V. Religionsphilosophie
Hans-Joachim Höhn
Religion – das vernunftgemäße Andere der Vernunft? Kriterien zur rationalen Verantwortung religiöser Überzeugungen
Religion gehört in der Moderne einerseits zu jenen Beständen des Daseins, über die die Zeit hinweggeht. Andererseits scheint sie zu jenen Größen zu gehören, auf die man auf dem Weg in die Zukunft immer wieder zurückblickt – wenn nicht im Modus des Vermissens, dann wenigstens als retrospektive Vergewisserung des Vorankommens. In der Perspektive einer aktuellen philosophischen Zeitdiagnose und Kulturanalyse ist Religion allerdings nicht bloß ein kulturelles Relikt. Ihre seit einigen Jahren häufig konstatierte Selbstbehauptung trotz fortwirkender Säkularisierungsprozesse liefert wichtige Aufschlüsse für die Frage nach der geistigen Signatur der Zeit. Offenkundig ist das Phänomen „Religion“ auch belangvoll für ein angemessenes philosophisches Verständnis dessen, was an der Zeit ist.1 Die Bandbreite ihrer Antreffbarkeit ist beträchtlich, ihre Bedeutung ist jedoch nicht eindeutig: Religion fungiert als identitätsstiftendes Element angesichts von Fremdheitserfahrungen in Migrationsgesellschaften, aber auch als Verstärker von Nationalismen und Fundamentalismen. Sie tritt auf als kulturelles Widerlager einer entfesselten Zweckrationalität, aber auch als Hemmnis wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Und wo religiöse Traditionen in die Erosion geraten, hinterlassen sie spirituelle „Leerstellen“ und moralische Desiderate, die kulturdiagnostisch wiederum ebenso signifikant sind wie religiöse Sinnofferten, die ohne Nachfrage bleiben: In einer „Event-Gesellschaft“ wollen zwar viele Zeitgenossen nicht mehr von ihrem Dasein erlöst werden, sondern ihr Leben erleben.2 Aber sie wollen trotzdem nicht von der Hoffnung ablassen, dass man sich in dieser Welt am Ende mehr holen kann als den Tod. Mit dieser Beobachtung ist eine dritte, spannungsvolle Konstellation von Religion und Moderne verbunden: Etliche religiöse Antworten scheinen zwar verbraucht, aber viele existenzielle Fragen, auf die sie sich bezogen, stellen sich immer noch und immer wieder. Vielleicht sind manche Antworten auf diese Fragen nur deswegen aus dem Blick geraten, weil versäumt wurde, sie im Reflexionshorizont der Moderne neu zur Sprache zu bringen. In diesem Fall wäre es an der Zeit, sich noch einmal um die religiösen Ressourcen der Weltdeutung und Handlungsorientierung zu kümmern.
Wer religiöse Daseinsorientierungen für kulturell unabgegolten hält, wird darauf hoffen, dass sich die Vernünftigen dieses Orientierungspotenzials annehmen. Vielleicht kann sogar angesichts einer „entgleisenden Moderne“ (J. Habermas) die Vernunft aus rationalen Gründen dazu motiviert werden, sich um ihrer eigenen Sache willen für die „andere“ Sache der Religion zu interessieren.3 Ob dieses Andere der Vernunft4 als Bezugsgröße für eine Neukalibrierung des Verhältnisses der Vernunft zu der von ihr mitverursachten Ambivalenz von Modernisierungsprozessen in Frage kommt, hängt aber wesentlich davon ab, dass sein Verhältnis zur Vernunft als vernunftkompatibel ausweisbar ist. Andernfalls kann angesichts der ebenso unabweisbaren sozio-kulturellen Schadensbilanz der Religion ein philosophisches Interesse an ihr nur in die radikale Religionskritik führen.
Welche Standards bei einem solchen Kompatibilitätstest zu beachten sind, wird in den folgenden Überlegungen sondiert. Der Fokus liegt dabei auf der Bestimmung jenes Anspruchsniveaus, auf dem eine rationale Verantwortung religiöser Auffassungen vom vernunftgemäßen Anderen der Vernunft ad extra, d.h. gegenüber säkularen Gesprächspartnern, und ad intra, d.h. innerhalb einer Glaubensgemeinschaft zu erfolgen hat. Dabei sollen auch Kriterien gewonnen werden, um Ansätze zu kritisieren, denen es nicht gelingt, Plausibilität und Glaubwürdigkeit religiöser Überzeugungen gleicher Maßen aufzuzeigen.
