Angstkonstruktionen
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Angstkonstruktionen

Kulturwissenschaftliche Annäherungen an eine Zeitdiagnose

  1. 358 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Angstkonstruktionen

Kulturwissenschaftliche Annäherungen an eine Zeitdiagnose

Über dieses Buch

Die Reihe Sprache und Wissen (SuW) ist eine Plattform für hochwertige Arbeiten zur germanistischen Linguistik mit interdisziplinärer Ausstrahlungskraft. Sie greift aktuelle Tendenzen der Wissensgesellschaft unter linguistischer Perspektive auf, um zu zeigen, wie gesellschaftliches und fachspezifisches Wissen durch Sprache erst entsteht und dadurch perspektiviert wird. Die sprachwissenschaftliche Betrachtung diskursiv geprägter Wissensformate soll auf neuartige Weise das Fach und die an Sprache interessierten Wissenschaften voranbringen.
Die Reihe versammelt Arbeiten mit semantischen, pragmatischen und grammatischen Beschreibungsansätzen unter varietätenspezifischem sowie text- und diskurslinguistischem Erkenntnisinteresse.

Wissenschaftlicher Beirat:
Markus Hundt
Wolf-Andreas Liebert
Thomas Spranz-Fogasy
Berbeli Wanning
Ingo H. Warnke
Martin Wengeler

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Information

Jahr
2021
ISBN drucken
9783110731262
eBook-ISBN:
9783110729764

Jean Delumeau (1923–2020) und die Entdeckung des „pays de la peur“

Rita Voltmer

Abstract

Die Werke des französischen Mentalitäts- und Religionshistorikers Jean Delumeau gehören zum kanonisierten Bestand der Kulturgeschichte. La peur en l’Occident (1978) und der Nachfolgeband Le péché et la peur: La culpabilisation en Occident (XIIIe-XVIIIe siècles) (1983) werden als pauschale Nachweise für ein verdüstertes Spätmittelalter sowie eine noch finsterere Frühe Neuzeit herangezogen. Mit seinen Thesen vom halb-paganen Mittelalter und einer erst frühneuzeitlichen Christianisierung durch Reformation, Gegenreformation und Konfessionalisierung gehörte Delumeau zur Avantgarde der französischen Annales-Schule, obwohl oder weil seine als provokant und polemisch kritisierten Behauptungen heftigen Widerspruch auslösten. Der vorliegende Beitrag hinterfragt die Genese von La peur en l’Occident, die Art der dort präsentierten Quellen und deren methodische Erschließung. Nach knappen biographischen Notizen zum Autor und seinen Netzwerken wird sich dem von Delumeau gelieferten Entstehungsnarrativ und seiner persönlichen Mission als bekennender Katholik zugewandt, um dann seine Arbeitsweise unter die Lupe zu nehmen. Ein letzter Abschnitt beschäftigt sich mit der Rezeption des Angst-Paradigmas. Auf der Grundlage der neuesten Forschung dürfen Delumeaus Deutungen nicht mehr zur Annahme verleiten, die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften seien von endzeitlich-existentieller Paranoia geschüttelt gewesen. Das Reden, die Diskurse, die Texte und Bilder über Angst, Schrecken und Bedrohungen liefern keine quantitativ validen empirischen Befunde über die dahinterliegenden Phänomene individueller oder kollektiver Ängste. Die „Angst im Abendland“ hat es mithin nicht gegeben.
The work of Jean Delumeau, famous protagonist of the French history of mentalities and religion, belongs to the canonized stock of cultural history. Both La peur en l’Occident (1978) and its sequel Le péché et la peur: La culpabilisation en Occident (XIIIe-XVIIIe siècles) (1983) still count as general proof for the „doom and gloom“ scenarios of late medieval and early modern times. The ongoing success of La peur en l’Occident is partly owed to Delumeau’s narrative about his personal obsession with the topic and his specific design of a „géographie de la peur“. Delumeau belonged to the avantgarde of the French Annalesschool. However, his main thesis about the still pagan Middle Ages, which was cristianized with the help of Reformation and Counter-Reformation, found many critics. The chapter scrutinizes the onset of La peur en l’Occident, its source material and Delumeau’s methodological approach. After some short biographical notes, we analyse his networks, his mission and his work as a confessing Catholic historian, facts, which took a vital impact on the discovery of „the land of fear“. A final paragraph focusses at the reception of his history of fear. In the light of recent research, his methods in selecting and interpreting his source material are sending out a ponderous warning: The mere wording of fear gives no valid evidence neither for the quantity nor the quality of individual or collective fears in the past. Delumeau’s „fear in the Western world“, thus, historically has never existed.

