1 EINLEITUNG
1.1 Problemstellung und Motivation
Seit Beginn der Transplantationsmedizin hat diese eine beachtliche Entwicklung durchlaufen. Alle Beteiligten im System versuchen die klinischen, wissenschaftlichen und organisatorischen Verfahren stetig zu verbessern und weiterzuentwickeln. Die Medizin ist wundersam, vermag sie doch scheinbar die Grenzen des Lebens zu überwinden und Schwerkranken ein ‚neues’ Leben zu ermöglichen. Mit dieser Praxis entsteht die Suche nach der Legitimität ihres Vorgehens, seien es forschungsethische Fragen oder Fragen einer gerechten Allokation. In allen Bereichen kann von einer polarisierenden Wirkung der Transplantationsmedizin ausgegangen werden. Doch in diesem gesamten System gibt es den Einzelnen, der sich nicht in den großen Diskussionen um das Für und Wider aufhalten kann, sondern der sich entscheiden und mit dieser Entscheidung leben muss: der Patient der Transplantationsmedizin. Er spürt die Bedrohung seiner Krankheit am eigenen Leib und ist gleichzeitig durch sein soziales Leben dem Kampfplatz der Befürworter und Gegner ausgesetzt. Die Manipulationsskandale in Göttingen, Regensburg, München und Leipzig haben die Situation für die Patienten nicht verbessert. Die Wartezeiten werden länger und die allgemeine Kritik an der Transplantationsmedizin nimmt zu. Die abnehmende Bereitschaft zur Spende erhöht den Druck der Krankheit auf den Patienten. Zusätzlich weiß er sich nun mit einer Angst konfrontiert, Opfer einer Intrige zu werden und Ungerechtigkeit zu erfahren.
Die Anerkennung dieser Medizin ist keineswegs selbstverständlich. Wessen Leben nicht akut von ihren Möglichkeiten abhängt, kann sie mit Leichtigkeit ablehnen. Für den Transplantationspatienten ist sie meist die einzige Chance zu überleben, in jedem Fall aber mit der Hoffnung auf ein Leben mit weniger Schmerzen und Einschränkungen verbunden. Auch wenn sich in der Zwischenzeit eine Transplantationspsychologie etabliert hat, die sich mit dem Erleben und Verhalten der Patienten im Transplantationsprozess beschäftigt, wird dem Einzelnen, seinem Schicksal und seiner Lebenswirklichkeit wenig Beachtung geschenkt.
1.2 Zielsetzung und Abgrenzung
Diese Arbeit möchte den schwerkranken Menschen ganzheitlich in den Blick nehmen und die Auswirkungen der medizinischen Möglichkeiten auf alle Lebensbereiche verdeutlichen. Der einzelne Mensch ist zwar ein Patient der Transplantationsmedizin, aber er ist nicht aufteilbar in verschiedene Bereiche. Sein ganzes Wesen und Leben ist durchdrungen von der Krankheit und ihrer Therapieform.
In dieser Arbeit wird deshalb mit der detaillierten Beschreibung medizinischer Praxis und psychologischer Befunde die Lebenswirklichkeit des Transplantationspatienten nachgezeichnet, um in einem weiteren Schritt auf die persönliche Seelennot der Betroffenen zu schließen.
Ethische Diskussionen um das Hirntodkriterium oder eine gerechte Allokation, Maßnahmen zur Aufklärung der Gesellschaft oder Steigerung der Spendebereitschaft können in dieser Arbeit nicht behandelt werden. Die Seelsorge zielt auf die Begleitung des gesamten Prozesses, den der Klient von der Diagnose, über die Entscheidungsfindung bis hin zur Transplantation oder den Sterbeprozess durchläuft. Aus dieser Sicht geht es nicht darum, Einfluss auf die medizinische Praxis, die gesellschaftliche Aufklärung oder die Entscheidung des Patienten zu nehmen, sondern den Klienten bei der Bewältigung dieser schwierigen Lebensaufgabe zu begleiten. Diese Arbeit ergreift weder Partei für die Anerkennung noch für die Ablehnung der Transplantationsmedizin, sondern erwartet von der Seelsorge, die Entscheidung mit all ihren Ängsten und Hoffnungen sowie die damit einhergehenden Bewältigungsaufgaben mit-zu-gehen.
