FinalitĂ€t und Frist â in Barock und Gegenwart
In der Zeitanthropologie der spĂ€ten Moderne, so der Philosoph Odo Marquard, wird Zeit âwie nie zuvor radikal zur Frist: als endliche Lebenszeit des einzelnen Menschenâ1. Dieser Fristgedanke lĂ€sst sich unmittelbar mit dem frĂŒhneuzeitlichen Konzept der Vanitas in Verbindung bringen, denn auch dieses beruht auf einem solchen Zeitkonzept.2 Sein zentrales literarisches Merkmal ist die Antizipation des Todes in der Jetztzeit, wie es besonders die Lyrik des Barock performativ gestaltet.3 Die TemporalitĂ€t der Vanitas ist paradox, weil LinearitĂ€t und Dauer durch eine Ăberblendung von gegenwĂ€rtigem Leben und zukĂŒnftigem Tod in Frage gestellt werden. Denn der Denkfigur der Vanitas zufolge ist das irdische Leben eine bloĂe âFristâ: eine Ă€uĂerst kurze Zeitspanne, die wie der Sand in einem Stundenglas unaufhaltsam verrinnt und zu einem unbestimmten, immer als nah gedachten Zeitpunkt unvermittelt endet. Im Barock war diese Unvorhersehbarkeit und Plötzlichkeit des Todes aufgrund von Krankheiten, Seuchen, mangelnder Gesundheitsversorgung, Kindersterblichkeit, Krieg und Gewalt sehr real. Sie war zugleich Teil einer christlichen Rhetorik, wonach sich die GlĂ€ubigen einerseits stoisch gegen Verlusterfahrungen und TodesĂ€ngste wappnen sollten â unter anderem durch den Gestus der Weltverachtung (contemptus mundi) â, die andererseits aber das Jenseits als utopische Gegenwelt zur KĂŒrze und FlĂŒchtigkeit des menschlichen Lebens idealisiert hat. Die himmlische âEwigkeitâ wurde als âZeit=befreyte Zeitâ4 imaginiert, wie es die Barockmystikerin Catharina Regina von Greiffenberg formuliert hat. In AnknĂŒpfung an das alttestamentliche Buch Kohelet, dem der Vanitas-Gedanke ursprĂŒnglich entstammt,5 wurde der flĂŒchtigen Lebenszeit des Menschen im Barock die zeitenthobene âEwigkeitâ kontrastiert, wie es zum Beispiel Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau in seinem Gedicht âVergĂ€nglichkeitâ gestaltet hat.6 Vanitas wird hier mit Attributen der Scheinhaftigkeit, Schnelligkeit und FlĂŒchtigkeit (von Affekten) besetzt; demgegenĂŒber werden der Ewigkeit Attribute der BestĂ€ndigkeit und Festigkeit zugeschrieben. In manchen literarischen Texten wird die im Gegensatz zur kurzen Lebenszeit als unendlich gedachte Dauer sogar sprachlich erfahrbar gemacht, etwa in den Versen âAch ich meyn die Ewig=Ewig=Ewig=Ewig=Ewigkeit/ | in die der belebend Tod wird entleibend einverleibenâ7, wie es Greiffenberg recht paradox in ihrem Sonett âVerlangen/ nach der herrlichen Ewigkeitâ gefasst hat. Ein weit bekannteres Beispiel ist der Prolog der âEwigkeitâ aus Andreas Gryphiusâ Trauerspiel Catharina von Georgien, in dem eine Personifikation der aeternitas auf den Schauplatz tritt und alle menschlichen Anstrengungen, sich dem Vergehen von Zeit entgegenzustellen, als vergeblich entlarvt.8
Vor dieser frĂŒhneuzeitlichen Folie eines dualen Zeitkonzepts aus flĂŒchtiger irdischer Lebenszeit und ewiger himmlischer Zeit lĂ€sst sich die âTrostlosigkeitâ heutiger sĂ€kularer Vorstellungen ermessen. Nach Marquard, der sich zwar nicht auf das Barock, aber mittelbar auf christliche Zeitvorstellungen bezieht, existieren heute zwei grundlegend verschiedene Formen des Denkens ĂŒber das Lebensende, das entweder als âZielâ oder als âTodâ verstanden wird â anders gesagt: â[E]s gibt das Ende als Vollendung und das Ende als Endlichkeit, es gibt die FinalitĂ€t und die MortalitĂ€t.â9 Das erste Konzept â das Ende als Ziel, Vollendung, FinalitĂ€t â ist religiös konnotiert und lĂ€sst sich mit den skizzierten christlichen Vorstellungen des Barock verbinden, das zweite Konzept â das Ende als Tod, Endlichkeit, MortalitĂ€t â ist demgegenĂŒber sĂ€kular. VergĂ€nglichkeit und Tod werden heute zumeist, anders als im religiösen VerstĂ€ndnis vergangener Epochen, nicht mehr als teleologische Vollendung oder als erfĂŒllte FinalitĂ€t, sondern als bloĂe Endlichkeit, als erlittene MortalitĂ€t begriffen, als ein bestĂ€ndig ĂŒber dem Leben schwebendes âdunkles und fremdes VerhĂ€ngnisâ10.
