Finalement, je crois que ce qu’il y a de plus extraordinaire à filmer, ce sont des gens qui lisent.1
– Jean-Luc Godard
Filmische Darstellungen des literarisch-ästhetischen Lesens sind in der Anzahl der Phänomene überbordend und als Gegenstand in der Forschung unterrepräsentiert. Eine systematische Untersuchung von LeserInnen2 im Film erweist sich jedoch als äußerst ergiebig, denn Leseszenen bilden nicht lediglich Lesende und Bücher ab. Durch die medial selbstreflexive Darstellung eines ästhetischen Rezeptionsprozesses vermögen sie bei Zuschauenden nicht zuletzt eine ästhetische Erfahrung und dadurch eine Selbstverständigung über das eigene Leseverhalten hervorzurufen.
Diese These speist sich aus drei Beobachtungen. Erstens: Es gibt in der Filmgeschichte unabhängig von Produktionsland, zeitlichem Kontext, Genre, der Einordnung in U- oder E-Kunst zahlreiche filmische Inszenierungen sinnlicher Lektürebegegnungen, die vornehmlich die Folge der Rezeption fiktionaler Literatur sind, ohne dass diese bisher Schwerpunkt einer Forschungsarbeit waren. Zweitens: Trotz einer in den filmischen Bildern und Tönen vorherrschenden Statik lesender Figuren, die vordergründig nur stumm auf – den ZuschauerInnen häufig weder visuell noch auditiv zugängliche – Seiten starren, handelt es sich hierbei um einen dynamischen Prozess: Der im Inneren der Figuren stattfindende Akt des Lesens figuriert sich auf verschiedenen kinematografischen Ebenen, so dass die Zuschauenden eine Reihe von visuellen und auditiven Hinweisen erhalten, die Rückschlüsse auf das innere Leseerlebnis der filmischen Figuren erlauben. Drittens: Insbesondere die ästhetische Erfahrung, einer der schillerndsten Begriffe der Philosophiegeschichte, erweist sich in Leseszenen für die ZuschauerInnen als – im Sinne der Filmphänomenologie – leiblich erfahrbar.
Lesende Figuren machen selbst eine ästhetische Erfahrung, deren filmische Darstellung wiederum bei den Zuschauenden eine ästhetische Erfahrung auszulösen im Stande ist. Die Besonderheit dieser filmischen Realisierungen liegt darin, dass in der filmischen Rezeption die Erfahrung (Filmerfahrung) einer Erfahrung (Leseerfahrung) möglich ist, die zu einer Reflexion sowohl über das Lesen (und Literatur) als auch über das Medium Film anregen kann. Die Herleitung, Explikation, Analyse und Interpretation dieser Aussagen stehen im Zentrum der vorliegenden Arbeit, an deren Ende eine mögliche Antwort darauf gegeben wird, warum Jean-Luc Godard im Eingangszitat ohne Begründung ausgerechnet im Filmbild positionierte lesende Menschen mit einem derartigen Superlativ bedenkt.
Filmische Lesedarstellungen tauchen nicht nur in bekannten Literaturverfilmungen auf, die auf Werken basieren, in denen das Lesen ein bestimmendes Motiv ist, etwa Wolfgang Petersens The NeverEnding Story (D/USA/S, 1984), Jean-Jacques Annauds Il nome della rosa (D/F/I, 1986) oder Stephen Daldrys The Reader (USA/D, 2008). Darüber hinaus ist aus filmhistorischer Perspektive eine kaum zu eruierende Anzahl beiläufiger Leseszenen vorhanden, in denen ProtagonistInnen mit einem Buch im Filmbild zu sehen sind. Hierzu zählen beispielsweise die von Blanche Sweet verkörperte weibliche Hauptrolle in D. W. Griffiths The Lonedale Operator (USA, 1911), ein bibellesender Desperado im Kult-Western El Topo (MEX, 1970) oder die kurze Dostojewski-Lektüre des unter Schlaflosigkeit leidenden Protagonisten in The Machinist (S, 2004). Im Gegenzug dazu geht es in einigen wenigen Filmen fast ausschließlich um das Lesen; diese sind durch eine Aneinanderreihung von Leseszenen gekennzeichnet, wie Michel Devilles La Lectrice (F, 1987), der die kuriosen Erfahrungen einer professionellen Vorleserin behandelt, oder Peter Greenaways Prospero’s Books (GB (u.a), 1991), eine formal experimentelle Adaption von William Shakespeares The Tempest. Das Lesen von Büchern stellt in diesen Filmen das dominante Thema dar, das auf vielfältige Weise filmisch in Szene gesetzt und reflektiert wird.
