Geschichtsdidaktische Interessen am historischen Reenactment
Die didaktische Relevanz von Geschichtssorten – also unterschiedlicher medialer Formen von Historiographie1 – wird oft darin gesehen, ob und wie sie im Geschichtsunterricht eingesetzt werden können. Geschichtssorten, die Vergangenes in der Gegenwart dynamisch-bildlich oder durch aktive Aufführung präsentieren, wird dabei eine besondere Eingängigkeit und Unmittelbarkeit zugeschrieben. Dank ihrer Anschaulichkeit, so die Annahme, ermöglichen sie einen Zugang zum dargestellten Vergangenen, der ohne die Zuhilfenahme der im Geschichtsunterricht vorherrschenden abstrakten, kognitiven Sprache auskommt. Zu ihnen gehören diejenigen, die zuweilen mit dem Begriff des Doing History2 zusammengefasst werden, in denen Vergangenes mittels körperlicher Handlungen im Raum (performativ) vorgeführt wird, darunter das Reenactment und die damit verwandte Living History.3 So werden etwa als Römer verkleidete Personen in den Unterricht eingeladen, um Geschichte „zum Anfassen“ zu präsentieren und so „begreifbar“ zu machen.4 Auch an außerschulischen Lernorten wird Geschichte performativ für und mit Besucher*innen nachgestellt.5
Gerade die vermeintliche Eingängigkeit solcher Darstellungen ist jedoch höchst problematisch. Nicht selten bleiben die ihre Produktion bestimmenden Deutungsabsichten und zugrunde liegenden Entscheidungen verdeckt und resultieren in einer unkritischen Rezeption oder gar Indoktrination.6 Umso wichtiger erscheint es, die Darstellung von Vergangenem durch eine Thematisierung der jeweiligen Darstellung selbst zu ergänzen und damit zu durchbrechen. Gerade die gesprächsorientierten Formen der Living History, die die Kostümierung und Ausrüstung der Darsteller*innen in den Mittelpunkt stellen, böten dazu eine gute Möglichkeit. Berichte wie jener eines Gymnasiums7 lassen jedoch vermuten, dass diese Möglichkeiten oft unausgeschöpft bleiben.
Was ohne eine explizite Thematisierung ein Problem werden kann, bildet zugleich das besondere Potenzial der Geschichtssorte Living History. Dieses entfaltet sich dann, wenn die gesellschaftlich zugewiesenen Bedeutungen der darstellten Vergangenheit und die ihr zugrunde liegenden Interessen, Motive und Vorstellungen thematisiert werden. Dann nämlich eröffnet der Einsatz dieser Geschichtssorte den Lernenden einen Einblick in Facetten und Merkmale individuellen und kollektiven Geschichtsbewusstseins und in Formen des Umgangs mit Vergangenheit. Auf diese Weise werden sie zu kritischem und selbstständigem historischen Denken befähigt.
Für das mit der Living History verwandte, oft von denselben Akteur*innen ausgeübte Reenactment gilt dies umso mehr.8 Dort tritt als Element das aktive Handeln hinzu, das nicht so sehr der Veranschaulichung für ein Publikum dient, als vielmehr den Darsteller*innen selbst ein Erlebnis des Vergangenen ermöglichen soll.9 Aus der (vermeintlichen) Unmittelbarkeit des immersiven Erlebens werden Ansprüche einer besonderen Befähigung zu authentischer Darstellung gegenüber einem Publikum abgeleitet. Zugleich wirken sich die entsprechenden Interessen und Überzeugungen der Darsteller*innen auch auf verschiedene Aspekte des gesellschaftlichen Geschichtsbewusstseins aus. Als solche müssen sie in historischen Lernprozessen thematisiert und von der Geschichtsdidaktik reflektiert werden. Denn modernem Geschichtsunterricht geht es nicht (allein) um die Stabilisierung der Gesellschaft mittels eines gemeinsamen Geschichtsbildes, sondern grundlegender um die Befähigung und Ermutigung der Lernenden zur aktiven und kritischen Teilhabe an einer – oft unübersichtlichen und kontroversen – Geschichtskultur. Außerschulische Lernorte sind dabei ebenso in den Blick zu nehmen, denn auch sie stellen Lerngelegenheiten dar, die es zu reflektieren gilt.10
