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Historische Begegnungen
Biografische Essays zur Schweizergeschichte
- 288 Seiten
- German
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Historische Begegnungen
Biografische Essays zur Schweizergeschichte
Über dieses Buch
Die alten Helden der Schweizer Geschichte haben abgedankt. Die "Historischen Begegnungen" präsentieren Vorkämpferinnen und Widersacher, welche die Entwicklung der Schweiz massgeblich geprägt haben: Frauen und Männer, die sich bekämpft oder ergänzt haben. Und deren Leistungen zu Unrecht vergessen wurden:
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Information
Der Spalter und
der Einiger
Constantin
Siegwart-Müller
UND
Henri Dufour

Kontrahenten im Sonderbundskrieg
Thomas Buomberger
Am Abend des 24. November 1847 glitt ein Dampfschiff mit einer illustren Gästeschar über den Vierwaldstättersee. Man hätte meinen können, die Luzerner Regierung sei auf einer Vergnügungsreise, doch passten weder die Jahreszeit noch das Gepäck zu diesem Ansinnen, und auch die Aufregung an Bord liess auf ein anderes Vorhaben schliessen. Zur anwesenden Regierungsprominenz gehörte auch Constantin Siegwart-Müller, während Jahren der dominierende Luzerner Politiker, der die katholisch-konservativen Kantone in den verheerenden Sonderbundskrieg geführt hatte. An eben diesem Tag, da die Luzerner Regierung flüchtete, um sich über den Furkapass ins katholische Wallis und später nach Mailand zu begeben, nahmen die siegreichen eidgenössischen Truppen unter General Guillaume Henri Dufour die Stadt Luzern ein und beendeten eine Woche später, nach der Kapitulation weiterer katholischer Kantone, diesen letzten Bürgerkrieg der Schweizer Geschichte.
Neben einigen katholischen Nonnen und Jesuiten, die zu Unrecht um ihr Leben fürchteten (es gab kaum «gewaltsame Angriffe auf die Keuschheit»), hatten die Flüchtenden die Staatskasse, das Archiv des Kriegsrats und das luzernische Staatssiegel mitgenommen. Wer einen prominenten Namen in katholischen Kreisen hatte, war auf dem Schiff. Zurückgelassen hatten sie Frauen und Kinder. Für Siegwart-Müller, der einst ein glühender Liberaler gewesen war, war indes der Krieg noch nicht zu Ende. Er konnte von Italien nach Österreich flüchten, wo er Kanzler Fürst Metternich ersuchte, den katholisch-konservativen Verlierern zu Hilfe zu eilen. Es war nicht das erste Mal, dass er Österreich um eine Intervention ersucht und damit die Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft aufs Spiel gesetzt hatte. Doch der schlaue Metternich wollte sich nicht in diesen innerschweizerischen Konflikt ziehen lassen, wie er das schon ein halbes Jahr zuvor abgelehnt hatte.
Erster Star der Schweizer Politik
Am Tag von Siegwarts Flucht erlebte Guillaume Henri Dufour seinen grössten Triumph mit dem Einzug seiner Truppen in die Stadt Luzern. Doch es war kein Triumph mit Siegesgeheul, sondern ein verhaltener, so, wie sich Dufour während des ganzen rund dreiwöchigen Kriegs zwischen den liberalen und konservativen Kräften zurückgehalten und möglichst viele Menschenleben geschont hatte. Wie sich seine Truppen zu benehmen hatten, befahl er in einer Proklamation am 5. November 1847, als der Krieg unmittelbar bevorstand. «Ich stelle daher unter Euern besondern Schutz die Kinder, die Weiber, die Greise und die Diener der Kirche. Wer seine Hand an Wehrlose legt, entehrt sich selbst und befleckt seine Fahne. Gefangene und Verwundete verdienen, umso mehr Euer Mitgefühl, als schon viele von Euch mit denselben zusammen im Eidgenössischen Dienst gestanden sind. Ihr werdet nirgends nutzlose Zerstörungen auf den Feldern anrichten und geduldig die augenblicklichen Entbehrungen zu ertragen wissen, welche die Jahreszeit mit sich bringt …»
Keine Zurückhaltung kannte die mehrheitlich liberale Bevölkerung Luzerns, als Dufours Soldaten einmarschierten, wie die Neue Zürcher Zeitung berichtete: «Unter unendlichem Jubel der liberalen Luzerner sind die eidgenössischen Truppen am 24. D. gegen Mittag in die Stadt Luzern eingezogen. Vor diesem Jubel verstummten die Trompeten, die Trommeln, die Musik […] Hundert und hundert Fahnen, sinnig geschmückt mit Blumen oder Inschriften, wehten den Eidgenossen aus den Häusern entgegen. Die Stadt Luzern, von ihren Tyrannen befreit, begrüsste in den Eidgenossen ihre Erretter.» Auch wenn Siegwarts Haus vollständig demoliert wurde und es teilweise zu Plünderungen der siegreichen Soldaten kam, die zu viel Alkohol getrunken hatten, waren die Übergriffe mässig. Dufour liess gegenüber Plünderern Disziplinaruntersuchungen durchführen, insgesamt 107. Die Plünderer waren Angehörige der untersten Schichten, die von der zu dieser Zeit herrschenden Wirtschaftskrise, ausgelöst durch eine Hungerkatastrophe, besonders betroffen waren.