Weiterhin existieren mehrere Filme, in denen Leseakte als Schlüsselszenen interpretiert werden können, wie in François Truffauts Les Quatre Cents Coups (F, 1959), in dem ein von seinen Eltern und Lehrern zurückgewiesener Heranwachsender von einer Balzac-Lektüre tief berührt ist. Eine vergleichbare Schlüsselszene stellt auch eine Sequenz von Anders Thomas Jensens Adams æbler (DNK, 2005) dar, in der die Lektüre des Buchs Hiob einem Protagonisten Einsichten vermittelt, die ihm die Kraft geben, einen tiefgläubigen Pfarrer in eine Glaubenskrise zu stürzen. Leseszenen können jedoch auch primär als ironische Anspielung fungieren, wenn zum Beispiel Charlotte in Ingmar Bergmans Höstsonaten (SWE/D, 1978) als Bettlektüre einen Roman liest, auf dessen Rücken sich das Konterfei des Regisseurs befindet.
Vor allem Lyrikrezitationen in Spielfilmen erlangten teilweise größere Bekanntheit; sie sind als Ausschnitte auf YouTube oder anderen Video-Portalen zu finden, so beispielsweise Charlesʼ Vortrag von W. H. Audens Funeral Blues in Four Weddings and a Funeral (GB, 1994). Gerade Gedichte werden aufgrund ihrer Kürze häufig vollständig in einer Filmszene deklamiert. Längere Textpassagen können jedoch ebenso als Vorleseszenen in die Handlung integriert sein, wie in Godards Vivre sa vie (F, 1962) die Kurzgeschichte The Oval Portrait von Edgar Allan Poe. Überdies erfolgen zwischen Figuren auch intensive Gespräche über Literatur, die nicht nur mögliche Leseanlässe und Lektürewirkungen behandeln, sondern dezidiert Wertungsfragen und die literarische Kultur thematisieren.
Der Film The Jane Austen Book Club (USA, 2007) besteht beispielsweise unter anderem aus Konversationen über Metaebenen von Lektüren. Kennen- und Liebenlernen kann eng mit einer Lektüre verknüpft sein, z. B. während eine Figur der anderen vorliest, wie in Gösta Berlings Saga (SWE, 1924). Selbstgeschriebene Gedichte fungieren als Liebesboten, etwa in Mr. Deeds Goes to Town (USA, 1936), und Verliebte lesen bewusst ein Buch, um mehr über die Kultur der oder des Geliebten zu erfahren, beispielsweise in Hark Bohms Yasemin (D, 1988).
Unterschiedliche Figuren lesen: Die unscheinbare, von Audrey Hepburn verkörperte Buchhändlerin Jo Stockten in Funny Face (USA, 1957), der weise Rabbi Löw in Paul Wegeners Der Golem, wie er in die Welt kam (D, 1920), Tiere wie der anthropomorphisierte Enterich Dagobert Duck in DuckTales (USA, 1987–1990) oder Roboter wie das maschinelle Kindermädchen Anita in der schwedischen Science-Fiction-Serie Äkta människor (SWE, 2012–2014). Diese Beispiele illustrieren bereits diverse stereotype Inszenierungsmuster, die sich so auch in der Kunstgeschichte wiederfinden: Während die männliche Lektüre meist mit Bildung und Weisheit verknüpft ist, steht die weibliche für Schüchternheit und Sinnlichkeit.
