Lektüre
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Joachim Negel | Freiburg (CH)
geb. 1962, Priester, Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg (CH)
Versehrender Segen
Zu Esther Maria Magnis’ Buch „Gott braucht dich nicht“
Bekenntnisliteratur, egal ob religiöser oder philosophischer Art, ist ein schwieriges Genre. Wie leicht ist hier die Grenze zur Schamlosigkeit überschritten, wie schnell mischen sich in den persönlichen Bericht Verallgemeinerungen, wie rasch kippt die Notwendigkeit, „ich“ zu sagen, um ins vereinnahmende „wir“.
Dass es auch anders gehen kann, zeigt das Buch von Esther Maria Magnis, das erstmals 2012 im Rowohlt-Verlag erschienen ist: eine Art Lebensbericht unter dem Titel Gott braucht dich nicht, dem vonseiten des Verlags als Untertitel beigefügt wurde: Eine Bekehrung. Eine literarische Stimme wird hier vernehmbar, die schonungslos aufs Ganze geht, weil in dem, was sie zu sagen hat, es ums Ganze geht: Um die alten Fragen, was die Liebe sei und was der Tod; was Sünde, Schönheit und Erlösung; was das Leid und was der schneidende Schmerz der Wahrheit – und in all dem, was es auf sich habe mit der tröstlichen und zugleich fürchterlichen Heiligkeit Gottes.1 Drei Teile hat das Buch: Rot, Weiß, Schwarz, angelehnt an den Schneewittchenstoff der Gebrüder Grimm. Rot ist die Farbe des Lebens, man kann es nicht festhalten (5–75); Weiß ist die verstörende Nichtfarbe des Todes, der alles vergleichgültigt (77–165); Schwarz ist jene Farbe, die, ähnlich dem dunklen Fensterrahmen im Märchen, dem Leben Kontur und Tiefenschärfe verleiht (167–238).
Zärtlichkeit der Welt und Riss im Glück
Eine behütete Kindheit irgendwo im Ostwestfälischen in den 1980ern, 90ern. Die Mutter katholisch, der Vater evangelisch, drei Geschwister, eine selbstverständliche, wenn auch nicht sonderlich tiefgehende Kirchlichkeit. Magnis beschreibt ihren Weg von der unbefragten Kinderfrömmigkeit über eine aufmüpfige Adoleszenz hinein in ein früh ernüchtertes Erwachsenenalter.
Rot … mit dieser Farbe beginnt alles: „Immer wieder pflückte ich den Mohn und war immer wieder leicht enttäuscht, dass er nicht in unserer Küche so rot blühen wollte.“ (7f.) Ähnlich ein Erlebnis, das Karl Rahner transzendentale Erfahrung genannt haben würde2; die Autorin erinnert sich, wie sie als fünf- oder sechsjähriges Mädchen unter sommerlichem Nachthimmel am Meer steht: „Es gab kein Licht, nur den Mond auf dem Wasser, sehr weit hinten (…) Während ich schaute, begann die Tiefe des Himmels, die sich durch die einzelnen Sterne darin andeutete, zu wachsen (…) In mir, ohne Konsonanten, ohne Vokale – mein Name. Die Welt trat nicht zurück, aber ich trat aus ihr hervor. Mitten aus der Nacht, weil mein Name in mir nachklang. Die ganze Zeit. In einer Weise, in der ich nicht sprach. Darin lag ein Ernst, liebevoll und gleichzeitig unbedingt. Kein Erwachsener hätte ein Kind je so angesehen. In dem Blick lag etwas, ich weiß nicht, wie man es beschreibt, etwas Aufrichtendes, was mir das Gefühl gab, mich selbst ernst nehmen zu müssen. Ein Wissen um mich, das ich nicht nachvollzog. Auffordernd und gleichzeitig zustimmend, gutheißend. Ich war so erstaunt, ich weiß nicht, wie lange ich dasaß. Und dann war ich mir auf einmal ziemlich sicher, und es platzte aus mir raus: ‚Ach, du bist Gott?‘ Das ist Gott? Das meinten die Erwachsenen, wenn sie von ihm sprachen? Und weil ich ihn so lieb fand in seiner Zuneigung, hob ich meine Hand vom warmen Stein und winkte ihm ein bisschen zu.“ (21–23)
Jedoch auch hier lässt sich das Erlebte nicht festhalten. Jene stille Präsenz, in der alles gutgeheißen ist, zieht sich zurück, leise und unmerklich. Überhaupt nimmt die Erfahrung eines selbstverständlichen Eingeborgenseins in der Welt mit zunehmendem Alter ab. Daran sind nicht zuletzt die Platittüden einer katechetischen Dauerberieselung schuld, die das selbstverständliche Interesse des Kindes an Gottes wildem und zugleich sehr zartem „Gottsein“ (26; vgl. 18) untergraben. Selten hat man so sarkastische Kommentare auf das laue Durchschnittsgerede kirchlicher Verkündigung gelesen. (24–32; 223f.) Und so beginnt mit 13, 14 Jahren ein Abschied von Gott, „ohne Winken, ohne tschüs zu sagen“ (24), einfach so.