1.3 Aufbau der Arbeit
Der erste Teil befasst sich mit der Praxis der Transplantationsmedizin. Er gibt Einblick in die komplexen Zusammenhänge der Transplantologie, erläutert wichtige Begriffe und unterschiedliche Transplantationsverfahren. Außerdem werden die Voraussetzungen für eine Spende und die Heilungsmöglichkeiten thematisiert. Das letzte Kapitel dieses Abschnittes, befasst sich mit den medizinischen Notwendigkeiten des postoperativen Lebens.
Ein fundiertes Wissen über die Transplantationsmedizin ist für den Seelsorger unabdingbar. In der seelsorglichen Begleitung können die Sorgen des Patienten in Bezug auf die Krankheit, die Operation oder das Transplantat thematisiert werden. Diese Sorgen zu banalisieren oder sie aufgrund fehlender Information nicht einordnen zu können, schließt einen wesentlichen Teil der Lebenswirklichkeit des Patienten aus. Dabei ist besonders für das seelsorgliche Gespräch soviel Vertrauen wünschenswert, dass alles thematisiert werden kann, was die Seele belastet.
Das zweite Kapitel befasst sich mit der Transplantationspsychologie. Mithilfe psychologischer Literatur soll die konkrete Lebenswirklichkeit der Patienten in den jeweiligen Phasen des Transplantationsprozesses differenziert dargestellt werden. Es werden allgemeine Aufgaben der Krankheitsbewältigung herausgearbeitet. In Bezug auf die Organtransplantationen wird zwischen den Herausforderungen der Lebend- und der postmortalen Spende unterschieden. Außerdem werden die psychischen Belastungen der Operation, der früh- postoperativen Zeit sowie des Lebens mit einem Spenderorgan vorgestellt. Der Psychologie des Sterbens wird an dieser Stelle verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Sie wird aber im seelsorglichen Teil detailliert erläutert.
Der Seelsorger stellt im ökonomischen Unternehmen Krankenhaus eine der wenigen Personen dar, der sich für die Sorgen, Ängste und Nöte Zeit nehmen und in besonderer Weise zuwenden kann. Die besonderen Herausforderungen, auf die Seelsorger dabei stoßen, sind Teil des seelsorglichen Kapitels dieser Arbeit. Hier werden die Themen behandelt, die den Patienten seelisch belasten, weil sie seine Entscheidungen, seine Integrität und sein Leben in Frage stellen können: Krankheit, Sterben und Tod im Allgemeinen; die richtige Entscheidung und die damit verbundene Angst; die veränderte Leiblichkeit nach der Transplantation; das Schuldempfinden und die Pflicht zur Dankbarkeit.
2 TRANSPLANTATIONSMEDIZIN
2.1 Die Organtransplantation
2.1.1 Begriffsbestimmungen
Eine Organ- oder Gewebetransplantation bezeichnet eine operative Maßnahme zur Übertragung gesunder, lebender Organe oder Gewebe von einem Spender auf einen schwerkranken Empfänger.2 Ein gesundes, funktionsfähiges Organ wird also einem Spender explantiert, um im Organismus eines Empfängers die Funktion eines kranken, zerstörten Organs zu ersetzen.
Es wird zwischen der postmortalen und der Lebendorganspende unterschieden. Bei der postmortalen Organspende werden Organe eines hirntoten Menschen verwendet, der vor seinem Tod in die Entnahme der Organe eingewilligt3 hat.
Postmortal können die Organe Leber, Niere, Pankreas, Herz und Lunge sowie die Gewebe Augenhornhaut und Gehörknöchelchen für eine Transplantation genutzt werden.4 Darm-, Gelenk- und Knochentransplantationen werden bisher nur vereinzelt unternommen. Der überwiegende Teil der in Deutschland durchgeführten Organtransplantationen erfolgt mit den Organen postmortaler Spender. So wurden im Jahr 2011 3.917 Organe postmortal entnommen, während im selben Jahr nur 795 Nieren- und 71 Leberteiltransplantationen durch eine Lebendspende durchgeführt wurden. Die Lebendtransplantation nimmt also einen geringeren Stellenwert in der deutschen Transplantationspraxis ein. Diese Tatsache ist insofern evident, als dass nur einzelne Nieren, Teile der Leber oder des Dünndarms in Form von Lebendtransplantationen übertragen werden können.