Diese Hungersnot erreichte ihren Höhepunkt im Frühling 1847. Viele Leute hatten ihre letzten Reserven aufgebraucht – im Kanton Bern lebte mehr als ein Drittel der Bevölkerung mit Vorräten für weniger als fünf Tage. Das Kilo Kartoffeln, 1845 noch für 4 Rappen zu haben, kostete 17 Rappen, der Brotpreis hatte sich verdreifacht. Bis zu zehn Prozent der Bevölkerung erhielten Armenunterstützung. In den gebirgigen Gegenden war die Lebensmittelversorgung noch schlechter als im industrialisierten Mittelland. Im Gefolge der Hungerkrise wurden auch Gewerbe und Industrie in Mitleidenschaft gezogen. Die Löhne sanken, zudem musste ein grösserer Lohnanteil für Lebensmittel ausgegeben werden.
Nach dem Sieg der eidgenössischen Truppen war der Weg frei für eine fundamentale Umgestaltung der Eidgenossenschaft. Innerhalb weniger Wochen arbeiteten die Liberalen eine Verfassung aus, die im Sommer 1848 von der Mehrheit der Kantone angenommen wurde und die noch immer die Grundlage des heutigen Staatswesens bildet. Anders hätte es ausgesehen, wenn die konservativen, mehrheitlich katholischen Sonderbundskantone gesiegt hätten. Weil die Katholiken kein zusammenhängendes Gebiet hatten, wäre es nach einem Plan von Siegwart-Müller zu Gebietsverschiebungen gekommen. Damit hätte es bei der Tagsatzung, der Vertretung der Kantone, ein Patt gegeben. Es wäre eine Eidgenossenschaft mit zwei gleich grossen konfessionellen Blöcken entstanden. Man kann sich leicht vorstellen, dass ein solches Szenario, das auch Verschiebungen von Menschen, nach heutigem Sprachgebrauch ethnische Säuberungen, beinhaltet hätte, den Kern für permanenten Unfrieden in sich gehabt hätte.
Während Siegwart-Müller im Exil schmollte und auf Rache sann, wurde Dufour zum ersten Star der Schweizer Politik. Er erhielt für seine Verdienste von Genf ein Grundstück für sein Haus und von der Tagsatzung eine Entschädigung von 40 000 Franken, was eine so gewaltige Summe war und die ihn so schockierte, dass er sie gar nicht annehmen wollte. Immerhin gab er einen Zehntel für Verletzte auf beiden Seiten aus. Das Heldenbild Dufours wurde wesentlich geprägt von Hunderten von bildlichen Darstellungen, Gedenkmünzen, Trinkbechern, Medaillons, Krügen, Tassen, Tellern und was an Memorabilien sonst noch produziert wurde. Nach ihm wurden Strassen und Plätze benannt und auch der höchste Berg der Schweiz.
