I
CHARAKTER
Waiho mā te tangata e mihi.
Überlass es anderen, deine Stärken zu loben.
FEGE DIE KABINE
Sei dir nicht zu schade
für die kleinen Dinge,
die erledigt werden
müssen.
Neuseeland – Wales, Carisbrook, Dunedin, 19. Juni 2010
„In Carisbrook ist es immer kalt“, sagt Conrad Smith, Center der All Blacks. „Der Wind peitscht aus der Antarktis herüber und lässt dir das Gemächt einfrieren.“ Auf den Plakaten für das bevorstehende Match prangt die Aufschrift: „Welcome to the House of Pain“. Cheftrainer Graham Henry macht mit seiner Frau Raewyn einen Spaziergang – ein vertrautes Ritual vor jedem Spiel. Seine Assistenten Wayne Smith und Steve Hansen plaudern im Frühstücksraum des Hotels mit Manager Darren Shand. Mentaltrainer Gilbert Enoka geht von Spieler zu Spieler und wechselt mit jedem ein paar Worte. Sie nennen ihn den barfüßigen Guru – „Barefoot Guru“.
Eine Etage über uns legt Zeugwart Errol Collins – Spitzname „Possum“ – die Trikots bereit. Jedes Team hat seinen „Poss“. Er ist für die Ausrüstung zuständig – Schutzpolster für die Torpfosten, Trainingsbälle, Warm-up-Jacken, Kaugummis, Trainingsstutzen und ein paar gute, nicht immer ganz ernst gemeinte Ratschläge. Der eigentliche Auftrag des Zeugwarts ist es, die Spieler zu umsorgen. Vor Test Matches legt er das schwarze Trikot aus. Bei den Maori gibt es das Wort taonga. Es bedeutet „Schatz“. Das schwarze Trikot ist ein solcher taonga, ein heiliger Gegenstand. Das schwarze Trikot mit dem Silberfarn. Seit die „Originals“ 1905 auf den Plan traten und Europa im Sturm eroberten, ist das schwarze Trikot ein Symbol für das Wesen und die Hoffnungen des kleinen Inselvolkes. In rund hundert Jahren wurde aus dem eher behelfsmäßigen Kleidungsstück mit den Schnürbändern am Kragen die moderne, schweißableitende und eng anliegende Gladiatorenrüstung von heute. Aber im Grunde ist das Trikot bis heute geblieben, was es immer war: Inbegriff für Höchstleistung, harte Arbeit und die Fähigkeit der Neuseeländer, sich mit Einsatz, Opferbereitschaft und Können an die Weltspitze zu arbeiten.
Erfolgreichen Leadern gelingt die Balance zwischen Stolz und Demut: Stolz auf die eigene Leistung, Demut vor der gewaltigen Aufgabe.
Nach einem frühen Mittagessen – Hähnchen, Ofenkartoffeln – eilen die Spieler zu zweit oder zu dritt ins Obergeschoss: der Kapitän, Richie McCaw, Kieran Read, Tony Woodcock, Brad Thorn, Joe Rokocokon … Die Auserwählten. Sie nehmen ihre Insignien entgegen: schwarze Shorts, schwarze Socken mit drei weißen Streifen, das schwarze Trikot mit dem silbernen Farnblatt. Sobald sie das Trikot übergestreift haben, nehmen ihre Gesichter eine entschlossene Siegermiene an. Aus Rugbyspielern werden All Blacks. „Ich erinnere mich noch an das erste Trikot von Richie McCaw“, erzählt Gilbert Enoka. „Er hatte die Angewohnheit, für etwa 45 Sekunden seinen Kopf darin zu vergraben.“ Heute bestreitet McCaw sein 91. Test Match.
„Ein Sieg gegen Wales reicht heute nicht“, verkündet ein Experte. „Heute muss ein hoher Sieg her.“ Im Stadion scheppern Bierdosen gegen die Bande. Am Himmel dreht ein Hubschrauber knatternd seine Runden. Jemand verkauft T-Shirts.
McCaw steigt aus dem Bus. Ein wildes Geschrei hebt an – ein pōwhiri. So heißt der traditionelle Willkommensgruß der Maori. Ein Maori hat einen taiaha – einen Wurfspeer – mitgebracht. Blitzlichtgewitter. McCaw nimmt die symbolische Herausforderung im Namen der Mannschaft entgegen. Frauen fallen in Ohnmacht. Männer ebenso. Die All Blacks eilen in Richtung Kabine.
In den Katakomben des Stadions stehen auf aufgebockten Tischen jede Menge Salben zum Einreiben, Bandagen und Becher mit Kohlenhydrate-Drinks. An der Wand hängt die neuseeländische Flagge, eine Kombination aus Union Jack und dem Kreuz des Südens. Von Theatralik ist nichts zu spüren. Das Team bereitet sich im Stillen vor. Viele haben Kopfhörer auf den Ohren. Oben ertönt ein 35.000-stimmiger Gesang: „Black! Black! Black!“ Während sich die Spieler bereitmachen, hält sich das Trainergespann im Hintergrund. Aufpeitschende Rhetorik? Fehlanzeige. Allenfalls ein Wort hier, ein Schulterklopfen da. Jetzt dreht sich alles um die Spieler und darum, zum Team zu verschmelzen. Die Zeit des Redens ist vorbei. Jetzt wird Rugby gespielt.