In diesem Sinne skizziert der folgende Beitrag geschichtsdidaktische Perspektiven auf historisches Reenactment und Living History als zwei miteinander verwandte Geschichtssorten. Dazu werden unter Nutzung von in der deutschen geschichtsdidaktischen Forschung entwickelten Theoriekonzepten bestimmende Eigenschaften der jeweiligen Geschichtssorte analysiert und Facetten eines kompetenzorientierten Lernens skizziert. Es kann und soll dabei nicht darum gehen, Reenactment als Gegenstand für die Geschichtsdidaktik zu reklamieren. Vielmehr soll aufgezeigt werden, welche spezifischen Perspektiven die Geschichtsdidaktik als vornehmlich mit Prozessen historischen Lernens befasste Disziplin auf historisches Reenactment richten kann und umgekehrt. Welchen Stellenwert hat Reenactment im Forschungsfeld der Geschichtsdidaktik, die im Rahmen der sogenannten Kompetenzorientierung seit etwa 2005 die Befähigung Lernender zu verantwortlicher aktiver wie passiver Teilhabe an der Geschichtskultur betont?11
Anders als in anderen Beiträgen dieses Bandes steht hier nicht ein konkretes Fallbeispiel im Zentrum, sondern eine konzeptuelle Argumentation. Gleichwohl werden Erträge zweier Exkursionen mit Lehramts- und Fachwissenschafts-Studierenden der Universität Hamburg im Juli und August 2017 zu den Reenactments der Schlachten von Grunwald (1410) in Polen und Gettysburg (1863) in den USA herangezogen. Im Projekt haben Studierende didaktische Materialien zur (nicht nur) unterrichtlichen Erschließung einer ganzen Reihe unterschiedlicher Geschichtssorten erarbeitet. Zur Validierung und Erweiterung der zuvor anhand von Literatur erarbeiteten Facetten und Aspekte dienten dabei neben Beobachtungen auch Gespräche und Interviews mit Aktiven und Zuschauer*innen, aus denen hier einzelne Passagen zur Verdeutlichung genutzt werden.12
Historisches Reenactment als Geschichtssorte und geschichtskulturelle Praxis
Der Begriff Geschichtssorte bezeichnet über die Resultate unterschiedlicher Umgangsweisen mit Geschichte hinaus die sie jeweils ermöglichende und rahmende mediale Form sowie die ihre Hervorbringung und Nutzung prägenden, nicht nur kognitiven Handlungen und Aktivitäten (Performativität). Alle geschichtskulturellen Praktiken erzeugen bedeutungshaltige Bezugnahmen auf Vergangenes, jedoch in je unterschiedlicher Art und Weise. Einige Charakteristika ihrer Medialität teilen sie mit jeweils anderen Geschichtssorten bzw. Praktiken.13 Es ist die spezifische Konfiguration bestimmter Merkmale, die relevant für die Analyse der jeweils möglichen und realisierten Narrative ist. Die sprachlich, performativ bzw. enaktiv hervorgebrachten und in unterschiedlichem Maße flüchtigen Bezugnahmen auf Vergangenes sind weder durch das Vergangene einfach vorgegeben noch völlig beliebig. Vielmehr gehen in sie Aspekte des Dargestellten ebenso ein wie solche der darstellenden Gegenwart inklusive bereits narrativ codierter Deutungen. Die geschichtskulturelle Relevanz und Bedeutung einer Geschichtssorte ergibt sich somit nicht aus der Summe der Einzelbetrachtungen der möglichen Elemente, sondern aus ihrer jeweiligen Konfiguration und der narrativen Logik der entstehenden Geschichten. Wie alle Formen des Umgangs mit Vergangenheit vergegenwärtigen auch Reenactments nicht die tatsächliche vergangene Wirklichkeit im Sinne einer unveränderten Aktualisierung. Vielmehr transferieren sie diese in neue Bedeutungskontexte bzw. erzeugen diese erst. Indem unterschiedlichen Zeitebenen zugehörige Elemente der Wahrnehmung und der normativen Auffassung von Welt miteinander verbunden werden, entstehen diverse neue und flüchtige Narrative.
Aufgrund seiner spezifischen Formen von Medialität und Performativität (bzw. Enaktivität) stellt das Reenactment somit eine eigene Geschichtssorte dar, die in der Gesellschaft vorhandene Vorstellungen und Bedeutungen von Geschichte nicht nur ausdrückt, sondern ihrerseits beeinflusst. Wie Wolfgang Hochbrucks Geschichtstheater konnotiert der Begriff Performativität tendenziell den Aspekt einer Aufführung gegenüber Dritten, die nicht bei allen Reenactments gegeben ist, etwa bei vielen tacticals.14 Zentraler scheint vielmehr der begrifflich im Reenactment enthaltene Aspekt der Enaktivität im Sinne einer nicht so sehr nach außen, sondern vielmehr nach innen, auf Erleben gerichteten, handelnden Koinszenierung des Vergangenen im kognitionswissenschaftlich-konstruktivistischen Sinn sowie einer symbolischen „Wiedereinsetzung der vergangenen Situation in den vorigen Stand“15 – gerade auch für zuweilen vorzufindende Fantasien der Hervorbringung alternativer Ausgänge von Ereignissen.
Pluralen und demokratischen Gesellschaften, die ihre He...