Zur Medialität des Geschichtstheaters
Geschichtliche Ereignisse und Prozesse werden heute an vielen Orten und in verschiedensten Medien auf- und vorgeführt, unter denen das Theater – als Spielstätte wie als „plurimediale Darstellungsform“1 – längst keinen herausragenden Platz mehr einnimmt. Die Vielfalt der Geschichtsspektakel, die auf dem und jenseits des Bildschirms begegnen, führen dies selbst dem Anglisten vor Augen, dem die „inszenierte Vergegenwärtigung von Geschichte auf der Theaterbühne“2 ein altehrwürdiger Gegenstand ist, dessen kulturelles Prestige sich aus einer Tradition speist, die für das neuzeitliche Theater bis zum Elisabethanischen history oder chronicle play zurückreicht. Dennoch muss es überraschen, dass das Theater in aktuellen „Untersuchungen zu populären Geschichtsrepräsentationen […] bisher nur eine unbedeutende Nebenrolle übernehmen [konnte]“3 oder überhaupt nur noch dem Namen nach verhandelt wird. Wolfgang Hochbruck etwa bestimmt Geschichtstheater als „Präsentations- und Aneignungsformen historischer Ereignisse, Prozesse und Personen mit Praktiken des Theaters – Kostümierung, personalisierende Dramatisierung, Inszenierung – im öffentlichen und halböffentlichen Raum“.4 Nun mag man die von Hochbruck vorgeschlagene „Typologie von Formaten und Varianten des Geschichtstheaters“ (von der experimentellen Archäologie bis zur TV-Show) dafür loben, dass sie „elastisch genug“ sei, „um auch andere, in der Publikation nicht angesprochene Handlungsformen an der Schnittstelle von Geschichte und Theater zu erfassen“5 – wie zum Beispiel das Geschichtstheater im Theater. Oder man mag sich darüber wundern, dass ausgerechnet diejenige public history site, die dem gesamten Feld (und dem Buch) ihren Namen gibt und in der zweifelsohne „mit Praktiken des Theaters“ gearbeitet wird, keinerlei Behandlung zuteil wird (im Unterschied zu Living History Interpretation, Pageantry und Reenactment) – oder doch wenigstens eine bibliographische Würdigung der bis in die Gegenwart fortgeführten Beschäftigung mit der Geschichte im Rampenlicht.
Vor diesem Hintergrund ist die Beschäftigung mit den Inszenierungen historischer Quellen im Theater, wie sie im Rahmen der Projektreihe Aus den Akten auf die Bühne betrieben wird, eine willkommene Rückkehr zur eponymen Urszene dargestellter Geschichte, dem Geschichtstheater. Als Fallbeispiel dient im Folgenden eine in Zusammenarbeit mit dem Lehrprojekt Geflüchtet, unerwünscht, abgeschoben. „Lästige Ausländer“ in der Weimarer Republik entstandene und 2016/2017 mehrfach aufgeführte szenische Lesung der Theaterwerkstatt Heidelberg.6 Dabei interessieren mich drei Aspekte, die die Medialität dieser Variante des Geschichtstheaters betreffen: 1) deren Verortung im Spektrum der Möglichkeiten des Geschichtstheaters, das vom klassischen Geschichtsdrama bis zum dokumentarischen Theater des 20. Jahrhunderts reicht. Dies betrifft die unterschiedlichen Arten und Weisen, das „Repertoire der Codes und Kanäle“7 des Theaters oder kurz: die Medien des Theaters zu bespielen; 2) das Verhältnis von Geschichtsvermittlung und Aktualitätsanspruch, das sich in ihr artikuliert, wobei in diesem Bereich die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Formen des Geschichtstheaters überwiegen. Dies betrifft die Beziehung von Kommunikation und Übermittlung oder kurz: die Mediologie des Geschichtstheaters; 3) das Verhältnis von Dramatisierung und Authentisierung in Bezug auf die historischen Dokumente, die in Szene gesetzt werden. Dies betrifft den Umgang mit der Materialität der historischen Quellen und Dokumente, die zum Sprechen gebracht werden, oder kurz: die inszenierte Medialität im Geschichtstheater. Als Vergleichsfolie für meine Überlegungen dient im zweiten und dritten Teil ein kollaboratives Drama der Shakespeare-Zeit, Sir Thomas More.
