1.1 Historischer Hintergrund
Im Rahmen der aktuellen Debatte über Brüche und Kontinuitäten beim Übergang vom Osmanischen Reich hin zur Republik Türkei ist dank kürzlich abgeschlossener Forschungen zum Osmanischen Reich während des 19. Jahrhunderts neues historisches Material verfügbar geworden. Ich beginne dieses Kapitel mit einer Übersicht über den historischen Hintergrund, also über die Voraussetzungen, Strukturen und Praktiken, die meiner Auffassung nach während dieses Zeitraumes entscheidend gewesen sind. Beispielsweise ergibt sich aus der Konfiszierung von Eigentum und aus den Vorgängen bei der Gesetzgebung in der finalen Periode des Osmanischen Reiches sowie aus den Mechanismen, welche die postgenozidalen Prozesse rechtfertigten, einer der wichtigsten Forschungsbereiche, nämlich die wirtschaftliche Ordnung nach 1923.119 Je stärker sich die Strukturen und Praktiken der Übergangsperiode in der zunehmenden Forschungsliteratur niederschlagen, desto besser können wir die Art von Brüchen und Kontinuitäten verstehen.
Erstmalig wurden diese Kontinuitäten in ihren Grundzügen Mitte der 1980er-Jahre in Erik-Jan Zürchers Werk „Turkey: A Modern History“ beschrieben. Insbesondere die Biografien am Ende seines Buches sind ein hervorragender Ausgangspunkt dafür, die Lebensläufe bestimmter prominenter Personen vom Ende des 19. und bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nachverfolgen zu können.120 Auch Taner Akçam argumentiert dahingehend, dass sich die heutigen Probleme der Türkei bereits in ihrem osmanischen Erbe bestimmen lassen.121 Mein Ziel ist allerdings nicht eine Beschäftigung mit allen Details dieser Diskussion, sondern ich möchte die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt lenken, den auch Akçam betont, nämlich „[die] ‚Kontinuität der Denkweise‘, die den Übergang vom Reich zur Republik überdauerte und die grundsätzlich die Verhaltensweisen sowohl der Regierenden als auch der Regierten in der Republik Türkei erklärt“.122
Die Sekundärliteratur, die sich mit der Politik hinsichtlich der Provinzen im Osten und mit den institutionellen und strukturellen Kontinuitäten ab dem 19. Jahrhundert befasst, muss gemeinsam betrachtet werden, weil zum einen zahlreiche politische Maßnahmen auch nach 1923 fortgeführt wurden und zum anderen die lokale Bevölkerung der Region die ArmenierInnen bildeten, also die Gruppe, mit der ich mich in dieser Untersuchung hauptsächlich beschäftige. Die Frage nach einer Kontinuität muss daher in der Sekundärliteratur im Zusammenhang des Verhältnisses zwischen Zentrum und Peripherie betrachtet werden.