So unterschiedlich die späteren Wege der beiden waren, so verschieden ihre Herkunft, so hatten sie beide eines gemeinsam: Sowohl Constantin Siegwart-Müller, der Jurist und brillante Intellektuelle, als auch Guillaume Henri Dufour, der Ingenieur, Brückenbauer, Kartograf und Militärstratege, begeisterten sich in den 1830er-Jahren für den Liberalismus, der – ausgehend vom Kanton Tessin – in oft revolutionären Bewegungen die konservativen Regierungen weggefegt und durch liberale ersetzt hatte. Dieser Liberalismus hatte Schulreformen gebracht, der Handels- und Gewerbefreiheit zum Durchbruch verholfen, die Rechtsgleichheit eingeführt, die Folter abgeschafft. Er kam oft in antiklerikalem Gewand daher, was half, verkrustete Strukturen aufzulösen und sozialen und politischen Wandel zu beschleunigen. Doch beide, Dufour und Siegwart-Müller, wandten sich später vom Liberalismus in seiner radikalen Form ab; Dufour 1846 nach einer Revolution in Genf, die der Höhepunkt von jahrelangen bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Konservativen und Liberalen war. Er wurde selbst Opfer dieser Auseinandersetzungen und entwickelte einen Abscheu vor Extremen. Er wurde später zu einem gemässigten Konservativen, zu einem Vertreter des «juste milieu». Siegwart-Müller wurde Ende der 1830er-Jahre nach einem quasi-religiösen Prozess der Selbstfindung vom Radikalliberalen zum extrem Konservativen.
Ein guter und ein schlechter Schüler
Die späteren Kontrahenten waren in unterschiedliche Milieus hineingeboren und unter verschiedenen Umständen sozialisiert und geprägt worden. Constantin Siegwart-Müller, als Sohn eines kleinen Glasproduzenten im Tessin geboren, hatte noch als Kleinkind seine Eltern verloren. Er wurde von einem Pfarrer erzogen, besuchte in Seelisberg die Volksschule, in Luzern das Gymnasium und studierte in Deutschland Rechts- und Staatswissenschaften sowie Philosophie. Nach Abschluss seines Studiums ging er nach Lausanne, um Französisch zu lernen, fühlte sich aber nie wohl in dieser Sprache. Er erhielt eine Stelle als Landesfürsprech, eine Art Rats- und Gerichtsschreiber. 1833 übersiedelte er vom konservativen Uri in den liberalen Kanton Luzern, wo er Staatsschreiber und Mitglied des Grossen Stadtrats wurde. Für ihn war dieser Kantonswechsel wie der Auszug ins Gelobte Land.
Ende der 1830er-Jahre machte Siegwart-Müller eine ideologische Kehrtwende und brach mit dem Liberalismus. Diese Spitzkehre war so extrem, wie es vorher sein Liberalismus gewesen war, sagte doch ein Zeitgenosse von ihm, dass ihm «keine Einrichtung radikal genug» gewesen sei. Siegwart-Müller sprach nach seinem Lagerwechsel von einer religiösen und politischen «Wiedergeburt». Seine neuen konservativen Parteifreunde standen ihm vorerst misstrauisch gegenüber, doch sahen sie bald, welche politische Kraft er verkörperte. Kostete ihn sein politischer Wechsel die Stelle als Staatsschreiber, so stand ihm 1841, als die Luzerner Verfassung in konservativ-katholischem Sinn geändert wurde, die Türe zum Regierungsrat offen. 1838 hatte er eine Wahl noch ausgeschlagen. Unter seinem dominanten Einfluss wurde der Kurs der Regierung immer antiliberaler; Siegwart-Müller wurde zu einem eigentlichen Liberalen-Hasser, der die Konfrontation bis zum Krieg vorantrieb.
Guillaume Henri Dufour, Sohn eines Uhrmachers, kam in Konstanz auf die Welt und wuchs in Genf auf. Er war ein mittelmässiger Schüler, wurde auch schon mal von der Schule verwiesen, schaffte aber dennoch die Aufnahmeprüfung an die Ecole polytechnique in Paris. In seiner Kindheit erlebte er die Revolutionswirren in Genf, die Annexion der Republik durch Frankreich 1798. Er leistete in der französischen Armee Dienst, geriet in Korfu in englische Gefangenschaft, wäre beinahe an Verletzungen gestorben und wurde nach dem Sturz Napoleons 1815 auf Halbsold gesetzt. Seine Karriere in Frankreich war damit zu Ende.
