Valeska GERSTUNG52 & Ernst DEUER (Ravensburg)
Theorie-Praxis-Verzahnung im dualen Studium: Ein konzeptioneller Forschungsbeitrag
Freier Beitrag · DOI: 10.3217/zfhe-16-02/14
Zusammenfassung
Die Verzahnung von Theorie und Praxis ist ein Strukturmerkmal und Qualitätskriterium des dualen Studiums. Dennoch ist der Begriff „Theorie-Praxis-Verzahnung“ (TPV) unterspezifiziert. Dieser Artikel entwickelt ein theoretisches TPV-Konzept, das die mehrdimensionale Struktur des Phänomens erfasst und auf unterschiedliche duale Studienformate anwendbar ist. Das Verhältnis zwischen TPV und Theorie-Praxis-Transfer wird erörtert. Der Artikel bietet eine theoretische Grundlage für empirische Studien zur TPV sowie für die Weiterentwicklung des Qualitätsmanagements dualer Studiengänge.
Schlüsselwörter
Duales Studium, Theorie-Praxis-Verzahnung, Lernortverzahnung, Theorie-Praxis-Transfer
Theory-practice linkage in cooperative education: A conceptual clarification
Abstract
The link between theory and practice is a structural feature and a quality measure of cooperative education. However, the term “theory-practice linkage” (TPL) has not been adequately defined. In this paper, we develop a theoretical concept of TPL that captures the multi-dimensional structure of the phenomenon and can be applied to different cooperative education programs. We also discuss the relationship between TPL and theory-practice transfer. The paper provides a theoretical foundation for empirical studies on TPL, as well as for the further development of quality management in cooperative education programs.
Keywords
cooperative education, theory-practice linkage, theory-practice transfer
1 Das Spezifikationsproblem der TPV
Die Verzahnung von Theorie und Praxis ist ein häufig thematisiertes Phänomen in wissenschaftlichen und praxisbezogenen Publikationen über das duale Studium (vgl. z.B. CENDON et al., 2016; KRONE, 2015; MEYER-GUCKEL et al., 2015). Das Interesse an der Theorie-Praxis-Verzahnung (TPV) erklärt sich einerseits dadurch, dass die strukturelle und inhaltliche Abstimmung zwischen akademischem und beruflichem Lernort ein grundlegendes Merkmal des dualen Studiums darstellt. Andererseits ist die TPV ein entscheidendes Motiv bei der Studienwahlentscheidung (ARENS-FISCHER et al., 2016; FASSHAUER & SEVERING, 2016). Vor diesem Hintergrund wäre zu erwarten, dass es sich bei der TPV um ein wohldefiniertes Konzept handelt. Der Vergleich einschlägiger Veröffentlichungen zeigt jedoch ein heterogenes und unterspezifiziertes Begriffsverständnis. Als Ursache hierfür lassen sich eine selektive Betonung bestimmter Aspekte der TPV sowie eine Verwischung der konzeptionellen Grenzen zwischen TPV und Theorie-Praxis-Transfer erkennen (vgl. z. B. HESS, 2019; TRUSCHKAT & VOLK, 2020; ULRICH, 2019).
Diese konzeptionelle Unterspezifikation verursacht zwei Probleme: Erstens sind präzise theoretische Konzepte eine wichtige Grundlage für empirische Forschung in den Sozialwissenschaften. Ohne diese Grundlage kann ein Forschungsgegenstand nur unzulänglich empirisch erfasst werden. Zudem erschwert die Verwendung unterspezifizierter Konzepte die Entstehung von kumulativem Erkenntnisgewinn zu dem Forschungsgegenstand (GERRING, 2012). Zweitens ist ein differenziertes TPV-Konzept ein wichtiger Bezugspunkt für das Qualitätsmanagement dualer Studiengänge. Das Fehlen dieses Bezugspunktes erschwert Hochschulen die Durchführung von Stärken-Schwächen-Analysen über die TPV in ihren dualen Studiengängen sowie die darauf basierende Entwicklung von Verbesserungsmaßnahmen.
Dieser Artikel entwickelt ein theoretisches Konzept von TPV im dualen Studium. Das Konzept ist für praxis-, ausbildungs- und berufsintegrierende Studienformate anwendbar. Die inhaltliche Bedeutung des Begriffs wird durch die Beschreibung der Funktion von TPV im dualen Studium sowie die Diskussion der Begriffselemente „Theorie“, „Praxis“ und „Verzahnung“ hergeleitet. Hierdurch werden die Eigenschaften des Konzepts spezifiziert und die mehrdimensionale Struktur des Phänomens erfasst. Abschließend wird das Verhältnis zwischen dem TPV-Konzept und dem Konzept des Theorie-Praxis-Transfers erörtert.