I. Problemskizze: Religion auf dem Prüfstand der Vernunft
Wenn am Ende der Moderne noch einmal ein neues Interesse am Orientierungspotenzial religiöser Traditionen aufkommen soll, kann dieses Potenzial nur dann gesellschaftlich relevant werden, wenn seine rationale Zumutbarkeit erwiesen ist. Für die Sache der Religion ist dabei nur etwas zu gewinnen, wenn sie sich am stärksten erreichbaren Format von Rationalität ausrichtet. An ihm müssen sich ihre Vertreter orientieren, um in einer säkularen Öffentlichkeit glaubwürdig und intellektuell satisfaktionsfähig zu sein. Dies gilt aber auch für die Verständigung innerhalb religiöser Gemeinschaften. Geglaubt werden kann nur, was auch widerspruchsfrei gedacht und denkerisch verantwortet werden kann.5 Keine dieser Vorgaben ist zur Zeit unstrittig.6 Immer wieder finden sich Versuche, welche die Glaubwürdigkeit des religiösen Zeugnisses und die Überzeugungskraft vernunftbasierter Argumentation voneinander abkoppeln oder die Standards rationaler Glaubensverantwortung aufweichen. Wo dies geschieht, erweist man dem Glauben gleich zweifach einen Bärendienst: Wer nur noch etwas bezeugen will, für das es keine überzeugenden Gründe gibt, braucht schnell jeden Kredit in der kritischen Öffentlichkeit auf. Wer nicht mehr prüft, ob man widerspruchsfrei denken kann, was man glaubt, öffnet Tür und Tor für Leichtgläubigkeit und Fahrlässigkeit, für Willkür und Aberglaube in religiösen Angelegenheiten.
Etliche Verfechter der Vernunft machen daher die Forderung nach einem kritisch-affirmativen Verhältnis von Vernunft und Glaube davon abhängig, dass die Sache der Religion vom Standpunkt des Denkens her rekonstruiert werden kann. Stattdessen den Vernunftsubjekten den Standpunkt der Religion aufzunötigen, erscheint ihnen als unerträgliche Zumutung. Zunächst müssen Religion und Glaube zur Vernunft kommen. Solange sie nicht den Verdacht entkräften, sie seien nicht in der Lage Vernunft anzunehmen, kommen sie für Selbstverständigungsdiskurse moderner Gesellschaften nicht in Frage. Zu deutlich steht ihre Ambivalenz vor Augen: Jede Religion verfügt ebenso über destruktive wie konstruktive Potentiale, sie kann Gewaltbereitschaft fördern und zum Frieden anstiften, sie kann aus Unterdrückung herausführen und in Unmündigkeit einschließen, sie kann in den Wahn führen und Quelle von Lebenssinn sein. Höchst nachhaltig ist zudem der Überwindungs- und Überbietungsimpetus, der das Verhältnis der Philosophie zur Religion bestimmt. Seit der Aufklärung schien klar zu sein: Wenn sich die Vernunft die Religion kritisch vornimmt, wird vom Geltungsanspruch religiöser Überlieferungen kaum mehr etwas übrig bleiben. Jedes andere Resultat wäre irritierend. Denn Vernunft und Religion gelten in der Moderne als Kontrahenten. Beide machen einander die Rolle einer Leitgröße menschlicher Lebens- und Handlungsorientierung streitig. Darum regiert hier ein striktes „entweder/oder“. Kompromisse sind weder möglich noch zumutbar. Wenn die Vernunft am Steuer des Fortschritts sitzt, darf sie die Religion auch nicht mehr als Navigationshilfe einsetzen.