Die östlichen Provinzen waren noch bis vor Kurzem kein populäres Thema, wenn es um das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie ging. In seinem Werk „The Ottoman Empire 1700 – 1922“ gibt Donald Quataert einen detaillierten Überblick über die Veränderungen des Staatsapparates und der Praktiken im gesamten 19. Jahrhundert.123 Er widmet dieser Fragestellung einen Abschnitt mit dem Untertitel „Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie“. Allerdings betrachtet er unter dieser Überschrift die 1840er-Jahre nur mit Blick auf Damaskus und Nablus, während einer der wichtigsten Prozesse in den östlichen Provinzen stattfand. Quataert geht nicht auf das osmanische Erbe in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein. Şerif Mardin, ein Soziologe, der sich intensiv mit den Modernisierungsprozessen des Osmanischen Reiches und der Republik Türkei beschäftigt hat,124 untersucht in seinen Studien zu den staatlichen Strukturen der osmanischen Zeit und zu deren Funktionen auch das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie. Mardin betrachtet während der ersten republikanischen Periode zwei wichtige Wendepunkte im Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie: den Scheich-Said-Aufstand von 1925 im Osten und das „Menemen-Ereignis“ im Westen des Landes.125 Laut Mardin fand die Niederschlagung des Scheich-Said-Aufstandes im Kontext der „albtraumhaften Spaltungen vor und während des Unabhängigkeitskrieges“126 statt, während das Menemen-Ereignis als weiterer Verrat der Peripherie gegenüber dem Zentrum angesehen wurde: „Die Provinz, der primäre Lokus der Peripherie, wurde einmal mehr als Hort des Verrates gegenüber den säkularen Zielsetzungen der Republik identifiziert.“127 Wie auch Cihangir Gündoğdu und Vural Genç in ihrem ersten Buch zeigen, war die fehlende Durchsetzung staatlicher Herrschaft in den östlichen Provinzen im 19. und 20. Jahrhundert entscheidend für die Politik hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Zentrum und Peripherie. Gündoğdu und Genç sind der Auffassung, dass die beabsichtigten Lösungen insbesondere nach der Tanzimat-Periode einer genaueren Untersuchung bedürften.128 Welche Kontinuität die staatliche Herangehensweise hatte, lässt sich deutlich an der Sprache verfolgen, wie sie zum einen vor und zum anderen nach 1923 verwendet wurde; konkret129 kann dies in den Layihas nachvollzogen werden.130
Die Problematisierung der fehlenden Steuerung in den östlichen Provinzen bildet einen wichtigen Beitrag zur Forschungsliteratur; allerdings bedarf ein weiterer Aspekt weiterer Forschung, nämlich die Art des Verhältnisses zwischen Zentrum und Peripherie abhängig von den verschiedenen Gruppen ab dem 19. Jahrhundert. Laut Martin van Bruinessen ist davon auszugehen, dass es gleichzeitig Tendenzen einerseits zur Zentralisierung und andererseits zur Dezentralisierung gab.131 Das Problem, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als „Östliche Frage“ benannt wurde, war eigentlich eine vielschichtige Fragestellung zur Ausführung staatlicher Macht. Sowohl die Vereinbarungen mit den kurdischen Stammesführern in den 1840er-Jahren als auch die administrativen Veränderungen, die im Anschluss daran erfolgten – wie zum Beispiel Vilayet Reformu (1864, Provinzialreform), Arazi Kanunnamesi (Bodenrecht, 1858)132 und die neuen Verwaltungsstrukturen –, lassen sich im weitesten Sinne als Prozess einer Kolonialisierung verstehen. Hans-Lukas Kieser benennt den Krieg mit den kurdischen Stammesführern als Prozess einer Binneneroberung.133 In ihrer Untersuchung der Layihas finden sich bei Cihangir Gündoğdu und Vural Genç wertvolle Daten wie auch Analysen des Verhältnisses zwischen Zentrum und Peripherie für die Region Dersim, die von AlevitInnen, KurdInnen sowie von ArmenierInnen besiedelt war. Gündoğdu und Genç betrachten Provinzialreform und Bodenrecht als Form der Politik, mit der die Macht des Sultans als Oberhaupt des Reiches gestärkt wurde und die gleichzeitig den Einfluss der lokalen Machtzentren schwächen sollte.134 Ussama Makdisi konstatiert in seiner Arbeit: „In einem Zeitalter westlich dominierter Modernität kreiert jede Nation ihren eigenen Orient. Das Osmanische Reich des 19. Jahrhunderts bildet dabei keine Ausnahme.