1 „Le pays de la peur“ – erste Erkundungen

Am 13. Januar 2020 ist der französische Historiker Jean Delumeau im Alter von 96 Jahren verstorben. Während diese Nachricht in der französischen Presse entsprechend kommentiert und ein von ihm für diesen Anlass vorbereiteter Text publiziert wurde, fand sein Tod in den deutschsprachigen Medien zunächst nur ein geringes Echo.1 Immerhin galt Delumeau seit seiner 1978 in französischer Sprache erschienenen Studie als Experte in existentiellen Fragen zur Angst im Abendland. Noch vor knapp zwanzig Jahren, kurz nach dem Millennium und angesichts der von Osama bin Laden ausgesandten Terrordrohungen, hatte die ZEIT den renommierten Wissenschaftler unter dem Titel „Das Abendland hat eine Höllenangst“ zu vergangenen und aktuellen Gefühlslagen des Westens interviewt. Dort betonte Delumeau, Seuchen stellten für die Menschen des späten Mittelalters – und man muss hinzufügen erst recht für die globalisierte Welt der Gegenwart – „die größte vorstellbare Bedrohung“ dar. Letztlich sei jedoch Angst „ein ständiger Begleiter der Menschheit. Jede Angst ist letztlich Todesangst“. Allerdings seien die heutigen westeuropäischen Gesellschaften „so dechristianisiert“, dass sie „der Angst nur materielle Antworten entgegensetzen“ könnten (Hénard 2001).2
Mit diesen Statements hatte Delumeau einmal mehr auf Hauptaussagen seiner Studien zur vormodernen Angst verwiesen, die zu den kanonisierten Werken der Kulturgeschichte zählen. Uneinigkeit herrscht allerdings darüber, ob der als Sozial-, Mentalitäts- und Religionshistoriker etikettierte Delumeau auch als ein Vorläufer der neueren Emotionsgeschichte anzusprechen ist. Sicher gilt er als ein Historiker im Fahrwasser von Johan Huizinga (Schnell 2015: 899–905).3 Jenseits dieses Klassifizierungsgerangels werden Delumeaus voluminöse Monografien La peur en l’Occident (1978) – in fünfzehn Sprachen übersetzt (Dichtfield 2020: 339) – und der 1983 erschienene Nachfolgeband Le péché et la peur: La culpabilisation en Occident (XIIIe-XVIIIe siècles)4 gerne als pauschale Nachweise für die „doom and gloom mentality“ (Holt 1993: 535; Langmuir 1992: 657) eines verdüsterten Spätmittelalters sowie einer noch finstereren Frühen Neuzeit zitiert. Auch wenn der entsprechende Artikel eines rezenten Handbuchs zur Emotionsgeschichte inzwischen kritisch mit den Thesen Delumeaus umgeht (Bähr 2019a: 158)5, so finden sich dessen Darlegungen in einem Handbuch zur Angstforschung weiterhin als verbindliche Diagnosen vergangener Gefühlswelten (Koch 2013: 7–8, 71, 149, 172, 183, 201, 288). Gleichfalls wertet ein Handbuch zur Religionssoziologie die Arbeiten von Delumeau als „quellensatte Standardwerke“, deren Resultate allerdings „genauer zu akzentuieren“ seien (Eßbach 2014: 106, 107). Der Verweis auf La peur en l’Occident dient dabei gleichsam als Chiffre für eine von Angstrhetorik und Angstkultur infizierte Vergangenheit. Die Renaissance war demnach kein Ort heiterer, diesseitiger Freuden und der Entdeckung des Individuums, sondern eine Epoche der Gewissensängste, in der Pessimismus, Melancholie und Schuldneurosen regierten, welche in Paniken und Pogrome gegen Hexen, Juden, Ketzer und den konfessionellen Gegner mündeten.6