Aber längst haben sich die von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft ausgelösten Rationalisierungsprozesse als höchst ambivalent herausgestellt und die aufklärerische Gleichsetzung von Vernunft und Fortschritt als voreilig erwiesen. Inzwischen ist klar, dass die globalen ökologischen, sozio-kulturellen und politischen Herausforderungen7 einerseits nicht ohne die Vernunft gemeistert werden können und sich andererseits auch nicht mit ihr allein bewältigen lassen. Zwar hat sich die politische Vernunft von der Auffassung gelöst, dass für den modernen Staat die Bindungskräfte der Religion essentiell sind, aber für ihn besteht noch immer die Notwendigkeit der Bezugnahme auf ihm vorausliegende, unverfügbare Bedingungen eines menschenwürdigen Daseins in Freiheit und Solidarität. Dabei ist fraglich, ob die säkulare Vernunft mit dem Vermögen diese Prämissen zu erkennen auch schon über das Vermögen verfügt, ihre Umsetzung mit Inhalten füllen. Kann zudem von den formalen Arrangements und Verfahren einer deliberativen Willensbildung und Entscheidungsfindung erwartet werden, dass sie ihre Ressourcen gleichsam von selbst erzeugen? Bringt die politische Vernunft jene semantischen Potentiale hervor, mit denen sich Grundwerte der Demokratie überzeugend artikulieren lassen? Zwar vermag die ökonomische Vernunft zu sagen, was für die Wirtschaft gut ist, aber kann sie beschreiben, wofür die Wirtschaft gut ist, d.h. inwiefern sie ihm Dienst nichtökonomischer Werte und Güter steht? Ist die säkulare Vernunft noch sensibel und aufgeschlossen, für das ökonomisch Unverrechenbare, technisch Unableitbare, politisch und medial Unverfügbare? Muss sich die säkulare Vernunft mit all ihren Formen und Formaten nicht offen halten für Inspirationen jenseits von Technik und Wissenschaft, Ökonomie, Politik und Medien, weil sie nicht wissen kann, „ob sich die säkulare Gesellschaft sonst von wichtigen Ressourcen als Sinnstifter abschneidet. Auch säkulare oder andersgläubige Bürger können unter Umständen aus religiösen Beiträgen etwas lernen, was z.B. dann der Fall ist, wenn sie in den normativen Wahrheitsgehalten einer religiösen Äußerung eigene, manchmal verschüttete Intuitionen wiedererkennen.“8 Denn im Unterschied zur Enthaltsamkeit eines modernen Vernunftkonzepts, das allein an Regeln, Kriterien und Verfahren der Rechtfertigung von Entwürfen eines „guten“ Lebens interessiert ist, „sind in heiligen Schriften und religiösen Überlieferungen Intuitionen von Verfehlung und Erlösung, vom rettenden Ausgang aus einem als heillos erfahrenen Leben artikuliert, über Jahrtausende hinweg subtil ausbuchstabiert und hermeneutisch wachgehalten worden.“9
Aber reicht dieser Befund bereits aus, um zu den Beständen religiöser Traditionen zurückzukehren, in denen das vermutet wird, was die neuzeitliche Vernunft nicht bieten kann: eine Leben, Denken und Handeln „ganzheitlich“ orientierende Perspektive, in der mehr und anderes als in der Optik der säkularen Vernunft erkennbar wird? Kann sich Religion als „Entdeckungszusammenhang“ von Werten und Sinngehalten menschlichen Daseins erfolgreich behaupten gegenüber einem „Rechtfertigungs- und Operationalisierungszusammenhang“, den die autonome säkulare Vernunft repräsentiert? Erzeugt die Moderne tatsächlich Probleme, mit denen vernunftgemäß umzugehen Thema und Rechtfertigung einer religiösen Einstellung zur Welt sein könnte? Wie steht es in Wahrheit und in Wirklichkeit um die Säkularisierungsresistenz und Modernitätskompatibilität des Religiösen? Wie lassen sich vernunftkompatible und -unverträgliche Geltungsansprüche religiöser Standpunkte unterscheiden?10
Dass trotz der Dialektik von Modernisierungs- und Säkularisierungsprozessen Skepsis bei einer Hinwendung zu religiösen Traditionen angezeigt ist, belegt das Ergebnis vieler bisheriger Sondierungen eines religiösen Anderen der Vernunft.11 Was bei einer philosophischen Erörterung religiöser Praktiken und Überzeugungen ans Licht kommt, belegt nicht selten deren „Unwahrheit“, ihren Illusions- und Projektionscharakter. Darüber aufgeklärt zu werden...