20. und 21. Jahrhundert
Open Flair Festival 2013 in Eschwege © akg-images/Jazz Archiv Hamburg / jazzarchiv
Zwischen Herausforderung und Gebrauchsgegenstand – Musik im 20. und 21. Jahrhundert
Der Zeitraum von 1900 bis heute zeichnet sich, was Musik betrifft, durch zwei tiefgreifende Entwicklungen aus. Die eine vollzog sich auf innermusikalischer Ebene und trat um 1910 zutage – in Arnold Schönbergs Ausbruch aus der tonalen Ordnung, die jahrhundertelang nicht nur die Harmonik, sondern auch die musikalische Form getragen hatte, und in der Preisgabe einer regelmäßigen Rhythmik bei Komponisten wie Igor Strawinsky oder Béla Bartók. Wie nie zuvor forderte seither die sogenannte »Neue Musik« das musikalische Hören heraus und warf immer wieder neu die Frage auf: Was ist Musik? Die andere Entwicklung war technologischer Natur. Zunächst Schallplatte und Radio und später dann zunehmend leistungsfähigere Formen der Speicherung und der Fernübertragung von Klängen veränderten das Verhältnis des Menschen zur Musik grundlegend. Musik war nun nicht mehr gebunden an die Gegenwart von Musikern und wurde für jeden zu jeder Zeit verfügbar. Mit der Technik entstanden aber auch neue Möglichkeiten der elektronischen Klangerzeugung und Klangbearbeitung. Will man die Musikgeschichte der jüngsten Zeit verstehen, müssen beide Entwicklungen zusammengesehen werden.
Die Preisgabe der Tonalität und der regelmäßigen Rhythmik entfesselte in der Musik eine Entwicklung mit ungeheurer Dynamik, die nach und nach alle Aspekte des Komponierens erfasste – ähnlich wie in der bildenden Kunst der von Künstlern wie Picasso oder Kandinsky fast zeitgleich vollzogene Verzicht auf das Gegenständliche in der sogenannten abstrakten Malerei. Alles, was man einmal in musikalischen Dingen für selbstverständlich gehalten hatte, wurde nach und nach infrage gestellt. Zwar gab es immer wieder Versuche, einen Weg als den einzig möglichen auszugeben. Bis heute ist aber die Frage, ob die musikgeschichtlichen Entwicklungen einer »historischen Logik« folgen und welche diese sei, nicht eindeutig zu beantworten. Fest steht allein: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fächerte sich die Musik in eine Vielfalt von Strömungen auf, von denen keine mehr den Anspruch erheben kann, sie allein repräsentiere »die« Musik der jüngsten Zeit.
Was den technologischen Umbruch betrifft, hatte Thomas Edison zwar schon 1877 mit seinem Phonographen das erste funktionierende System der Klangspeicherung vorgestellt. Erst mit der Schallplatte, die sich um 1900 durchsetzte, stand aber ein Medium zur Verfügung, das in großen Stückzahlen hergestellt werden konnte und dazu noch relativ unempfindlich und leicht transportierbar war. Sie gestattete, Musik in klingender Form unter die Leute zu bringen. Bis dahin war dies allein über reisende Musiker oder den Austausch von Partituren möglich gewesen. Die Einführung des Radios mit seinen weltumspannenden Empfangsmöglichkeiten war dann wenige Jahre später ein weiterer großer technologischer Schritt. Auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht nicht so ausgesehen haben mochte, stellte sich diese technologische Entwicklung als die folgenreichste der jüngeren Musikgeschichte und als eine wahrhafte Revolution heraus.
Live dabei – Das Theatrophon
Marcel Proust war 1911 von einer Direktübertragung von Claude Debussys Pelléas et Mélisande aus der Pariser Opéra über Telefonleitungen dermaßen begeistert, dass er sie wärmstens weiterempfahl. Die Übertragung mittels des »Theatrophons« wurde schon seit den 1890er-Jahren auch in anderen Metropolen wie Brüssel oder London angeboten. Sie war ein Vorläufer der Live-Übertragung im Radio genauso wie in jüngster Zeit der sogenannten Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker.
Die wichtigste Auswirkung von Schallplatte und Radio war zunächst, dass sie den Zugang zu Musik entscheidend vereinfachten, ihn sozusagen »demokratisierten«: Wer ein Radio besitzt, kann damit Musik hören, und wer das Geld hat, kann eine Schallplatte kaufen. Und da diese Medien erstmals die Verbreitung über große Distanzen erlaubten, lösten sie einen Globalisierungsschub in musikalischen Dingen aus.
Die Klangspeicherung entpuppte sich zudem als eine Form des »kulturellen Gedächtnisses«. Wie eine Fotografie hält die Tonaufnahme Musik in einer Art Schnappschuss fest, der mit wachsendem historischem Abstand zu einem Zeugnis seiner Entstehungszeit wird: Historische Aufnahmen erlauben uns, noch heute Sängerinnen, Orchester, Jazz-Bands oder singende Bauern längst vergangener Tage zu hören. Und: Besitzt man mehrere Einspielungen von Beethovens »Eroica« oder eines Jazz-Standards aus unterschiedlicher Zeit, lässt sich die Interpretationsgeschichte dieser Musik hörend nachvollziehen.
Auch verhalf die Klangspeicherung Musikformen wie Volksmusik, Jazz, Schlager und Popmusik, die vorwiegend mündlich überliefert wurden, zu einem »Gedächtnis«. Die Geschichte des Jazz oder der Rockmusik zu schreiben ist nur deshalb möglich, weil wir über Tondokumente verfügen.
