Kant verwendet die Bezeichnung einer Metaphysischen Deduktion der Kategorien (Metaphysische Deduktion) nur an einer Stelle aller Texte, die wir von ihm haben.1 Die Passage der Kritik der reinen Vernunft (Kritik), in der er das tut, ist Teil der Transzendentalen Deduktion der Kategorien (Transzendentale Deduktion), wie Kant sie in der zweiten Auflage der Kr itik entwickelt (B-Deduktion). Sie enthĂ€lt u. a. eine rĂŒckblickende Beschreibung der Metaphysischen Deduktion:
1.1.1 Die Aufgabe der Metaphysischen Deduktion: Der apriorische Ursprung der Kategorien
Kants Kategorien, wie z. B. die Begriffe der Einheit, der RealitĂ€t, der Substanz oder der Ursache, sollen Begriffe sein, ohne die uns das Denken von GegenstĂ€nden nicht möglich wĂ€re. Die Aufgabe ihrer Metaphysischen Deduktion besteht dabei darin, so Kant auf B 159, ihren âUrsprung a prioriâ nachzuweisen. Kant will zeigen, dass es Begriffe gibt, die eine bestimmte Art von âUrsprungâ haben: einen âUrsprung a prioriâ, wie er ihn nennt.2 Wenn Kant nach dem Ursprung von Begriffen fragt, dann fragt er danach, woher die Inhalte unserer Begriffe stammen. Unter dem Inhalt eines Begriffs versteht er dabei, in erster AnnĂ€herung, die reprĂ€sentationale Beziehung, die der Begriff zu seinen GegenstĂ€nden hat. Der Inhalt einer ReprĂ€sentation oder Erkenntnis, so Kant, ist ihre âBeziehung auf ihr Objektâ (A 58/B 83).3
Wie können wir uns verstÀndlich machen, dass unsere Begriffe die Inhalte haben, die sie haben, dass sie sich also auf die GegenstÀnde beziehen, auf die sie sich beziehen? Kant schreibt es John Locke zu, in seinem Essay Concerning Human Understanding von 1689 die Frage nach dem Ursprung von Begriffsinhalten zuerst formuliert zu haben:
Locke hat den allerwesentlichsten Schritt getan, dem Verstand Wege zu bahnen. Er hat ganz neue Criteria angegeben. Er philosophiert subjektiv, da Wolff und alle vor ihm objektiv philosophierten. Er hat die Genesis, die Abstammung und den Ursprung der Begriffe untersucht. Seine Logik ist nicht dogmatisch, sondern kritisch. Wolff fragt: was ist ein Geist? Locke: wo kommt die Idee vom Geist in meiner Seele her? Sie hat niemals einen Geist gesehen; woher kommen diese Gedanken?4 (V-Lo/Philippi, AA XXIV: 338)
WĂ€hrend die metaphysische Tradition, als deren Vertreter hier Christian Wolff angefĂŒhrt wird, nach der Natur der GegenstĂ€nde unserer Begriffe fragt (z. B.: âwas ist ein Geist?â), geht es Locke (zunĂ€chst) darum, so Kant, den Ursprung unserer Begriffe zu verstehen (z. B.: âwo kommt die Idee vom Geist in meiner Seele her?â). Wie kommt es, dass wir ĂŒber die Begriffe verfĂŒgen, durch die wir GegenstĂ€nde denken, und woher haben diese Begriffe die Inhalte, die sie haben? Mit der Formulierung dieser Frage hat Locke âden allerwesentlichsten Schritt getan, dem Verstand Wege zu bahnenâ, so Kant, da ihre Beantwortung eine Untersuchung des Vermögens erfordert, durch das wir GegenstĂ€nde denken, d. h. eine Untersuchung des Verstandes selbst. Allein wenn im Anschluss an Locke (âsubjektivâ) untersucht wird, woher wir unsere Begriffe und diese ihre Inhalte haben, ist das philosophische Vorgehen kritisch und nicht dogmatisch: erst wenn beantwortet ist, woher wir unsere Begriffe und diese ihre Inhalte haben, kann die Frage behandelt werden, ob ihnen auch tatsĂ€chlich GegenstĂ€nde entsprechen (âobjektivâ) â das ist, in erster AnnĂ€herung, die Frage der Transzendentalen Deduktion â und was als die Natur dieser GegenstĂ€nde anzusehen ist.5
FĂŒr Kant gibt es nun drei mögliche Antworten auf die Lockesche Frage nach dem Ursprung von Begriffsinhalten: die Inhalte unserer Begriffe stammen entweder aus der Erfahrung von GegenstĂ€nden (a), aus dem Verstand selbst (b) oder aber sie werden willentlich von uns hervorgebracht (c).6 Die Inhalte empirischer Begriffe, wie z. B. der Inhalt des Begriffs des Baumes, entspringen in der Erfahrung von GegenstĂ€nden, in sinnlichen Wahrnehmungen, die wir von spezifischen GegenstĂ€nden haben (a). Der Begriff des Baumes z. B. handelt von BĂ€umen, da er auf sinnlichen Wahrnehmungen von BĂ€umen beruht.7 Nicht so die Inhalte der Kategorien. Die Frage nach dem Ursprung begrifflicher Inhalte stellt sich insbesondere bei solchen Begriffen, mit denen wir zwar beanspruchen, GegenstĂ€nde zu denken, bei denen aber in den sinnlichen Wahrnehmungen, die wir von GegenstĂ€nden haben, nichts angetroffen wird, das ihnen entspricht.8 Dem Begriff der Substanz z. B. entsprechen keine wahrnehmbaren Charakteristika an den GegenstĂ€nden unserer Erfahrung. Wie kann er dennoch einen Inhalt haben und sich auf GegenstĂ€nde beziehen?