Für Dan Carter wird es nicht nur ein guter Tag, sondern einer seiner besten überhaupt. Der Spielmacher der Neuseeländer legt zwei Versuche. Der zweite wird mehrmals hintereinander in der Wiederholung gezeigt. Carter erzielt 27 Punkte und erweist sich als die perfekte Nummer 10. In den Zeitungen wird später zu lesen sein: „Die Waliser fanden kein Gegenmittel.“ Die All Blacks gewinnen mit 42 zu 7. Carter hat einmal mehr bewiesen, dass er unentbehrlich ist. Doch vor allem ist es Richie McCaws Sternstunde. Nach dem heutigen Spiel ist er laut Statistik der erfolgreichste Mannschaftskapitän, den die All Blacks je hatten.
In der Kabine geht es feuchtfröhlich zu. Der Raum füllt sich mit Journalisten, Politikern, Sponsoren, deren Söhnen und den besten Freunden der Söhne. Dr. Deb vernäht ein paar Wunden. Richie McCaw schleppt sich nach draußen zu den Medienvertretern. Ein paar Forwards bibbern in großen, mit Eis gefüllten Abfalleimern – die allerneueste Regenerationsmethode. Im Hintergrund läuft Rap und später Reggae. Nach einer Weile komplimentiert Teammanager Darren Shand alle Außenstehenden hinaus. Jetzt ist nur noch das Team im Raum. Im Allerheiligsten. McCaw, Read, Thorn, Smith, Carter, Dagg, Muliaina. Alles berühmte Namen. Wer sie so aneinandergequetscht auf den Bänken sitzen sieht, könnte sie für etwas groß geratene Schuljungs halten. Nachbesprechung.
Die Gesprächsleitung übernimmt Mils Muliaina, der wegen einer Verletzung nicht mitspielen konnte und heute zum „Off-field Captain“ gekürt wurde. Die Spielregeln der Besprechung sind ähnlich wie in einem whare. So heißt das Versammlungshaus der Maori, in dem jeder sprechen, seine Sicht der Dinge darlegen und seine Geschichte erzählen kann. Muliaina erteilt Assistenztrainer Steve Hansen alias „Shag“ das Wort. Er nimmt kein Blatt vor den Mund: „Das war gut, aber nicht gut genug. Die Gassenarbeit müssen wir deutlich verbessern. Wir dürfen uns keine Fehler erlauben. Andere Gegner werden es uns nicht so leicht machen. Wir müssen auf dem Teppich bleiben und dürfen nicht leichtsinnig werden. Vor uns liegen mehrere schwere Spiele.“ Er übergibt das Wort an Wayne Smith, den anderen Assistenztrainer. Smithy ist ein strammer, hagerer Typ mit scharfem Blick und markanten Gesichtszügen. Er kennt seine Männer. Er weiß, wie sie denken, wie sie arbeiten, wie man das Beste aus ihnen herausholt und wie viel Mumm sie in den Knochen haben. Er spricht in aller Kürze ein paar wichtige Punkte an und übergibt an „Gilly“, Dr. Nic Gill, den Konditionstrainer. Nach Gilly ist Graham Henry alias „Ted“ an der Reihe, der als Cheftrainer so etwas wie der Rektor der All Blacks ist. Im Fernsehen kommt der trockene Humor des geistreichen Henry nicht immer so richtig zur Geltung. Er ist hier der Boss, die graue Eminenz, der Zirkusdirektor für die Roadshow der All Blacks.
Das ist die Herausforderung: Sich immer weiter verbessern, immer besser werden – auch wenn du schon der Beste bist. Gerade dann, wenn du der Beste bist.
Henry gratuliert McCaw, der sich seit heute den erfolgreichsten All-Blacks-Kapitän aller Zeiten nennen darf. Dann gibt er den Spielern noch mit auf den Weg, dass sie sich auf eine Menge Arbeit einstellen sollen. Jede Menge. Muliaina empfiehlt den Spielern, sich immer wieder vor Augen zu führen, welche Entbehrungen sie auf sich genommen haben, damit sie in diesem Raum dabei sein dürfen. Zum Schluss fordert er alle auf, auf McCaw anzustoßen.
„To Skip!“, sagt der Off-Field Captain.
„To Skip!“, schallt es ihm entgegen.
„Gut gemacht, Jungs“, sagt er. „Auf geht’s.“
In diesem Moment passiert etwas, das man nicht erwarten würde. Zwei ältere Spieler – einer der beiden war schon zweimal internationaler Spieler des Jahres – greifen sich jeweils einen Besen und machen sich daran, die Kabine zu fegen. Sie fegen den Dreck und die Bandagenreste in die Ecke, wo sie kleine Häuflein bilden. Während die Menschen im Land sich im Fernsehen die Replays ansehen und die schulpflichtigen Kids in ihren Betten vom Ruhm der All Blacks träumen, beseitigen die All Blacks eigenhändig die Unordnung, die sie hinterlassen haben. Sie fegen die Kabine aus.