Für rechtgläubige Katholiken bedeuteten die Französische Revolution, die Gedanken der Aufklärung und die Hinrichtung der Königsfamilie das Aufkommen des Antichristen. In diesem Geist dürfte auch Siegwart-Müller seine zehnjährige Erziehung durch Pfarrer Josef Maria Regli in Seelisberg genossen haben. Während Dufour, dessen militärische Fähigkeiten von der Eidgenossenschaft geschätzt und benötigt wurden, 1819 die Militärschule in Thun gründete, begann Siegwart-Müller seine Studien in Deutschland.
Religiöser Fanatismus, Folter und Sektierertum
Nachdem Napoleon abdanken musste, wurden nach dem Wiener Kongress 1815 in Europa die vorrevolutionären politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse weitgehend wiederhergestellt. Der konservative Backlash ergriff auch die Schweiz. In Bern übernahm schon 1813 das Patriziat wieder die Macht, ein Jahr später in Luzern, Solothurn und Freiburg. In etlichen Kantonen wurden die alten Ungleichheiten von vor 1798 wiederhergestellt.
Monarchien wurden wieder eingesetzt, die vorrevolutionären Werte blühten erneut. In dieser restaurativen Wende, einer Gegenreaktion zur Aufklärung, kam eine Verherrlichung des Mittelalters und der katholischen Kirche auf. Auch die Schweiz geriet in den Sog der Romantik, einer christlichen Mystik und einer autoritären und reaktionären Gesellschaftsordnung. Es gab Teufelsaustreibungen, Martyrien und eine fast flächendeckende sektiererische Missionierung. Kinder und Erwachsene verfielen in ekstatische Zustände. Selbst in Kreisen der pietistisch gefärbten protestantischen Erweckungsbewegung – in der Westschweiz als «Réveil» bekannt – wurde mit dieser Art von Missionierung an die Gefühle der Frommen appelliert, den Kampf gegen die gottlosen Freisinnigen aufzunehmen und Jesus in die Welt zu tragen, dabei Frauen und Männer gleichermassen einbeziehend. Ähnlich fundamentalistisch ging es vor allem bei den Katholiken zu und her. Es gab Pilgerzüge und Busspredigten, die das Volk, vom jungen Schulmädchen bis zum alten Senn, erschütterten und zu Tränen rührten. Einen absoluten Hardcore-Katholizismus praktizierten die sogenannten Ultramontanen, die sich ihre Instruktionen direkt und nur vom Papst geben liessen. Das führte immer wieder zu schweren Auseinandersetzungen mit Protestanten. Der Kulturkampf kündigte sich an.
Kantone wie Graubünden und Luzern praktizierten noch immer die Folter, und Uri, Herkunftskanton des jungen Constantin, war an der Spitze, wenn es galt, Verbrechen wie «Ketzerey in Glaubenssachen, Unholderey, schwere Gotteslästerung» zu bestrafen. In Schwyz fanden teilweise fünf Folterungen pro Tag statt. Wegen geringer Eigentumsdelikte wurden Menschen hingerichtet, das Halseisen spielte als Strafmassnahme eine grosse Rolle. Schnüffler untersuchten die privaten Bibliotheken. In Freiburg lag die wahre Macht bei den Jesuiten, die auch viele französische Royalisten erzogen. In Zürich durfte der Untersuchungsrichter prügeln, in Basel wurde der Galgen erst 1821 abgeschafft. Die Niederlassungsfreiheit war stark eingeschränkt. Im Wallis etwa konnten Gemeinden selbst Kantonsbürgern die Niederlassung verweigern. Streng sanktioniert wurden auch Religionsübertritte oder gemischte Ehen. Die meisten Kantonsregierungen übten ihre Tätigkeit im Geheimen aus, ihr Gebaren war aristokratisch. Kritische Presseartikel wurden unterdrückt und bestraft; etliche Kantone führten die Pressezensur wieder ein.