Wie können wir uns also den Ursprung eines Begriffsinhalts verstĂ€ndlich machen, âsofern er nicht den GegenstĂ€nden zugeschrieben werden kannâ (A 56/B 80)? Die Kategorien sollen einen reprĂ€sentationalen Inhalt haben, sich also auf GegenstĂ€nde beziehen, ohne dass diese Beziehung in irgendeiner Weise auf diese GegenstĂ€nde zurĂŒckgeht. Wie ist das möglich? An einer Stelle der Fortschritte sagt Kant nun von den Kategorien, dass sie,
ohne von der Erfahrung abgeleitet zu sein, mithin a priori, im reinen Verstande ihren Ursprung haben [âŠ].9 (AA XX: 318)
Einen apriorischen Ursprung zu haben heiĂt demnach, nicht, wie empirische Begriffe, aus der Erfahrung von GegenstĂ€nden zu stammen (a), sondern vielmehr gerade unabhĂ€ngig von sinnlichen Wahrnehmungen spezifischer GegenstĂ€nde aus dem reinen Verstand selbst (b). Die Aufgabe der Metaphysischen Deduktion, den apriorischen Ursprung der Kategorien nachzuweisen, besteht dann in erster AnnĂ€herung darin, ihre Inhalte in der Natur des Verstandes als unserem âVermögen zu denkenâ (A 69/B 94, A 81/B 106, A 126) zu finden.10 Die Inhalte der Begriffe, ohne die uns ein Denken von GegenstĂ€nden nicht möglich ist, so Kant, werden in der Natur des Vermögens begrĂŒndet sein, durch das wir GegenstĂ€nde denken.
Die Schwierigkeit hierbei ist nun nicht, zu der Einsicht zu gelangen, dass bestimmte Begriffe, wie z. B. der Begriff der Substanz, als nicht-empirische Begriffe zu betrachten sind, als Begriffe also, die nicht aus der Erfahrung von GegenstĂ€nden stammen. DafĂŒr ist es nĂ€mlich hinreichend, dass diesen Begriffen keine wahrnehmbaren Eigenschaften der GegenstĂ€nde unserer Erfahrung zugrunde liegen. Das unterscheidet sie zwar von empirischen Begriffen, wie z. B. vom Begriff des Baumes, dem die Möglichkeit der sinnlichen Wahrnehmung von StĂ€mmen, Ăsten, BlĂ€ttern usw. und damit die Möglichkeit der Wahrnehmung von BĂ€umen entspricht. In der Natur des Verstandes entspringen Begriffe aber nicht schon dadurch, dass sie nicht auf der Erfahrung von GegenstĂ€nden beruhen. In bloĂ negativer Betrachtung sind nĂ€mlich alle Begriffe nicht-empirisch, die nicht auf die Erfahrung von GegenstĂ€nden zurĂŒckgehen. Aber nicht alle diese Begriffe können auch positiv als Begriffe a priori betrachtet werden, die ihren Ursprung in der Natur des Verstandes haben.