Und sie fegen sehr gewissenhaft.
Damit es niemand anderes machen muss.
Denn niemand räumt den All Blacks hinterher.
Die All Blacks sorgen für sich selbst.
„Das ist gelebte Selbstdisziplin“, sagt Andrew Mehrtens, der einmal Verbinder der All Blacks war (die Neuseeländer nennen diese Position „first five eight“) und bis heute der zweiterfolgreichste Scorer ist, den die All Blacks je in ihren Reihen hatten. „Hier wird nicht davon ausgegangen, dass einem jemand die Arbeit abnimmt. Dadurch lernt man auch, nicht abzuwarten, bis einem Arbeit aufgetragen wird.“
„Wer im täglichen Leben Selbstdisziplin übt“, meint Mehrtens, „ist auch auf dem Spielfeld disziplinierter. Wenn die Jungs als Mannschaft an einem Strang ziehen sollen, braucht es Disziplin. Mit einer Truppe von Individualisten fängst du nichts an. Das heißt nicht, dass du automatisch jedes Spiel gewinnst“, erklärt er, „aber auf lange Sicht wird das Team dadurch besser.“
Eine Ansammlung talentierter Einzelspieler ohne Selbstdisziplin ist zum Scheitern verurteilt. Charakter schlägt Talent.
Vince Lombardi, der legendäre Coach des American-Football-Teams Green Bay Packers, übernahm bei seinem Amtsantritt eine Truppe, die das Glück im Stich gelassen hatte. Seit Jahren dümpelten die Green Bay Packers im Tabellenkeller der NFL vor sich hin. Nicht einmal die Fans glaubten an ein Comeback. Das war 1959. Zwei Jahre später gewann die Mannschaft die NFL. 1962 und 1965 wiederholten sie diesen Erfolg. 1966 und 1967 holten sie den Super Bowl. Sein Erfolgsrezept – er nannte es das „Lombardi-Modell“ – ging von einer einfachen Erkenntnis aus:
„Nur wer sich selbst kennt, kann wirksam führen.“
Für Lombardi war Selbsterkenntnis die Grundlage für alles andere. Auf diesem Fundament führte er seine Teams und sich selbst zum Erfolg. Im ersten Schritt müssen wir uns also unsere eigenen Werte klarmachen und uns zu diesen bekennen. Wenn wir das eigene Ich erkennen, so Lombardis Überzeugung, entwickeln wir uns zu integren Menschen mit Charakter. Und Charakter und Integrität sind der Nährboden für Qualitäten, die ein Leader braucht.
Jon Kabat-Zinn erzählt (in seinem Buch Wherever You Go, There You Are)* eine Episode aus dem Leben des visionären Architekten und Denkers Buckminster Fuller. Fuller stand in einer tief deprimierten Phase einmal kurz davor, Selbstmord zu begehen, bis er sich ein paar Fragen stellte, die sein Leben grundlegend veränderten:
„Was ist meine Aufgabe auf diesem Planeten? Was gibt es, das getan werden muss, womit ich mich ein bisschen auskenne und das wahrscheinlich nicht geschehen wird, wenn ich es nicht in die Hand nehme?“
Diese Fragen wurden zur Inspirationsquelle für Lombardi und können auch uns inspirieren. Konkret kann das heißen, dass wir Verantwortung für ein Team, für ein Unternehmen oder auch für das Leben Tausender Menschen übernehmen. Oder es kann schlicht und einfach heißen, dass wir die Kabine fegen. In beiden Fällen ist es der Charakter, auf dem alles aufbaut. Und Charakter entsteht zunächst einmal durch Demut. Jedes Mal zum Saisonstart hielt Lombardi das schweinslederne Spielgerät der Football-Spieler in die Höhe und sprach: „Das hier, meine Herren, ist ein Football.“
Unter ihrem Coach John Wooden gewannen die Basketballer der UCLA Bruins sieben Jahre hintereinander die landesweiten US-Collegemeisterschaften – zum ersten Mal 1967. Zu Beginn jeder neuen Saison, so berichtet die Autorin Claudia Luther, setzte sich Wooden mit seinem Team in der Umkleidekabine zusammen und erklärte in aller Ausführlichkeit – und das konnte sehr, sehr lange dauern –, wie man Basketballsocken richtig anzieht:
„Schaut euch die Ferse ganz genau an. Der Strumpf muss absolut faltenfrei sitzen ... Mit jeder Falte handelt ihr euch todsicher eine Blase ein, und jede Blase kostet Spielzeit. Und wenn es dumm läuft, wird am Ende der Trainer an die Luft gesetzt, nur weil ihr Spielzeit vergeudet habt.“
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