In antiken Mythen ist der Himmel kein einfaches Oben, sondern ein numinoser Raum. Was von dort kommt, besitzt daher an sich eine herausragende Bedeutung. Der vom Collegium Mythologicum vorgelegte transdisziplinäre Band katalogisiert und analysiert mythische Stoffe, die in den antiken Kulturen des Mittelmeers und des Vorderen Orients von einem solchen Transfer berichten. Er greift dabei auf die von Christian Zgoll und in verschiedenen Forschungsverbünden etablierte, allgemeine und vergleichende Stoffwissenschaft (Hylistik, s. den Band MythoS = Mythological Studies 1) zurück und führt auf dieser gemeinsamen theoretisch-methodischen Basis die einzelnen Befunde systematisch zusammen (Teil 1 dieses Bandes). Hierdurch erschließt der Band ein reiches Spektrum an Mythen unterschiedlicher Kulturen in Form von Überblicksbeiträgen (Teil 2), Einzelstudien (Teil 3) und komparativen Auswertungen (Teil 4), und zielt darauf, die antiken Mythen in ihren originären Zusammenhängen zu begreifen und Konzepte, welche hinter Textquellen und ihren mythischen Erzählstoffen stehen, aufzuschlüsseln.
1 Einführung und Theoretisch-Methodisches
Im Anschluss an die inhaltliche Hinführung in den Band im vorliegenden Beitrag findet sich eine kondensierte Grundlegung zu Theorie und Methodik der hylistischen Mythosforschung (Beitrag C. Zgoll Grundlagen der hylistischen Mythosforschung): Mythen sind Erzählstoffe, die nicht in Reinform vorliegen; vielmehr existieren Mythen immer eingekleidet in eine bestimmte mediale Form wie z. B. in ein textliches oder bildliches Gewand. Mythische Erzählstoffe, oder anders ausgedrückt, die reinen inhaltlichen Handlungsgerüste mythischer Stoffvarianten, müssen daher hinter ihrer medialen Einkleidung erfasst werden. Diese stoffliche Rekonstruktion gelingt durch die Analyse und stoffchronologische Anordnung der einzelnen Erzählbausteine (Hyleme) der jeweiligen Mythenvarianten, kürzer ausgedrückt: mit Hilfe der Methode der Hylemanalyse.
Dazu kommt eine weitere grundlegende Eigenart von Mythen: Mythen sind weltanschauliche Kampfplätze. Immer wieder neu ausgetragene Deutungsmachtkonflikte schlagen sich in verschiedenen Schichten (Strata) nieder, die mit Hilfe der Methode der Stratifikationsanalyse voneinander unterschieden werden können. Mit den hylistischen Werkzeugen lassen sich schließlich auch Mythenvergleiche auf einer einheitlichen methodischen Basis durchführen. In diesem Beitrag wird darüber hinaus als eine wichtige Weiterentwicklung der theoretischen Basis für die Methode der Hylemanalyse die Unterscheidung zwischen durativen und punktuellen Hylemen eingeführt, die in jedem Mythos zu finden sind. Durative Hyleme, die schon vor Beginn der eigentlichen mythischen Handlungssequenz gelten, erweisen sich dabei als Ergebnisse anderer mythischer Überlieferungen.
2 Überblicksbeiträge
Überblicksbeiträge geben Einblicke in die mesopotamische, ägyptische und griechische literarische Überlieferung, und geben Antwort auf die Frage, welche verschiedenen Entitäten – Wesen und Objekte – vom Himmel kommen.
Auf Mythen mit diesem Inhalt wird im antiken Sumer oft mit nur wenigen Worten verwiesen oder angespielt. Während solche isolierten Hyleme nach mehreren Jahrtausenden dem Verständnis gewisse Hindernisse in den Weg legen, zeigt die formale Verknappung die Selbstverständlichkeit, mit der man antik mit diesen Erzählstoffen umging. Dies dokumentiert, dass die entsprechenden Erzählstoffe bei ihren Rezipienten als bekannt vorausgesetzt waren (Beitrag Kärger).