In den reaktionären Monarchien war die Repression noch viel stärker als in der Schweiz, weshalb viele liberal denkende Menschen in die Schweiz flüchteten. Das passte Herrschern wie dem österreichischen Kaiser Franz gar nicht. Er sagte 1822 zu bündnerischen Abgeordneten, wenn es so weitergehe, müsse er die Schweiz besetzen: «Das wäre ja ein Spektakel, und Sie verlieren Ihr edelstes Gut, die Freiheit.» Besonders der österreichische Kanzler Metternich übte 1823 scharfen Druck aus und verlangte fremdenpolizeiliche, asylrechtliche und presserechtliche Massnahmen gegen die Asylsuchenden. Die Eidgenossenschaft gab in allen Belangen dem Druck nach. Das Presse- und Fremdenkonklusum (1823 erlassen, aufgehoben 1829) hatte die Überwachung der Zeitungen, das Wegweisen von politischen Flüchtlingen sowie die Aufhebung des Asylrechts zum Ziel. Weil die Kantone aber noch wenige Repressionsinstrumente hatten, konnten viele Flüchtlinge untertauchen und bleiben. Auch dank ihnen schlug das liberale Gedankengut erste Wurzeln. In der Schweiz wurde es von der ländlichen und kleinstädtischen Oberschicht wie auch dem städtischen Wirtschafts- und Bildungsbürgertum getragen. Den liberalen Reformen war insbesondere auch eine Verbesserung des Volksschulwesens ein grosses Anliegen.
Grosse Armut, politischer Stillstand
Trotz ihrem Konservativismus bildete diese Epoche eine Zeit der wirtschaftlichen Modernisierung, den Beginn der Industrialisierung. Etliche Strassen wurden ausgebaut, die Linthkorrektion vollendet, allerdings nur dank freiwilligen Steuern. Der Aufschwung ermöglichte zwar etlichen einen Aufstieg, führte aber auch zum Massenphänomen des Pauperismus. Die Hungerkrise 1816/17 und die Überschwemmung mit billigen Produkten aus dem Ausland führten zu grosser Verarmung. Der Brotpreis stieg um das Sechs- bis Achtfache. Die Arbeitslöhne sanken in nie gekanntem Ausmass. In Glarus war ein Viertel der Bevölkerung ohne Subsistenzmittel. Ein Augenzeuge: «Es ist scheusslich anzusehen, wie abgezehrte Menschengerippe die ekelhaftesten unnatürlichsten Gerichte, Aase toter Tiere, Grüschklösse [Viehfutter], Kraut von Nesseln, Plätschgen [Alpenampfer, Schweinefutter] usw. mit dem gierigsten Heisshunger verschlingen.» Ein Handspinner verdiente in einer Woche so viel, wie ein Pfund Brot kostete. In Appenzell wurde die Hälfte der Einwohner von der Armenpflege unterstützt. In St. Gallen durchwühlten die Hungernden die Misthaufen. Hunde und Katzen waren Leckerbissen. Man ass Kleie, Brei aus zerriebenem Heu, Brot aus Holzmehl, gesottene Gräser und Kräuter. Es gab Heerscharen von Bettlern. Appenzell verlor sechs Prozent der Bevölkerung, St. Gallen zählte einen Überschuss von 5000 Toten. Auswanderung war eine der Folgen: Aus einem einzigen Appenzeller Dorf wanderten 200 Personen aus. 1819 wanderten 1600 Freiburger mit Förderung der Obrigkeit nach Brasilien aus, wo sie in grosses Elend gerieten.
Vieles in der Eidgenossenschaft war noch rückständig. Im Münzwesen herrschte ein völliger Wirrwarr, ebenfalls bei den Zöllen und Posttarifen, was den Handel massiv beeinträchtigte. Es gab über 400 Binnenabgaben, kantonale, kommunale und private. Bis zu einem Umweg von 100 Stunden spedierte man die Güter billiger um die Schweiz herum. Es war günstiger, einen Brief von Genf nach Konstantinopel zu schicken als von Genf nach Appenzell. Und das in einer Zeit, als im Ausland Zollschranken abgebaut wurden.
Politisch war die Schweiz blockiert. Die Abgeordneten der Tagsatzung, der Vertretung der Kantone, stimmten nach Instruktionen der Kantone. Die Kantone waren mit Konkordaten verbunden, was ein sehr kompliziertes und unhandliches Instrument war. Meist war die Tagsatzung zu einer Entscheidung unfähig, weil keine Einstimmigkeit herrschte. Oft einigte sie sich erst auf ausländischen Druck hin. Manche Kantone waren «trunken von ihrer Souveränität». Die Zentralgewalt schreckte vor der kleinsten finanziellen Verpflichtung zurück.