Dann aber stülpt sich das Leben um – mit aller Brutalität. Als der Vater an Krebs erkrankt und seine Lebenserwartung auf „drei Wochen oder drei Monate“ (34) beziffert wird, beherrscht nur noch ein einziger Gedanke die Heranwachsende: „Ich will Papa behalten“ – ein glühender Wunsch, der sich langsam und stetig zu einem ununterbrochenen Gebet verdichtet: „Der Satz spross hinter meiner Stirn und im Herzen, er öffnete sich in meinem Bauch, er zog in meine Füße, er wuchs aus meinen Fingernägeln, er verlängerte mein Haar und lag im Schweiß auf der Haut. Ich nahm ihn wahr, (…) wenn er sich leicht blähte, und ließ ihm seine Bewegung. Er drehte sich langsam. Wie ein großes ausgespanntes Segel. Ich ließ es gewähren. Und als es aufhörte, sich zu bewegen, dachte ich: ‚Gott.‘ Und war ausgerichtet.“ (40f.)
In den folgenden Wochen schließen sich die Geschwister zusammen, eine täglich sich einfindende verschworene Gebetsgemeinschaft, die erst stumme, dann schweigende und schließlich flehende Gebete zum Himmel schickt. Die Beschreibungen jener gemeinsamen Stunden, abgehalten auf dem Dachboden, gehören zu den dichtesten Passagen des Buches; sie schildern, wie die Intimität der vor den Eltern zunächst verborgen gehaltenen, später mit ihnen geteilten Gebetsgemeinschaft (57–60) das Verhältnis der Geschwister untereinander und das der Eltern zu ihren Kindern verändert. Unter dem Druck der Situation steigert sich ihr Gebet zunehmend in ein verzweifeltes Vertrauen hinein: Wirkliches Beten wäre, so zu bitten als hätte man das Erbetene schon empfangen! (Mk 11,23)
„Ab diesem Tag begann ich, mein ganzes Vertrauen Gott zu schenken und zu glauben, dass sich der Berg erheben und ins Meer stürzen würde, dass Papa gesund würde, weil ich betete, als hätte ich’s schon empfangen. Den letzten Zweifel verscheucht. Danke, dass du uns helfen willst. Danke, dass du Papa gesund machst. Ich sprach zu ihm, den ich am Meer ahnen durfte. Ich gab ihm den Glauben aus meiner frühesten Kindheit.“ (75) Das junge Mädchen weiß, dass sein Gebet um die Gesundung des Vaters hier seine tiefste Tiefe erreicht hat. Aber „ein halbes Jahr später habe ich das Stockwerk des Krankenhauses zusammengeschrien und kurz vorm Wahnsinn gedacht, ich müsste mir die Haut vom Gesicht reißen, als ich meinen Vater tot im Bett liegen sah. Danach bin ich verstummt. Totenstille die ganze Welt. Still und kalt. Wie wenn Schnee gefallen ist“ (75).