Für den Bereich der akkadischen Literatur werden speziell Rituale ins Auge gefasst, in denen ein Hervorkommen aus dem Himmel von Dämonen, die Krankheiten bringen, thematisiert wird (Beitrag Zomer). Mythen, die in solchen Ritualen tradiert werden, erwähnen Schnüre und Seile, an denen die Dämonen auf die Erde kommen. Sie können aber auch einfach herabfallen oder einen fallenden Stern als Vehikel verwenden.
Der Beitrag von Naether befasst sich mit Himmelstransfer-Passagen aus der altägyptischen Literatur (Erzählungen, Weisheitslehren, Reden und Diskurse sowie ausgewählte Epen und Sprüche der griechisch-römischen magischen Papyri). Zusätzlich werden in einem Exkurs Regen und andere Wetterphänomene besprochen, allen voran das „Regenwunder“ während der Regierungszeit des Kaisers Marcus Aurelius.
Während in sumerischen literarischen Überlieferungen relativ häufig ausgesagt wird, dass etwas vom Himmel kommt, bleibt die Angabe des Herkunftsorts in griechischen Überlieferungen häufiger ausgespart. Erst in jüngeren Texten wird der Herkunftsort mehrfach mit dem Himmel in Verbindung gebracht, wo ältere Versionen von Mythen dies teils offenlassen oder teils eher andere Orte wie v. a. den Olymp angeben (Beitrag C. Zgoll Göttergaben und Götterstürze). Wichtiger scheint zu sein, von welcher Gottheit etwas kommt, wobei unklar bleiben kann, wo diese Gottheit genau lokalisiert wird (z. B. Hephaistos). Dagegen werden im Sumerischen wiederum Götter, die etwas vom Himmel bringen, selten namentlich genannt; als ausdrückliche Ausnahme ist hier der Himmelsgott An zu nennen.
In den verschiedenen untersuchten Kulturen – Mesopotamien, Ägypten, Griechenland – kommen Götter oder numinose Wesen wie Dämonen vom Himmel (Beiträge Kärger, Naether, Zomer; C. Zgoll Göttergaben und Götterstürze), teils nur ihr Glanz oder ihr Brüllen (Beitrag Kärger). Außerdem gelangen Dinge wie Tempel oder numinose Machtmittel aus dem Himmel, Regen und andere Wetterphänomene, aber auch Kulturgüter (Beiträge Kärger, Naether; C. Zgoll, Göttergaben und Götterstürze)1.
3 Einzelstudien
Einzelstudien untersuchen mythische Himmelstransfers in Bezug auf ein bestimmtes Objekt oder Phänomen als exemplarische Vertiefungen der Thematik. Behandelt werden u. a. das Herabbringen des ersten Tempels durch die mesopotamische Göttin Innana, die himmlische Herkunft des Königtums in verschiedenen Mythen des Zweistromlands, für Griechenland und Rom der Feuerraub des Prometheus, Zeus’ Gabe des Palladions (eines später v. a. mit Athene assoziierten Kultbilds) bzw. der Palladia als Unterpfand für den Schutz der Stadt Troia, der Himmelssturz des Hephaistos sowie Jupiters himmlische Gabe des ancile bzw. der ancilia, des schild-gestaltigen Unterpfands der römischen Weltherrschaft.
Während in der sumerischen Literatur isolierte Hyleme, die auf Mythen über eine Herkunft aus dem Himmel anspielen, die Art und Weise, wie etwas heraus- und herabkommt, oft aussparen (vgl. den Überblicksbeitrag von Kärger), findet sich eine ausführliche Schilderung in einem sumerischen epischen Preislied, das den Mythos INNANA BRINGT DAS HIMMELSHAUS FÜR DIE ERDE besingt (Beitrag A. Zgoll). Hier wird sichtbar, dass sich dem Herabkommen eines kostbaren Gutes aus dem Himmel gewaltige Hindernisse in den Weg stellen können. Da lässt der Himmelsgott Stürme und Orkane aufkommen, die das Himmelshaus im Himmelsozean versinken lassen. Ein kosmischer Wächter, der riesige, am Himmel sichtbare Skorpion, bewacht drohend den schmalen Pfad, der...