Außerdem wird die Praxis der Lebendtransplantation durch die Reglungen des Transplantationsgesetzes (TPG) eingeschränkt. Demnach ist die „Entnahme einer Niere, des Teils einer Leber oder anderer nicht regenerierungsfähiger Organe (…) nur zulässig zum Zwecke der Übertragung auf Verwandte ersten oder zweiten Grades, Ehegatten, eingetragene Lebenspartner, Verlobte oder andere Personen, die dem Spender in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen“5 und zwar nur dann, wenn zum Zeitpunkt der Organentnahme kein geeignetes Organ eines hirntoten Spenders zur Verfügung steht.6 Ein Komitee überprüft die verwandtschaftliche bzw. persönliche Beziehung der Beteiligten, ihre Einwilligungsfähigkeit sowie die Freiwilligkeit der Spende. Die psychosomatische Evaluation soll in erster Linie sicher stellen, dass ausreichende Ressourcen zur Verarbeitung und Bewältigung der kommenden Geschehnisse bei Spender und Empfänger verfügbar sind.7
2.1.2 Transplantationsimmunologie
Die komplexen Funktionen des Körpers werden durch das menschliche Immunsystem, den körpereigenen Schutzmechanismus, aufrecht erhalten. Eindringende Schadstoffe und Krankheitserreger werden vom Immunsystem als Gefährdung erkannt und, wenn es sich um einen gesunden Organismus handelt, abgewehrt. Eine reguläre Reaktion gegen Infektionserreger ist die Entzündung. Werden also im Rahmen der Transplantationsmedizin einzelne Zellen oder ganze, sog. solide Organe von einem Spender auf einen Empfänger übertragen, kommt es in aller Regel zu Abstoßungsreaktionen.8 Die Natur kennt nur einen Zustand, in dem fremde Zellen oder ein fremdes Organ vom menschlichen Immunsystem akzeptiert werden: Die Schwangerschaft.9
2.1.2.1 Transplantationsvarianten
Entscheidend für die Intensität der Abstoßungsreaktion ist das Maß der genetischen Differenzen zwischen Spender und Empfänger.
Vier genetische Transplantationsvarianten werden unterschieden:
Die autogene Transplantation bezeichnet die Verpflanzung körpereigenen Gewebes, d.h. Spender und Empfänger sind identisch. Hierbei kommt es zu keiner Immunreaktion gegen das Transplantat. Diese Maßnahme findet beispielsweise nach Verbrennungen Anwendung, um geschädigte Hautareale durch intakte Hautpartien zu ersetzen.10
Auch bei der syngenen Transplantation ist keine Abstoßung der übertragenen Zellen, Gewebe oder Organe zu erwarten, denn sie findet zwischen zwei genetisch identischen Individuen, also zwischen eineiigen Zwillingen, statt.
Mit der allogenen Transplantation werden einzelne Zellen oder ein solides Organ von einem Spender auf einen Empfänger derselben Spezies übertragen. „Zwar sind (sic!) die überwiegende Mehrheit der Gene (…) einer Spezies identisch“11, dennoch bleiben genetisch bedingte Unterschiede, die eine Abstoßung hervorrufen.
Als xenogene Transplantation bezeichnet man die Zellen- und Gewebeübertragung zwischen biologisch ungleichen Arten. Hierbei sind die immunologischen Differenzen so groß, dass die Abstoßungsreaktionen (noch) nicht kontrollierbar sind.
Alle im Folgenden beschriebenen Transplantationsabläufe beziehen sich ausschließlich auf die allogene Transplantation, da diese die (bisher) einzig gängige Praxis bei der Transplantation solider Organe darstellt. Syngene Organtransplantationen dürften aufgrund der besonderen Voraussetzungen relativ selten sein. Und obwohl bereits Schweineherzklappen anstelle mechanischer Herzklappen bei Menschen implantiert werden, ist die xenoge...