Die Verbesserung der Klangqualität zusammen mit der leichten Zugänglichkeit und der heute fast grenzenlosen Verfügbarkeit von gespeicherter Musik schuf aber eine enorme Konkurrenz zur live gespielten, ganz gleich welcher Art. Diese verlor entsprechend an Bedeutung und bildet heute nur noch einen kleinen Anteil an der insgesamt in der Gesellschaft konsumierten Musik.ΑΩ UMo
Mit dem Phonographen um die Welt – Speicherung und Archivierung von Klängen
Im September des Jahres 1900 besuchte eine Gruppe thailändischer Theatermusiker Berlin. Sie gastierten im Rahmen einer sogenannten Völkerschau im Berliner Zoo, wo sie mehrfach vor einem faszinierten Publikum auftraten. Diese Gelegenheit nutzte der Psychologieprofessor Carl Stumpf, um mit einem Edison-Phonographen Aufnahmen der dargebotenen Musik zu machen. Er interessierte sich besonders für psychologische Aspekte des Hörens und für die Frage nach den Ursprüngen von Musik. Mit diesen Tonaufnahmen, die sich heute als Sammlung »Archiv Siam« im Ethnologischen Museum in Berlin befinden, wurde der Grundstein gelegt für das Berliner Phonogramm-Archiv. Wenig später wurde es zunächst als Teil des Psychologischen Instituts der Berliner Universität offiziell gegründet. Der Tätigkeitsschwerpunkt lag auf der Erforschung von nicht-europäischen Musikkulturen. So veröffentlichte Stumpf 1901 eine Studie über Tonsystem und Musik der Siamesen, die auf diesen Aufnahmen, seinen Beobachtungen der Musiker und einer Untersuchung ihrer Instrumente basierte.
Das von Carl Stumpf aufgenommene thailändische Ensemble im September 1900 in Berlin © Ethnologisches Museum, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Bereits 1905 übertrug Stumpf die Leitung des Archivs seinem Mitarbeiter Erich Moritz von Hornbostel. Dieser war daran interessiert, die Sammlungen beständig zu erweitern und wissenschaftlich auszuwerten. Er widmete sich in zahlreichen Aufsätzen ganz unterschiedlichen Musikkulturen, etwa der japanischen und der türkischen. Ausgangspunkt waren dabei immer die im Archiv vorhandenen Tonaufnahmen »exotischer« Musikformen, die zunächst meist transkribiert, das heißt: in westliche Notation übertragen wurden. Die so entstandenen Transkriptionen konnten dann analysiert und verglichen werden. Von Hornbostel bemühte sich zudem, seine Forschungsarbeit methodisch und theoretisch zu reflektieren. Er spielte also nicht nur eine wichtige Rolle beim Aufbau eines bis heute weltweit renommierten Archivs, sondern prägte zudem die Entwicklung einer neuen wissenschaftlichen Disziplin: der Vergleichenden Musikwissenschaft.
»Tausche rumänische gegen tunesische Musik«
Béla Bartók, ungarischer Musikforscher und Komponist, nahm 1912 Kontakt zum Berliner Phonogramm-Archiv auf, um einen Austausch anzuregen. 1913 sandte er eine Auswahl von zehn Wachszylindern mit rumänischen Liedern aus dem Ethnographischen Museum Budapest nach Berlin und erbat sich im Gegenzug Aufnahmen tunesischer Musik aus dem Berliner Bestand. Diese von Bartók selbst aufgenommenen Zylinder sind bis heute erhalten.
Von der Erforschung und dem Vergleich unterschiedlichster Musikformen versprachen sich die Wissenschaftler einerseits ein besseres Verständnis einzelner Musikkulturen, darüber hinaus waren sie aber auch daran interessiert, gewissermaßen die Ursprünge der Musik zu ergründen. Sowohl die Musikwissenschaft als auch andere Disziplinen wie Völkerkunde, Kunstgeschichte, Biologie und Psychologie waren dabei wichtige Bezugspunkte. Die Vergleichende Musikwissenschaft wird heute oftmals als Vorgängerin der Musikethnologie bezeichnet, Erkenntnisinteressen und Arbeitsmethoden haben sich jedoch grundlegend gewandelt. So bezieht die moderne Musikethnologie bei der Erforschung verschiedener Musikformen immer deren soziale und gesellschaftliche Kontexte mit ein.
Die Voraussetzung für die Etablierung der Vergleichenden Musikwissenschaft war die technische Möglichkeit, Klang aufzunehmen. Mit dem Edison-Phonographen konnte Musik aufgezeichnet und direkt im Anschluss wiedergegeben werden. Dadurch wurde die Übertragung in Notenschrift wesentlich erleichtert. Es war nicht mehr notwendig, direkt während des Hörens das Gehörte zu notieren. Aufnahmen konnten somit auch von nicht musikalisch Ausgebildeten gemacht und dann dem Archiv zur weiteren Bearbeitung übergeben werden. Um sicherzustellen, dass die in den unterschiedlichsten Situationen entstandenen Aufnahmen für das Archiv brauchbar waren, entwarf von Hornbostel eine Anleitung für den Umgang mit dem Phonographen. Diese enthält neben technischen Empfehlungen auch den Hinweis, möglichst viele verschiedene Musikformen aufzunehmen und ergänzende Informationen zu Instrumenten und zum Verwendungskontext zu sammeln. Das Phonogramm-Archiv verlieh Aufnahmeausrüstungen an Wissenschaftler, Missionare und Expeditionsteilnehmer, um auf diese Weise die Sammlung beständig zu erweitern. Bis zum Ende des...