Zum andauernden Erfolg von La peur en l’Occident hat sicher beigetragen, dass der Autor seine Beschäftigung mit abendländischen Ängsten und den Entwurf einer „géographie de la peur“ (1978a: 390) in eine Erzählung einbettete, die bis heute Psychologen, Geschichtsdidaktiker oder Historiographen beschäftigt (vgl. hier Abschnitt 3). Zumindest in der Einleitung bemühte sich Delumeau – „ganz einer freudianisch grundierten Psychohistorie verpflichtet“ (Bähr 2019b: 301) – um begriffliche Eindeutigkeit. So unterschied er zwischen diffuser Angst („angoisse“) und der auf konkrete Bedrohungen bezogenen, individuellen wie kollektiven Furcht („peur“) (1978a: 15). Diese, letztlich auf Søren Kierkegaard zurückgehende Differenzierung forderte Delumeau auch später nochmals ein: „Unsere Zeitgenossen gehen schludrig mit den Begriffen um: Angst ist die tiefe innere Unruhe bei einer unbestimmten Gefahr, Furcht dagegen ist objektbezogen.“ (Hénard 2001).7 Die von Delumeau betonte Differenzierung zwischen „angoisse“ (Angst) und „peur“ (Furcht) wurde schon im französischen Original nicht immer stringent beachtet. In der deutschen Ausgabe verschwindet sie völlig, da die beiden Übersetzerinnen unter Rekurs auf Mario Wandruszka die Bezeichnungen „Angst“ bzw. „Ängste“ generell bevorzugten (1985a: 29), geschuldet dem Befund, dass einer strikten begrifflichen Trennung von Angst und Furcht der Sprachgebrauch entgegenstand (und steht), da beide Bezeichnungen „sowohl in der Literatur wie in der Alltagssprache nahezu synonym verwendet werden“ (Schüz 2016: 25).8 Ein reflektierter semantischer Zugriff sowohl auf die von Delumeau zitierten Quellenauszüge als auch auf deren Analysen bleibt der Leserschaft so jedoch verwehrt.
Delumeaus Thesen zur „Angst im Abendland“ lassen sich kurz zusammenfassen: Mitverantwortlich für die kollektiven Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrh...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. Open-Access-Transformation in der Linguistik
  5. Angstkonstruktion: Interdisziplinäre Annäherungen an eine Zeitdiagnose und ein Versuch ihrer linguistischen und literaturwissenschaftlichen Präzisierung Anstelle einer Einleitung
  6. Philosophische Reflexion zu den Spielarten kollektiver Furcht
  7. Jean Delumeau (1923–2020) und die Entdeckung des „pays de la peur“
  8. Verbotene Räume Zur Poetik tabuisierter Orte von Blaubarts Kammer bis Håfströms Zimmer 1408
  9. A Matter of Perspective Frames and Discourses of Fear in the Netflix series Jessica Jones, Stranger Things, Dark and The Rain
  10. „Sie werden nun ziemlich furchtsam sein“. Zukunftsangst in der mittelalterlichisländischen Sagaliteratur
  11. Die Darstellung und Funktion von Angst im Märchen Schneewittchen Die Gebrüder Grimm und Walt Disney im Vergleich
  12. Angst in der Ratgeberliteratur Eine kulturanalytische linguistische Studie
  13. Angstkonstruktionen zwischen „sinnvoller Vorsicht und sinnloser Panik“ Eine korpuspragmatische Studie zu Sprachgebrauchsmustern im Umfeld des Lexems Angst in Online-Zeitungen
  14. Das böse Wort mit C Sprachliche Strategien des Umgangs mit Angst im Corona-Diskurs
  15. Die Stimmung kippt (nicht von allein) Sprachliche Angstkonstruktion im Flüchtlingsdiskurs
  16. Fear as an Affective Trait
  17. Autorenverzeichnis
  18. Index