1 Die Medien des Theaters: Geschichtsdrama vs. dokumentarisches Theater
Die Bezeichnung Geschichtstheater bezieht sich auf ein Drama oder eine Aufführung „mit einem geschichtlichen, dokumentarisch-quellenmäßig verbürgten Stoff“.8 Dieser inhaltlichen Bestimmung entspricht eine formale Unterbestimmtheit, der zufolge es „keine für das Geschichtsstück konstitutiven Formen und Mittel [gibt], die es mit Notwendigkeit einem der dramaturgischen Systeme zuordneten, sei es der aristotelischen oder der nichtaristotelischen, der klassischen oder der naturalistischen, der spezifisch ‚dramatischen‘ oder der epischen Dramaturgie. In ihnen allen lässt es sich realisieren“.9 Um diese Vielfalt möglicher Gestaltungs- und Inszenierungsweisen grob zu ordnen, ist es üblich, zwischen zwei meist binär gegenübergestellten, tatsächlich aber die beiden Extreme eines Spektrums markierenden Arten des Geschichtstheaters zu unterscheiden: „Geschichtsdrama“10 auf der einen, „Dokumentarisches Theater“11 auf der anderen Seite (oder die „Theatralisierung der Geschichte“ und das „(historische) Dokumentarstück“)12.
Aufs Äußerste verkürzt lässt sich dieser Gegensatz anhand der Historien Shakespeares („heute noch für viele das Modell des Geschichtstheaters schlechthin“)13 und der aus „authentischen Reden, Aufsätzen, Flugblättern, Fotografien und Filmen zusammenmontierte[n]“14 Revuen Erwin Piscators der 1920er Jahre veranschaulichen, die vor allem hinsichtlich der Bühnenausstattung und der Dramenkonzeption diametrale Ansätze verfolgen. Auf der einen Seite steht die Elisabethanische Schaubühne mit ihren bezüglich der Bühnenform, des Bühnenbildes und der Beleuchtung minimalistischen Möglichkeiten des Mise-en-scène (Freilufttheater mit Shakespearebühne und (fast) ohne Kulissen); auf der anderen Seite die Piscatorbühne mit ihren innovativen Bühnenformen (Etagenbühne, Segment-Globus-Bühne, Totaltheater) und ihrer Einbeziehung von Projektionen filmischen und fotografischen Materials. Analog stehen sich eine klassische Dramenkonzeption, die, wenn nicht konsequent den aristotelischen Einheiten, so doch einer Vorstellung dramatischer Handlung als Aufeinanderfolge von bedeutsamen Entscheidungen nachvollziehbarer Charaktere verpflichtet ist (was in der aristotelischen Ethik als Prohairesis verhandelt wird), und ein „verfremdende[s] Zeigetheater“15 gegenüber, das sich durch eine „‚Episierung‘ des Bühnenstoffs, das heißt ‚Ausweitung der Handlung und Aufhellung ihrer Hintergründe, also Fortführung des Stücks über den Rahmen des nur Dramatischen hinaus‘“16 sowie durch „Auflösung der ‚in sich geschlossenen‘ Dramenhandlung in revueartige ‚Einzelnummern‘“17 auszeichnet.
Besonders mit Blick auf die Dramenkonzeption steht die Heidelberger Inszenierung in der Tradition des dokumentarischen Theaters, indem sie die episodenhaft beleuchteten Einzelschicksale (Jakob Neger, Osias Hackel, Leopold Elter) in eine Serie kurzer Routinen einlässt, die sich der politischen Situation auf der Straße, im Parlament und in den Medien widmen und so eine Kontextualisierung der Fallstudien leisten. Über diese „Episierung“ im engeren Sinne lässt sich zudem der Einsatz einer Reihe von „Episierungstechniken“18 im weiteren Sinne des Epischen Theaters beobachten, vor allem „das Einbauen nichtdramatischer Formen, vorwiegend episch-erzählerischer Art, jedoch auch lyrischer oder musikalischer Art“.19 So dient etwa eine mehrstimmige Rezitation von Kurt Tucholskys „Die Grenze“,20 die das Stück rahmt, als Reflexion und Kommentar in der Art eines Chors; und der Gesangsvortrag des jiddischen Liedes Tsen Brider markiert eine musikalische Einlage, die zwar als spielexterne (und insofern epische) Kommunikation21 die dramatische Handlung unterbricht, jedoch einer sonst nur aus dem behördlichen Schriftverkehr zu vernehmenden jüdischen Stimme eine zusätzliche Dimension verleiht.22 Und auch sonst bedient sich die Aufführung ausgiebig aus dem Repertoire epischer Kommunikationsstrukturen: vom ...