HOMÖOPATHIE UND REGELKREISE
Wissenschaftliche Modelle geben Funktionsweisen in schematisierter, auf wesentliche Züge komprimierter Darstellung wieder. Sie stellen eine effektive Hilfe bei der Aufstellung von Hypothesen dar, aus denen in der Folge Theorien entstehen können.
Das homöopathische Ähnlichkeitsprinzip, moderne Erkenntnisse über die Rezeptordynamik und komplexe Regelkreissysteme
Zu seiner Zeit glaubte Hahnemann, homöopathische Mittel würden die Lebenskraft stärken. Heute sprechen wir eher von einer Stärkung des Immunsystems. Doch was passiert genau? Mit Sicherheit weiß man es bisher nicht, aber in diesem Kapitel soll ein erstes Modell vorgestellt werden, an dem sich Wissenschaftler heutzutage die Wirkung der allerkleinsten Gaben zu erklären versuchen. Da homöopathische Mittel oft in Potenzen unter der D24 verwendet werden, in denen immer noch kleine chemische Mengen pflanzlichen, mineralischen oder tierischen Ursprungs zu finden sind, wird in einem ersten Schritt auf die Wirksamkeit kleinster Dosen pharmakologisch wirksamer Substanzen eingegangen. Mit dieser Vorgehensweise umgeht man das Problem hoher Verdünnungen, in denen rechnerisch keine Moleküle mehr vorhanden sind. Das biophysikalische Paradigma der homöopathischen Hochpotenzen soll an späterer Stelle diskutiert werden.
Komplexe Regelkreissysteme
Ein möglicher Wirkmechanismus homöopathischer Mittel wird heute in deren Fähigkeit gesehen, komplexe Regelkreissysteme zu regulieren. Da das Verständnis besagter Regelkreise unabdingbar für das Verstehen dieses Erklärungsmodell ist, hier erst einmal die wichtigsten Fakten: Ganz generell werden Regelkreise verwendet, um Regulationsvorgänge zu beschreiben, in denen variable Werte in einem bestimmten Rahmen, also zwischen einer unteren und oberen Grenze, gehalten werden sollen. Dabei wird eine Abweichung vom Soll-Zustand über Signale an ein Regulationssystem mitgeteilt, das die Veränderung registriert und Vorgänge in Kraft setzt, um den Soll-Zustand wiederherzustellen.
Im menschlichen Körper gibt es zahllose Beispiele solcher Regelkreissysteme: die Regulation des Blutdrucks oder des kardiovaskulären (Herz-Kreislauf) und respiratorischen (Atmung) Systems, die Wärme- und Blutzuckerregulation, der gesamte Hormonhaushalt, die Aufnahme von Nährstoffen und die Natrium-Kalium-Pumpe an der Zellmembran. Allseits bekannt ist die Regulation des Blutzuckers. Üblicherweise schwankt dieser beim gesunden Menschen um einen normalen unteren und oberen Wert (Nüchternzucker: 65 – 120 mg/dl). Wenn wir etwas Süßes essen, steigt der Blutzucker rapide an, was dazu führt, dass körpereigenes Insulin ausgeschüttet wird, um den erhöhten Blutzuckerspiegel zu senken. Funktioniert dieser Regelkreis nicht mehr, fällt die Regulation aus. Es kommt entweder zum Unterzucker, zur Hypoglykämie, oder zum zu hohen Zucker, Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) genannt.
Die Sache ist insofern höchst komplex, da die Regulation eines bestimmten Regelkreises wiederum andere Regelkreise beeinflussen kann bzw. direkt in diese eingreift. Das geschieht auf und zwischen allen körperlichen Ebenen, sprich: auf Zell- oder Organ-Ebene, auf der körperlichen Ebene als Ganzes und auch auf der psychischen Ebene.
Somit dienen Regelkreismodelle in der Medizin dazu, Teilfunktionen eines komplexen Ganzen zu beschreiben. Damit ein Regelkreis im Körper funktionieren kann, bedarf es folgender Komponenten:
• anatomische und biochemische Wirkmechanismen, die regulierbar und reversibel sind, z. B. endokrine Drüsen, Gefäßwände, Zellmembranen und Enzyme.
• Signalmoleküle wie Hormone, Cytokine und Neurotransmitter (Botenstoffe).
