Symbole und Metaphern
Silja Goetz / Emily Forgot / Ulla Puggaard / Noma Bar / Olimpia Zagnoli / Lorenzo Gritti / Emiliano Ponzi / Marshall Arisman / Francesco Zorzi / Klaas Verplancke
Ideen von gestern
Retro-Chic
________ Stilmittel und Ideen vergangener Tage aufzugreifen – etwa den im 19. Jahrhundert recht beliebten Scherenschnitt wie hier – kann bei der richtigen Umsetzung in einen modernen Kontext interessante Ergebnisse erzielen. Dieser Entwurf der in Madrid lebenden deutschen Illustratorin Silja Goetz bedient sich dieser Methode sehr geschickt als zeitgenössische Metapher für eine unter der Prüderie viktorianischer Zeiten lodernde Sexualität.
Entworfen wurde dieser Buchumschlag für einen kontrovers diskutierten Roman von Jerome Charyn, der sich darin literarisch in die real in den Jahren 1830 bis 1886 lebende Autorin Emily Dickinson verwandelt, um in einer Art »erfundener Autobiografie« über deren »fiktional nachempfundene« innere Unruhe und starke Sexualität zu schreiben.
In Zusammenarbeit mit der Art Directorin Gabriele Wilson wurde das grundlegende Konzept der Illustration – die große Leidenschaft anzudeuten, die hinter der properen Fassade lodert – im Detail mehrfach modifiziert, von der Form des Schuhabsatzes bis zur Öllampe. Zudem war die Figur der Emily unter ihrem lilafarbenen Kleid anfangs noch nackt – dann traute man sich doch nicht, so weit zu gehen. Ganz zum Schluss suchte man noch ein eher der Zeit entsprechendes Höschen für sie aus – die letzte von Dutzenden Anpassungen.
The Secret Life of Emily Dickinson, Illustration für einen Buchumschlag W.W. Norton & Company
Art Director: Gabriele Wilson
Interpretationsmöglichkeiten
Die Zeichen der Zeit
________ Viele der Zeichen und Symbole, die wir jeden Tag sehen, nehmen wir als selbstverständlich wahr, weil sie dem Bild der Zeit entsprechen und genau zu ihrer Umgebung passen. Illustratoren vertrauen auf diese Allgemeingültigkeit – um sie dann entweder für ihre Zeichnungen »wörtlich« zu übernehmen – oder das allgemein Verständliche durch eine geheime Botschaft zu unterlaufen. Und manchmal sogar beides …
Für diese Werbekampagne des Magpie Studios für den Rumpus Room, die Dachterrassenbar des Boutique-Hotels Mondrian London, wollte Emily Forgot – so der Spitzname der in London lebenden und arbeitenden britischen Grafikerin und Illustratorin Emily Alston – den Geist der Jazz-Ära und der jungen aristokratischen Bohemians im London der 1920er-Jahre einfangen.
»Ich wählte Motive und Formen aus, die an die 1920er-Jahre erinnern und damals für Unterhaltung und Glamour standen«, sagt Forgot, »wobei ich mir eine gewisse Freiheit erlaubte – ähnlich der, die man sich nach ein paar Martinis zu viel heraunehmen möchte.«
Entsprechend spielerisch ist die Gestaltung, und so überträgt sich auch auf den Betrachter eine gewisse Leichtigkeit: eine willkommene Einladung in das angenehme, zugleich lockere und stilvolle Ambiente dieser hoch über der Themse thronenden Cocktailbar.
Werbekampagne für Rumpus Room, Mondrian London
Art Direction: Magpie Studio
Verblüffendes Nebeneinander
Zwei Symbole, zwei Farben
________ Schwarz und Rot ergeben eine besonders ausdrucksstarke Farbkombination: Diese fesselt den Blick und bleibt gut im Gedächtnis. Das Auffällige an dieser Illustration hier ist aber nicht allein die Farbwahl, sondern vor allem die verstörende Kombination zweier Symbolbilder – des Luftballons und des Vogelnests. Diese Kombination erregt sogleich Aufmerksamkeit: Worum geht es hier?
Wie die dänische Illustratorin Ulla Puggaard bemerkt, können finanzielle Themen manchmal schwer zu bebildern sein, insbesondere »wenn man auf die typischen Symbole wie Leitern, Regenbögen etc. verzichten will. In diesem Fall habe ich versucht, ein grafisch ansprechendes und kommunikatives Symbol zu finden, das gut zum Design des Magazins passt.«
Konkret geht es um einen Artikel in diesem Magazin, der sich mit riskanten Investitionen (Hedgefonds) in einer prekären wirtschaftlichen Lage beschäftigt. Während das in gediegenem Schwarz dargestellte Nest das klassische finanzielle Sparpolster repräsentiert, steht der in bedrohlich wirkendem Rot gezeichnete Ballon für die Gefahr, zu platzen. Tatsächlich handelt es sich bei Hedgefonds um eine zwar hohe Renditen versprechende, aber hochspekulative Anlagestrategie, die entgegen ihrer Bezeichnung (ein Hedgegeschäft dient in der Regel der Risikoabsicherung) für den Anleger höchst riskant ist.