Marquard bezieht sich bei seinen AusfĂŒhrungen auch auf die Unterscheidung des Philosophen Hans Blumenberg zwischen der unfasslich langen, objektiven âWeltzeitâ und der subjektiven âLebenszeitâ als âultrakurze[r] âEpisodeâ [âŠ] limitiert durch den Tod, der unerbittlichen Grenzeâ.11 Blumenberg habe âdie Endlichkeit der menschlichen Lebenszeit [âŠ] zum zentralen Zeitproblemâ12 erhoben. Marquard verweist ferner auf den Fundamentaltheologen Johann Baptist Metz, der die âEntfristungâ der Weltzeit theologisch reflektiert hat, und bemerkt:
Erst wo sie ihre eschatologische FinalitĂ€t als Heilszeit â als befristeter Weg zum erlösenden Ende, zur âErfĂŒllung der Zeitâ, als Frist zum Heil â verliert, kann die Weltzeit zu jener (wie Metz sagt) ziellos âoffenenâ und âevolutionĂ€r entfristeten Zeitâ werden, die die moderne â physikalisch orientierte â Kosmologie geltend macht [âŠ].13
Metz selbst stellt dar, dass christlich gesehen âzwei Zeitbotschaften einander gegenĂŒberâ stehen: âzum einen die aus den biblischen Traditionen herkĂŒnftige, in die Moderne hineinwirkende und auch die Moderne hintergrĂŒndig strukturierende Botschaft von der befristeten Zeit und zum anderen die Botschaft von der fristlosen Zeit, kurzum von der Ewigkeit der Zeitâ.14 Dies lĂ€sst sich anhand der Barockgedichte gut nachvollziehen. Marquard bezieht sich jedoch nicht auf das hier zitierte, 2006 erschienene Buch von Metz, sondern auf einen Vortrag von 1987.15 AuĂerdem ist hervorzuheben, dass Metz die Begriffe âFinalitĂ€tâ und âFristâ in seiner spĂ€teren Publikation anders als bei Marquard zitiert versteht. Somit ergibt sich folgender Unterschied: Bei Marquard gilt (erfĂŒllte) FinalitĂ€t fĂŒr Menschen als unerreichbar, bei Metz bleibt sie in heilsgeschichtlicher Hinsicht möglich, allerdings bezeichnet er diese âZeit mit Finaleâ zugleich als âZeit mit Frist, als befristete Zeitâ,16 wĂ€hrend Marquard den Fristgedanken eher negativ deutet â im Sinne eines ĂŒber dem Leben schwebenden Damoklesschwerts. Genau genommen werden also von den Philosophen Marquard und Blumenberg sowie dem Theologen Metz drei Zeitbegriffe verhandelt: der traditionell christlich-theologische (FinalitĂ€t, Vollendung), der naturwissenschaftlich-moderne (entfristete/fristlose Zeit; bei Metz verwirrenderweise auch âEwigkeitâ genannt) sowie der anthropologisch-philosophische (Frist, Endlichkeit, MortalitĂ€t). Diese Differenzierung ist, wie schon angedeutet, neuzeitlich, denn in der FrĂŒhen Neuzeit galt die christliche Vorstellung von FinalitĂ€t als Eingehen in die (göttliche) Ewigkeit. Sowohl in der FrĂŒhen Neuzeit als auch in der Gegenwart gab und gibt es mithin zwei dominante Denkweisen von Zeit, eine der unendlichen Dauer und kontrĂ€r dazu eine der radikalen KĂŒrze.
Marquard geht im Anschluss an Blumenberg davon aus, dass die âmoderne Entdeckung der âentfristetenâ, der âoffenenâ Weltzeit den Fristcharakter der Zeit nicht etwa zum Verschwinden [bringt]â, sondern ihn im Gegenteil radikalisiert, âindem sie ihn nun ganz und gar in jene Zeit verlagert und konzentriert, die fĂŒr uns Menschen am unvermeidlichsten Frist ist: in die endliche Lebenszeit unseres eigenen Lebens, in das also, was Hans Blumenberg als jene âEpisodeâ charakterisiert, die jeder von uns istâ.17 Recht Ă€hnlich hat auch der Philosoph Jean-François Lyotard dies formuliert: âDas Leiden am Fehlen der FinalitĂ€t ist der postmoderne Zustand des Denkens, also das, was man heute gemeinhin seine Krise, sein Unbehagen oder seine Melancholie nennt.â18 Die philosophisc...