Figuren schweben nach der Lektüre in Lebensgefahr: Im James Bond-Film Skyfall (USA, 2012) entkommt die Geheimdienst-Chefin M nur knapp einem Mordanschlag, nachdem sie Alfred Lord Tennysons Ulysses bei einer öffentlichen Anhörung vorgetragen hat. In Equilibrium (USA, 2002) wird der Charakter Errol Partridge nach der Rezitation des W. B. Yates-Gedichts Aedh Wishes for the Cloths of Heaven erschossen. Kinder beruhigen sich, als der von Arnold Schwarzenegger gespielte John in Kindergarten Cop (USA, 1990) ein Kindergedicht vorliest, oder das Böse erwacht, wenn Ash in The Evil Dead (USA, 1981) aus dem Necronomicon vorliest.
Diese Aufzählung deutet die markante Präsenz des literarisch-ästhetischen Lesens in der Filmgeschichte lediglich an. Es stellt sich die Frage, ob all diese Beispiele tatsächlich unter das Oberthema ›filmische Lesedarstellungen‹ zu subsumieren sind. Es handelt sich sicherlich um äußerst heterogene Szenen, wenn eine Figur ein Gedicht rezitiert, über das Gelesene gesprochen wird oder Zwischentitel in einem Stummfilm erscheinen. Da bisher keine systematische Untersuchung dieses Themenkomplexes vorliegt, ist es das Anliegen der vorliegenden Studie, Ordnungsprinzipien in die unterschiedlichen Erscheinungsformen eines genuin intermedialen Phänomens, dem es bisher an Systematik fehlt, zu bringen. Giambattista de Vico hat bereits in der Renaissance zum Ausdruck gebracht, dass darin eine essenzielle Aufgabe wissenschaftlichen Arbeitens liegt: »Wissenschaftlich Arbeiten heißt, die Dinge in eine schöne Ordnung zu bringen.«3 Im Folgenden wird durch die Erarbeitung von (Ausschluss-)Kriterien einer Leseszene, die Darlegung sich wiederholender Inszenierungsmuster sowie Bedeutungen des Lesens im Film solch eine »schöne Ordnung« angestrebt. Die strukturelle Systematisierung filmischer Darstellungen des Lesens erfolgt dabei nicht um ihrer selbst willen, sondern ihre Funktionen, d. h. ihre spezifische Leistung im Sinne von nachweisbaren Dispositionen, möglichen Relationen und potenziellen Wirkungen, werden erörtert.4
Die Grundlage für eine Systematik von Leseszenen bildet das literarisch-ästhetische Lesen. Dabei handelt es sich um eine aktive Auseinandersetzung der Lesenden mit einem Text: Inhalt und Form eines Werks interagieren mit Kompetenzen, Wissen, Erwartungen und Gefühlen der RezipientInnen.5 Der Fokus liegt auf dem Lesen als kreative Tätigkeit, so dass durch literarische Texte, wie Uta Schaffers es ausdrückt, »die Lesenden Raum und Material für eigene Phantasien finden, die in der Lektüre des Textes ihren Ausgangspunkt haben«.6 Dementsprechend sollen keine filmischen Figuren untersucht werden, die primär Buchstaben entziffern, Zeitung lesen oder investigativ juristische Akten durchforsten. Stattdessen stehen solche filmischen LeserInnen im Mittelpunkt, die eine Lektüre interpretieren, reflektieren oder bewerten. Es werden Sequenzen analysiert, in denen Figuren während oder als Folge des Leseprozesses eine alternative Welt imaginieren, andere Perspektiven einnehmen, Alterität erleben oder Wohlgefallen am Schönen, Schrecklichen oder Witzigen empfinden. Sie fühlen Angst, Freude oder Trauer, gelangen zu neuen Erkenntnissen, machen über Identifikation, Immersion und Reflexion Erfahrungen, verinnerlichen philosophische Weisheiten und Werte – oder flüchten sich in die Literatur, um kompensatorisch Wünsche auszuleben oder vergangene Erlebnisse nachzuempfinden. Neben diesen tradierten Lesegratifikationen liegt das Hauptaugenmerk auf Szenen, in denen Lesende im Film einen intensiven Augenblick erleben. Zum literarisch-ästhetischen Lesen zählen jedoch nicht nur affirmative Reaktionen; ein fiktionaler Text kann den Figuren immense Herausforderungen und Mühen abverlangen: Die Konzentration stellt sich unter Umständen beim Lesen nicht ein, Gedanken mäandern und der Leseakt wird zur Qual. Die Beteiligung an einem Roman gelingt nicht.