Ab 1820 erhoben einige bedeutende Köpfe der Aufklärung und des Liberalismus ihre Stimme gegen die Reaktion. Ihnen schwebte eine Erneuerung des Landes mittels Volksbildung und der Entwicklung eines Nationalgefühls vor, das sich in Schützen- und Turnvereinen und an Festen äusserte. Das entstehende Vereinswesen bildete ein wichtiges politisches Labor, wo die späteren Staatsgründer und -führer tagtäglich die später wichtigen Eigenschaften wie kollektive Meinungsbildung oder das Erarbeiten gemeinsamer Ziele erproben konnten.
Identitätsstifter: Militär, Landeskarte und Flagge
Als Guillaume Henri Dufour 1817 Kantonsingenieur von Genf wurde, eine Funktion, die er bis 1850 beibehielt, war der jetzige Quai des Bergues wertloses Sumpfgelände. Heute ist er eine der besten Adressen mit Luxushotels und unerschwinglichen Mieten. Dufour liess die Quaianlagen bauen, erstellte 1823 die Pont Saint-Antoine, die erste Hängebrücke Europas. Er veränderte das Gesicht der Stadt Genf grundlegend, er wurde zu einer Art Haussmann der Schweiz. Parallel dazu verlief seine militärische Karriere, die er hauptsächlich als Genie-Instruktor an der Militärschule Thun verbrachte, wo er bis 1831 unterrichtete. Zu seinen Schülern gehörte auch Louis Napoleon Bonaparte, der spätere Kaiser Napoleon III., zu dem er zeitlebens ein freundschaftliches Verhältnis hatte.
Während die einen versuchten, die Schweiz in Richtung Bundesstaat politisch zu erneuern, schuf Dufour organisatorische Voraussetzungen für eine reformierte Staatsform, die auch er sich wünschte. Mit der Ernennung zum Generalstabschef 1831, der für die Verteidigung der Schweiz zuständig war, fiel die Aufgabe zusammen, eine topografische Karte der Schweiz zu erstellen – ein Werk, das er erst 1864 beendete und das für Jahrzehnte internationale Massstäbe setzte. So wie Dufour das Militär als «Schule der Nation» verstand, sollte diese Landeskarte mehr sein als ein militärisches Hilfsmittel: Sie sollte Zusammenhalt und Identität der Bevölkerung fördern. Ebenso sollte eine gemeinsame Flagge das Nationalbewusstsein stärken, was erst 1840 realisiert wurde.
Die Vermessung der Schweiz, wiewohl von der Tagsatzu...
Inhaltsverzeichnis
- Umschlag
- Titel
- INHALT
- Zehn historische Begegnungen
- Auf Augenhöhe Agnes von Ungarn und Rudolf Brun – VON BRUNO MEIER
- Der Reformator gegen den Radikalen Ulrich Zwingli und Conrad Grebel – VON PETER KAMBER
- Landesvermessung in Zeiten politischen Umbruchs Franz Ludwig Pfyffer von Wyher und Jacques-Barthélemy Micheli du Crest – VON ANDREAS BÜRGI
- Ein Auf und Ab in Ehe und Gewerbe Ulrich und Salome Bräker – VON REA BRÄNDLE
- Der Spalter und der Einiger Constantin Siegwart-Müller und Henri Dufour – VON THOMAS BUOMBERGER
- Helfen und Heilen – Homöopathie versus Schulmedizin Emilie Paravicini-Blumer und Fridolin Schuler – VON ELISABETH JORIS
- Zwei «Halbnomaden» an den grossen Tunnelbaustellen Ferdinand Rothpletz und Maria Scala – VON EVA SCHUMACHER
- Heisse Tage in Winterthur Hans Sulzer und Ferdinand Aeschbacher – VON ADRIAN KNOEPFLI
- Die feinfühlige Adjutantin Gottlieb Duttweiler und Elsa Gasser – VON REGULA BOCHSLER
- Abraham c’est moi Ludwig Abraham und Gustav Zumsteg – VON MARTIN WIDMER
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