Als Kind rannte Ulla Puggaard jeden Morgen durch den Wald zur Schule. Heute nutzt sie die Erinnerung daran auch für ihre Arbeit: »Ich verwende oft eine natürliche Umgebung, die mit surrealen Szenen vermischt wird, um ein bestimmtes Thema zu transportieren.«
In diesem Bild sind der spitze Schnabel und die Äste ein Symbol für die Gefährlichkeit des Nestbaus auf einem zum Platzen gefüllten Luftballon. Die Eier könnten zu Boden fallen, wenn der Ballon ein Loch bekommt. In jedem Fall ist es, wie Puggaard sagt, »ein riskantes Unterfangen, auf einem Luftballon ein Nest zu bauen«.
»Risky Investment« thinkMoney / TD Ameritrade Art Director: Tom Brown
Sinnlichkeit erzeugen
Die Kunst der Anzüglichkeit
________ Manchmal hat man einfach Glück und sieht es gleich – meistens bedarf es jedoch noch eines zweiten oder dritten Blicks, um eine optische Illusion als solche zu erkennen. Der in London ansässige israelische Künstler Noma Bar hat mehrere Bücher zu diesem Thema publiziert und ist ein Meister darin, mit Smbolen und Metaphern zu arbeiten, die zugleich ganz offensichtlich und doch auch schwer ganz zu erfassen sind.
Über dieses Bild sagt Bar: »Jeder kann selbst entscheiden, was er sieht. Ich nehme an, Sie werden zuerst die Federspitze und dann die weibliche Figur erkennen.«
Dass diese Figur nackt ist und eine gewisse Sinnlichkeit zum Ausdruck bringt, entspricht dem Thema des Artikels, den Bars Zeichnung illustriert. Darin geht es um die Behauptung, dass Frauen nicht erotisch schreiben könnten. Der das behauptet hatte, war natürlich ein Mann, und dem widersprach nun die Autorin Kathy Lette mit leidenschaftlicher Verve. Bar wollte, dass seine Illustration ebenso leidenschaftlich, aber auch logisch und clever wirken würde wie die Argumentation der Autorin. Er fand schließlich die Lösung direkt vor seiner Nase: am Ende seiner Feder.
»Women Writing about Sex«. The Times Saturday Review
Rational romantisch
Inklusive, nicht exklusive
________ Die in Mailand geborene und nach einigen Berufsjahren in New York heute dort auch wieder lebende Illustratorin Olimpia Zagnoli beschreibt sich selbst als einen kreativen weiblichen Typ, der aus einer Künstlerfamilie stammt, Vespa fährt und große runde Brillengläser trägt – vor allem aber sei sie in der Lage, wie ein beidhändig begabter Oktopus zu zeichnen. Diese erstaunliche Fähigkeit – und der übliche doppelte Espresso zur Stärkung – dürfte ihr eine große Hilfe gewesen sein, als es darum ging, diese Zeichnung für eine der bedeutendsten italienischen Tageszeitungen zu entwerfen, La Repubblica.
Visuell umgesetzt werden sollte die Idee, dass Wissenschaftler (und speziell Mathematiker) Geschichtenerzähler seien, die für ihre Storys eine eigene Sprache entwickelt hätten. So schnell ihr klar war, dass sie dafür geometrische Formen verwenden wollte, so klar war auch, dass sie nicht viel über Mathematiker wusste: »Das Einzige in Mathematik oder Wissenschaft, zu dem ich einen Bezug habe, sind Symbole, weil ich sie mir anschauen und mir vorstellen kann, was sie bedeuten.«
Tatsächlich sind wohl nicht sehr viele Leser versiert auf dem Gebiet der höheren Mathematik, doch unter einem Kreis und einem Quadrat kann sich jeder etwas vorstellen. Auch die abstrahiert dargestellten Figuren und ihr Verhältnis zueinander können schnell »gelesen« werden.
»Ich hoffe«, sagt Zagnoli, »diese Illustration wird von Leuten, die nichts mit Mathematik am Hut haben, genauso verstanden wie von Mathematikern oder anderen Wissenschaftlern«.
Zagnoli stellte sich vor, dass die Sprache der Wissenschaft höchst rational sei, nüchtern und klar – also »weder literarisch noch emotional oder dialektisch«. Was nicht heiße, dass sie nicht trotzdem geheimnisvoll-romantisch sein könne. Aus dieser Überlegung heraus entstand diese Illustration, auf der zwei ersic...