“135 Darauf verweisend meinen Gündoğdu und Genç, dass für die osmanische Führungselite Dersim den „Osten“ bildete.136 Als ein Beispiel führen sie eine Layiha von Mikdad Mithad Bedirhan an, der Dersim als „vahşi Afrika akvamı“ („wilde afrikanische Stämme“) der osmanischen Welt bezeichnet und ähnliche Maßnahmen wie die der britischen Kolonialmacht im Sudan vorschlägt.137 Gündoğdu und Genç arbeiten des Weiteren heraus, dass die osmanische Elite für Dersim – wie für Nordafrika und die arabischen Provinzen – ihren eigenen vormodernen Diskurs erschaffen hätte.138
Auch wenn im letzten Jahrzehnt eine beachtliche Menge von Arbeiten zum Thema Osmanisches Reich und Kolonialismus insbesondere im Hinblick auf die arabischen Provinzen erschienen ist,139 werden die politischen Maßnahmen zu den Anträgen von ArmenierInnen so gut wie gar nicht behandelt, welche im Zusammenhang mit der kolonialen Machtausübung während dieses Zeitraumes stehen, also während der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Einige interessante Daten sind dem Artikel des Parlamentariers und Anwaltes Krikor Zohrab Pnagch‘ut‘iwn („Bevölkerung“) zu entnehmen, in dem die Demografie und der Zuschnitt der Provinzialgrenzen seit Beginn der 1880er-Jahre behandelt werden.140 Zohrab vermutet, dass die Neuordnung der kleineren Vilayets und die damit stattfindenden demografischen Verschiebungen, ähnlich denen mit den GriechInnen und den BulgarInnen in Rumelien, darauf abzielten, die ArmenierInnen in den östlichen Provinzen zu einer Minderheit zu machen.141 Wie für den Zeitraum vor der Formung der Provinzen stützt sich Masayuki Ueno auf die offiziellen Berichte und Eingaben (Takrir), die aus den Provinzen kamen und vom Patriarchat an die Regierung gerichtet waren. Er untersucht die lokalen Probleme in den Provinzen und deren Auswirkungen in Istanbul.142 Ueno stellt fest, dass laut den Protokollen der Armenischen Nationalversammlung der Jahre 1849 – 1869 539 Takrirs bearbeitet wurden, darunter an die Regierung gerichtete Beschwerden, die größtenteils aus den östlichen Provinzen stammten.143 Bei dem überwiegenden Teil der Takrirs ging es um Gewalt gegenüber ArmenierInnen (210), um Beschwerden gegen lokale Staatsvertreter (122) und um Probleme bei der Steuereintreibung (76).144 Auch wenn das Patriarchat bis 1860 nur begrenzt in der Verantwortung stand, haben laut Ueno die Zeitungen damit begonnen, die Fragen der östlichen Provinzen auch der armenischen Bevölkerung Istanbuls näherzubringen.145 Die Probleme blieben Thema der Gemeinde; und nach der Wahl von Khrimyan zum Patriarchen brachte dieser die Frage der „Unterdrückung in den Provinzen“ direkt vor die Nationalversammlung und sprach sie auch in seinen Reden an.146 Die Beschwerden begannen also in den 1840er-Jahren und stiegen dann in den 1860er- und 1870er-Jahren an, wie die Zeitungen berichteten. Wir können hieraus ableiten, dass die Probleme der gegen ArmenierInnen gerichteten Gewalt und der Gefahr für deren Leben und Eigentum nicht beseitigt waren. Auf die Beschwerden gab es weder befriedigende Antworten noch irgendwelche Lösungen; die Gewalt gipfelte schließlich während der Regierungszeit von Sultan Abdülhamid II. in den sogenannten Hamidischen Massakern. Meiner Meinung nach ist weitere Forschung vor allem zu zwei Punkten erforderlich: zum einen zum Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, also zwischen Osmanischem Reich und armenischer Administration, die aus den Patriarchaten und den Katholikaten bestand; und zum anderen zum Umfang der hierzu parallelen Beziehungen, also die Verwaltung der kurdisch-armenischen Beziehungen durch das Osmanische Reich zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
Wie Ueno zeigt, bildeten die Anträge der armenischen Bevölkerung der östlichen Provinzen im 19. und fr...