nur zum Zuhören. Und wir müssten jetzt anfangen, sie darin mündig zu machen, dass sie wirklich mündlich den Glauben reden könnten. Und er hat uns eingeschärft: Nur was der Mensch begriffen hat, kann er auch sagen. Und nur wenn wir den glauben wirklich begriffen haben, können wir auch in diese Gemeindeaufbau-Gabe ein...