• Rezeptoren, an denen die Signalmoleküle andocken. Diese gibt es an der Zellmembran und in der Zelle selbst. Sie sind höchst flexibel und anpassungsfähig.
Rezeptordynamik
Bei dem hier vorgestellten Erklärungsmodell1 der Wissenschaftler Paolo Bellavite und Andrea Signorini sind die Rezeptoren und ihr Verhalten von größter Bedeutung. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass etliche Phänomene, die auch bei Experimenten mit homöopathischen Mitteln beobachtet wurden, durch das Verhalten dieser Rezeptoren erklärt werden könnten – unter anderem,
• dass ein Mittel bei unterschiedlicher Dosierung unterschiedliche Wirkungen aufweisen kann.
• dass zwei unterschiedliche Mittel ein und dieselbe Wirkung zeigen können.
• dass ein Mittel zwar bei einem kranken Organismus, nicht aber bei einem gesunden wirkt.
• dass die Wirksamkeit eines Mittels je nach Zustand des Organismus variiert bzw. je nachdem, ob und auf welche Weise der Organismus mit anderen Mitteln vorbehandelt worden ist.
Doch wie funktionieren diese Rezeptoren? Um die Frage beantworten zu können, folgt eine grob vereinfachte Zusammenfassung der heute in der Biomedizin gängigen Vorstellungen über die Rezeptordynamik.
Generell dienen Rezeptoren zur Aufnahme von Signalen. Dabei können die Zellen die Anzahl ihrer Rezeptoren erhöhen (Sensibilisierung bis hin zur Hypersensibilität) oder verringern (Desensibilisierung, Anpassung, Toleranzerhöhung). Auf diese Weise sind sie in der Lage, sich an veränderte Bedingungen anzupassen und ihren eigenen Bedürfnissen gerecht zu werden.
Folgende gängige Zustandsänderungen der Rezeptoren sind bekannt:
• Sensibilisierung: Eine kleine Dosis eines Signalstoffs führt zu einer Vermehrung der Rezeptoren (und zwar nicht unbedingt nur der signalspezifischen, sondern in der Regel auch der unspezifischen), ohne dass die Zelle dabei wirklich aktiviert würde, das heißt, ohne eine Wirkung zu provozieren. Die Zelle ist jedoch sensibilisiert (entweder nur für den Signalstoff oder auch für andere Moleküle) und kann jederzeit schnell reagieren.
• Aktivierung: Eine stärkere oder normale Dosis eines Signalstoffs führt über die Rezeptoren zu einer Aktivierung der Zelle, was dann eine spezifische Wirkung hervorruft, beispielsweise eine Kontraktion (bei einer Muskelzelle) oder die Bildung eines Hormons (in einer Drüse).
• Desensibilisierung: Eine sehr starke oder sehr lange andauernde Ausschüttung von Signalstoffen führt dazu, dass die Rezeptoren für dieses spezifische Signal rasch abnehmen. In der Zelle kommt es zur Desensibilisierung auf den Signalstoff, was man Gewöhnungseffekt nennt. Da die anderen, unspezifischen Rezeptoren aber noch existieren, eventuell sogar noch zugenommen haben, kann die Zelle weiterhin auf andere Signale reagieren, ja sogar hochsensibel für diese sein.
Dieser dosierungsabhängige Umkehreffekt ist bereits seit Paracelsus in der Pharmakologie bekannt. Jedes Gift kann auch eine Heilwirkung entfalten: »Dosis fecit venenum« (»Die Dosis macht das Gift«). Die in der Heilkunde bekannte Arndt-Schultz-Regel besagt nichts anderes.
Das Ähnlichkeitsprinzip
Das Modell für die Wirksamkeit homöopathischer Mittel setzt genau an diesen Rezeptoren im Regelkreissystem an. Dabei geht man davon aus, dass die spezifischen Rezeptoren in einem erkrankten System sehr stark abnehmen und eine gesunde Selbstregulation somit nicht mehr möglich ist. Hypothetisch stimuliert nun das homöopathische Mittel – aufgrund des Ähnlichkeitsprinzips – andere Rezeptoren, die daraufhin eine vergleichbare, regulierende Reaktion hervorrufen. Dies soll nun anhand von drei Abbildungen verdeutlicht werden.