Die Unmöglichkeit, sich den Tod vorzustellen
Weiß …: Wie soll man mit dem Tod umgehen, wie sich das Lebensverneinende vorstellen? Gegen das Wort „Papa stirbt“, mit dem die ältere Steffi die Schwester auf das Unvermeidliche vorbereiten will, „konnte ich nur versteinern. Oder ausrasten, mir ein Schwert machen lassen und jeden bedrohen, der so über meinen Vater lügt. Papas Leben ist Papa. Unser Leben sind wir. Wenn es kein Leben mehr gibt, gibt es uns nicht. Und das ist die größte Frechheit, das ist das Hässlichste, was man über einen Menschen sagen kann, dieses: Er ist tot. Dann scheiß auf die Menschenwürde, (…) scheiß auf die Nachkommen, die auch noch abkratzen, scheiß auf die Welt, wenn ‚tot‘ wahr ist (…) Wie konnten Menschen sagen: ‚Esther, du musst ihn gehen lassen‘ – wohin denn? (…) Ich lasse niemanden, den ich liebe, gehen ins Nichts, ich lasse niemanden, der zu mir gehört, in den Tod gehen.“ (72)
Wirkliche Liebe ist unfähig, sich den geliebten Menschen als vernichtet vorzustellen. Aber wenn er dann doch stirbt? Wenn die kontrafaktische Gewalt des Todes die lebensschaffende Kraft der Liebe Lügen straft? – Dann tritt eine Stille ein, die alles Leben erstickt. Der zweite Teil des Buches führt dies erst mit hilflosem Unverständnis, dann mit zornbebender Wut und schließlich in langen Passagen resignierter Apathie drastisch vor Augen. Und führt, gerade weil die Güte Gottes so selbstevident ist (vgl. 79–83), gerade weil jene „Kraft auf dem Dachboden, diese ruhige Liebe“ (82) so gut war, vor die Gottesfrage. Zunächst die Verständnislosigkeit gegenüber jenem Gott, der seine Verheißungen ins Leere laufen lässt:
„Gott ist gut. (…) Und diese Güte hatte (…) eine Autorität, nur weil sie so gut war. Wenn sie sich neben einem Vogel auf die Erde knien würde, um ihn zu betrachten, dann würde alles, was hinter ihr ist, jeder Baum, jede erhobene Faust, jeder Gedanke, alle Dinge würden sich mit ihr neigen. (…) Die Dinge müssen es nicht, dieser Gott befiehlt es nicht, aber sie tun es. Weil er das Gute ist. (…) Dieser Gott – wirklicher und härter als Atomkerne, strenger und konsequenter befehlend als mutierte DNA, freier als unsere Gesetze – er hätte in seiner Güte den Krebs zwingen können, sich zurückzuziehen. Das hätte er gekonnt – der Gott –, das wusste ich. Er passte nicht zu Papas Tod.“ (82f.)
Wo alle Versuche zu verstehen, ins Leere laufen, fallen die Erklärungen buchstäblich ins Absurde; die Seele bleibt gegenüber den Antworten, die angeboten werden, stumm. Und so zeichnet Magnis im Bild einer zynischen Theaterszene die Frage nach dem Sinn oder Nicht-Sinn des Ganzen als einen grandiosen Zirkus des Absurden. Vor einem hochgelehrten Publikum, das empört ist, ratlos oder blasiert, tritt der Schmerz auf als boshafter Clown in einer Welt, in der es keine „Geschäftsleitung“ mehr gibt (96–101; vgl. 191–196). Der Schmerz, dieser vielbeschworene „Fels“ des Atheismus (99)3, ist eine „Petze“ (138–140, 183), die sich hämisch auf-spreizt, wenn sie ihre eindeutige, wissenschaftlich ernüchterte Botschaft verkündet, dass es überhaupt nie eine „Geschäftsleitung“ gegeben habe, dass wir allein seien im Universum, dass wir uns damit abzufinden hätten, aber doch „das Beste draus machen“ sollten. (139)
Wie aber soll man aus einem Dasein, das in den definitiven Tod führt, etwas „Bestes“ machen? Gleichen solche Versuche nicht dem absurden Unterfangen, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen? Müsste man nicht endlich dafür sorgen, dass Gott aus unserem Denken verschwindet? – An dieser Stelle schlagen in der jungen Frau die Fassungslosigkeit und ihr pochender Schmerz um in eine einzige kalte Wut: „Und dann hab ich es dem Gott gesagt. Ins Dunkle hinein. Dass ich ihn hasse. Ich hab ihn so beschimpft, wie man jemanden beschimpft, dem man weh tun möchte, den man zutiefst verletzten will, noch mehr: den man dazu bringen will, sich zu wehren, zu regen, und wenn das nicht möglich ist – ihn umzubringen. (…) Ich hab ihm geschworen, dass ich nie wieder mit ihm sprechen werde, dass ich ihn den Rest meines Lebens hasse dafür. Das Schlimme war ja, dass ich wusste, dass es ihn gab (…) Also, was für ein Schwein ist das, das nicht mal meinen Glauben an seine Wunder will!!! Ich habe ihm gesagt: ‚Ich glaube nicht mehr an dich. Du bist tot. Ich hasse dich.‘ Und dann war wieder Stille.“ (108)
Die Hilflosigkeit der Erwachsenen
Der verzweifelte Versuch der jungen Frau, aufzuräumen mit Gott, führt sie zeitweilig knapp vor die Grenze zum ...