Doch es stellt eine kardinale Herausforderung nicht nur für die Produktion von filmischen Leseszenen, sondern ebenso sehr für die Untersuchung Lesender im Film dar, dass der potenziell aufwühlende Leseprozess dem lesenden Individuum in der Regel nicht anzusehen ist, nur vereinzelt sind Spuren, zum Beispiel als äußerlich gezeigte emotionale Reaktion, für die ZuschauerInnen wahrnehmbar.7 LeserInnen sind zudem während der Lektüre überwiegend immobil, das Lesen zwingt sie – mit Hans Ulrich Gumbrecht gesprochen – zur »Insularität«.8 Ihre Tätigkeit steht womöglich im Kontrast zu den dynamischen Inszenierungsmöglichkeiten von Zeit, Bewegung und Ton, über welche das Medium des Bewegtbilds verfügt. Frank Terpoorten stellt aus diesem Grund die – für die vorliegende Studie – provokante Frage: »[W]er will schon Menschen auf der Leinwand zuschauen, wie sie in tiefer Versenkung ein Buch lesen?«9 Dies korreliert mit den emphatisch formulierten Anforderungen des Schweizer Lehrfilmpioniers Gottlieb Imhof an die grundsätzliche Funktion des Mediums Films, »Leben und Bewegung« zu zeigen. »Architekturen, ausgestopfte Präparate, Landschaften ohne bewegte Motive, all das ist nicht Objekt der Kinematographie«.10 Auch laut Siegfried Kracauer grenzt sich der Film unter anderem durch den »Fluß des Lebens«11 von anderen Künsten ab. Doch der moderne Leseakt, die individuelle stille Lektüre, widersetzt sich als abzulichtendes Sujet nicht der Grundfunktion des Films. Hierauf deutet Godard mit seinem eingangs zitierten Satz hin, lesende Figuren als außergewöhnlichste ›Objekte‹ zu bezeichnen, die es zu filmen gilt. Trotz einer dem Leseakt inhärenten Statik gibt es zahlreiche filmische Möglichkeiten, Prozesse darzustellen, die sich im Inneren von lesenden Figuren während des Lektüreakts ereignen.
Der reale literarisch-ästhetische Leseakt kann in zwei Ebenen aufgegliedert werden: Auf der einen Seite stehen die Perzeption und Rezeption der Buchseiten, das Erfassen und Verstehen der dort abgebildeten Buchstaben und Sätze, des Textes; auf der anderen Seite befindet sich die Genese einer anderen, zweiten ›Welt‹, die als das Ergebnis von Imaginationen, die durch die Lektüre entstehen, begriffen werden kann. Das Entstehen dieser ›zweiten Welt‹ gilt als charakteristisch für das literarisch-ästhetische Lesen: Das Entrücken von der Wirklichkeit, die Selbstverankerung in einer prinzipiell neuen und selbst konstruierten Realität, die dadurch entsteht, dass Vorstellungen substanziiert werden. Iris Bäcker lexikalisiert diese beiden Ebenen in die zwei Größen außertextuelle Realität und Textrealität.12 Damit knüpft sie an die Konstanzer Schule an, die in den 1960er Jahre mit der Etablierung der Wirkungsästhetik Wolfgang Isers und der Rezeptionsästhetik Hans Robert Jauß’ einen Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft einleitete: Nicht der Text, die Werkästhetik, steht im Fokus der Betrachtung von Literat...