Abbildung 1
Abbildung 1 zeigt schematisch und höchst vereinfacht den Regelkreis eines gut funktionierenden Systems. Dabei wird der gesunde Zustand (G) durch pathologische Störfaktoren in den kranken Zustand (K) versetzt. Auf diese Veränderung des Soll-Zustands reagiert das System mit der Zunahme der Störsignale (s), welche sich in Form von Krankheitszeichen, Symptomen und veränderten Laborwerten äußern. Zudem führt sie über eine Vermehrung der spezifischen Rezeptoren (sr) zunächst zur Sensibilisierung des Regulationssystems und in der Folge zu dessen Aktivierung. Dem folgt die regulative Reaktion oder Antwort (r), die den kranken Zustand (K) in den gesunden Zustand (G) zurückführt. Das System reguliert sich hier selbst. Es ist eine Selbstheilung, in die von außen nicht eingegriffen werden muss. Von Interesse ist dabei, dass auch die Reaktion (r) zu Krankheitszeichen, Symptomen und veränderten Laborwerten führen kann. Krankheitssymptome wie Fieber wären dementsprechend Ausdruck eines körpereigenen Selbstregulationsversuchs, der deshalb per se nicht schlecht ist. Es könnte sogar zur Beeinträchtigung der Selbstregulation kommen, wenn man diese Symptome unterdrückt. So führt Fieber dazu, dass gewisse Mikroorganismen wie Bakterien oder Viren nicht mehr gut überleben können, weil sie die erhöhte Temperatur nicht aushalten.
Ein paar Grad Unterschied machen da einiges aus. Des Weiteren heizt es unser Immunsystem kräftig an. Mit jedem Grad Temperaturerhöhung verzehnfacht sich dessen Aktivität. Normales Fieber zu unterdrücken, bedeutet also auch, die körpereigene Immunabwehr lahmzulegen oder zumindest zu schwächen.
Abbildung 2
Abbildung 2 zeigt dasselbe System, welches aber jetzt anhaltenden oder sehr starken pathologischen Störfaktoren ausgesetzt ist. Der Krankheitszustand ist verschärft, was zu einer erheblichen oder anhaltenden Zunahme der Störsignale (s) führt. Das Regulationssystem reagiert auf diesen starken und/oder anhaltenden Reiz nun nicht mit einer kräftigen Erhöhung der Rezeptoren, wie man es vielleicht erwarten könnte, sondern genau mit dem Gegenteil. Die Anzahl der spezifischen Rezeptoren nimmt rasch ab, worauf eine regulative Reaktion in zunehmendem Maß nicht mehr stattfinden kann. Es kommt zur Desensibilisierung oder Gewöhnung. Andere Rezeptoren (ar) sind jedoch noch vorhanden und können sogar zunehmen. Das System bleibt deshalb für andere Signale weiterhin empfänglich, ja eventuell sogar überempfindlich.
Abbildung 3
Abbildung 3 zeigt nun ein System, in dem ein homöopathisches Mittel den Regulationsvorgang wieder in Gang bringt. Wie in Abbildung 2 hat das Regulationssystem die spezifischen Rezeptoren (sr) verloren. Jetzt dient das homöopathische Mittel als Signal, welches das System über einen anderen Rezeptor (ar) stimuliert, eine vergleichbare oder gleiche Reaktion (r) zu produzieren, wie sie durch Stimulation der Störsignale (s) entsteht – und das, obwohl die Zahl der spezifischen Rezeptoren verringert ist.
Komplexität und individuelles Vorgehen
Das vorliegende Beispiel ist ein höchst vereinfachtes Anschauungsmodell, denn im Krankheitsfall wird in aller Regel nicht nur ein Regelkreis gestört, sondern meist eine ganze Kette von ihnen. Je nachdem, wie und in welcher Reihenfolge die einzelnen kybernetischen Kreise im individuellen Fall betroffen sind, führt dies zu einer ganz bestimmten, individuellen Auswahl von Störsignalen, also Symptomen und Krankheitszeichen.
Hier wird die Eleganz der homöopathischen Methode deutlich. Nur ein analoges Prinzip wie das Ähnlichkeitsprinzip der Homöopathie macht es bisher möglich, anhand der Arzneimittelprüfungen Wirkstoffe zu finden, die be...