Nicht-empirische Begriffe können schlieĂlich auch in dem Sinne auf den Verstand zurĂŒckgehen, dass sie willentlich von uns hervorgebracht werden (c). Kant nennt solche Begriffe âwillkĂŒrlich gedachteâ (A 729/B 757) Begriffe, von denen gilt, dass sie âvorsĂ€tzlich gemachtâ (A 729/B 757) werden. Wie der Begriff der Substanz stammen so z. B. auch die Begriffe von Schicksal und GlĂŒck nicht aus der Erfahrung von GegenstĂ€nden, entsprechen ihnen doch ebenso wenig wahrnehmbare Eigenschaften an GegenstĂ€nden unserer Erfahrung.11 Dennoch gehen diese Begriffe in einem anderen Sinne auf den Verstand zurĂŒck als es der Begriff der Substanz tut. Der Begriff des Schicksals z. B. wird hervorgebracht durch eine willkĂŒrliche ZusammenfĂŒgung der Begriffe der Blindheit und der Notwendigkeit im Begriff blinder, d. h. gesetzloser, Notwendigkeit.12 Dem auf diese Weise zusammengesetzten Begriff entspricht nun aber weder in der Natur des Verstandes noch in der Erfahrung von GegenstĂ€nden eine von unserem Willen unabhĂ€ngige Bestimmung: ein solcher Begriff ist âmir weder durch die Natur des Verstandes noch durch die Erfahrung gegeben wordenâ (A 729/B 757). Er ist kein âgegebenerâ, wie Kant es nennt, sondern vielmehr ein âgemachterâ Begriff.
âEin Begriff ist gegeben, sofern er nicht aus meiner WillkĂŒr entspringt.â (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 914) Begriffe sind demnach genau dann gegebene Begriffe, wenn ihren Inhalten auch tatsĂ€chlich Bestimmungen entsprechen, die nicht durch willentliche Zusammensetzung von uns hervorgebracht werden, die also ânicht von unserer WillkĂŒr abhĂ€ngenâ (V-Lo/Pölitz, AA XXIV: 571). Eine solche Bestimmung ist dabei entweder eine Bestimmung in der Erfahrung von GegenstĂ€nden (a) oder aber eine Bestimmung in der Natur des Verstandes (b). Zum Beispiel ist der Inhalt des empirischen Begriffs von Metall âa posteriori gegebenâ, da ihm mögliche Wahrnehmungen von Metallen entsprechen und damit eben von unserem Willen unabhĂ€ngige Bestimmungen in der Erfahrung von GegenstĂ€nden;13 der Inhalt des Begriffs der KausalitĂ€t hingegen ist âa priori gegebenâ, wenn er seinen Ursprung in der Natur des Verstandes selbst hat, d. h. wenn es ihm entsprechende und von unserem Willen unabhĂ€ngige Bestimmungen in der Natur des Verstandes gibt (das nachzuweisen ist eine Aufgabe der Metaphysischen Deduktion);14 der Begriff des Schicksals schlieĂlich ist ein gemachter und, wie Kant ihn auch nennt, âusurpierterâ Begriff, dem weder in der Erfahrung von GegenstĂ€nden noch im Verstand selbst eine von unserem Willen unabhĂ€ngige Bestimmung entspricht oder entsprechen kann.15
So ist der Begriff des Schicksals auf eine Weise zusammengesetzt, dass ihm noch nicht einmal etwas in der Sache entsprechen kann, die er reprĂ€sentieren soll.16 Als solcher ist er nun aber von anderen, ebenfalls willentlich zusammengesetzten Begriffsinhalten zu unterscheiden, die zum Zweck wissenschaftlicher Erkenntnis âwillkĂŒrlich gedachtâ oder âvorsĂ€tzlich gemachtâ werden und denen möglicherweise tatsĂ€chlich etwas in der Sache entspricht. Hier ist an in der Mathematik a priori konstruierte oder in der Naturwissenschaft a posteriori eingefĂŒhrte Begriffe zu denken, die â so der Anspruch ihrer Konstruktion oder EinfĂŒhrung â die Natur mathematischer oder materieller GegenstĂ€nde beschreiben.17 So ist z. B. der Begriff des Metalls uns zwar a posteriori gegeben, d. h. durch sinnliche Wahrnehmungen von Metall, die âNatur des Metallesâ finden wir aber erst durch experimentelle Versuche, âdurch verschiedene Erfahrungen, die nicht im [gegebenen] Begriffe liegenâ (V-Lo/Wiener, AA XXIV: 914).18 Der Begriff der Natur eines Gegenst...