2 Die Doppelfunktion der TPV
Das duale Studium umfasste mit knapp 3,8% aller Studierenden im Jahr 2019 ein relativ kleines Segment auf dem tertiären deutschen Bildungsmarkt. Im Jahr 2004 betrug dieser Anteil jedoch nur knapp 2,1%. In demselben Zeitraum stieg die Anzahl dualer Studiengänge von 512 auf 1.662 (HOFMANN et al., 2019; STATISTISCHES BUNDESAMT, 2021). Vor dem Hintergrund der positiven Wachstumsdynamik des hybriden Qualifizierungsmodells aus akademischem Studium und beruflicher Tätigkeit, veröffentlichte der Wissenschaftsrat im Jahr 2013 ein Positionspapier mit Empfehlungen zur Entwicklung des dualen Studiums. Darin wird deutlich, dass die TPV eine Doppelfunktion im dualen Studium erfüllt.
Zum einen ist die TPV ein Strukturmerkmal des dualen Studiums. Diese Funktion wird dadurch ersichtlich, dass sich ein Studiengang laut Wissenschaftsrat nur dann als duales Studium qualifiziert, wenn er die folgenden zwei Merkmale aufweist: erstens die Parallelität eines akademischen Studiums und einer beruflichen Tätigkeit. Zweitens eine strukturelle, institutionelle und/oder inhaltliche Verzahnung des akademischen und des beruflichen Lernortes. Ausprägungen und Intensität der Lernortverzahnung können allerdings variieren (WISSENSCHAFTSRAT, 2013).
Zum anderen ist die TPV ein Qualitätskriterium des dualen Studiums. Diese Funktion wird anhand der drei Qualitätsansprüche ersichtlich, die der Wissenschaftsrat für duale Studiengänge spezifiziert: 1) Wissenschaftlichkeit; 2) Qualitätssicherungsmaßnahmen für die Gestaltung des Praxislernens; 3) strukturelle und inhaltliche Verzahnung der Lernorte. Das dritte Qualitätskriterium bezieht sich direkt auf die TPV. Dabei versteht der Wissenschaftsrat unter struktureller Verzahnung „stabile und vertraglich geregelte Kooperationsbeziehungen mit den Praxispartnern“ (WISSENSCHAFTSRAT, 2013, S. 26). Die strukturelle Verzahnung der Lernorte ist wiederum die Grundlage der inhaltlichen Verzahnung im Sinne einer „wechselseitige[n] Bezugnahme praktischer und theoretischer Wissensvermittlung im Studium [...]“ (WISSENSCHAFTSRAT, 2013, S. 28).
Somit ist die TPV im dualen Studium ein Strukturmerkmal (TPV als funktionales Differenzierungskriterium dualer Studiengänge von anderen Studienformaten) und ein Qualitätskriterium (TPV als normativer Bezugspunkt zur Qualitätsbeurteilung dualer Studiengänge). Diese Doppelfunktion verleiht der TPV eine zentrale Bedeutung für das duale Studium. Allerdings ist sie auch eine Ursache für die heterogenen Begriffsverständnisse von TPV: Wenn TPV als Strukturmerkmal des dualen Studiums betrachtet wird, dann konzentriert sich das Begriffsverständnis auf das Vorhandensein oder Fehlen einer strukturellen und inhaltlichen Lernortverzahnung. Wenn TPV als Qualitätskriterium des dualen Studiums betrachtet wird, dann konzentriert sich das Begriffsverständnis auf die Beschaffenheit der strukturellen und inhaltlichen Lernortverzahnung sowie das Erreichen der damit verbundenen Ziele. Viele Publikationen verbinden Elemente beider Funktionen in ihrem Begriffsverständnis (vgl. z. B. BARTH & REISCHL, 2008; KUPFER et al., 2014; MÖRTH & CENDON, 2019; WEISS, 2016). Diese Praxis ist angesichts der Doppelfunktion der TPV angemessen. Sie trägt aber auch zu der definitorischen Heterogenität des TPV-Begriffs bei, sofern Definitionen die Funktionen „Strukturmerkmal“ und „Qualitätskriterium“ ungleich gewichten oder unterschiedliche Teilaspekte betonen. Als Konsequenz dieser konzeptionellen Heterogenität können zum Beispiel gegenläufige Diagnosen und Handlungsempfehlungen zu Fragen der TPV im dualen Studium entstehen, ohne dass die Ursachen dieser Unterschiede transparent sind.
3 Entwicklung eines TPV-Konzepts
Für die Konzeptualisierung von TPV im dualen Studium bedarf es neben dem Verständnis über die Funktionen der TPV auch einer semantischen Grundlegung der Begriffselemente „Theorie“, „Praxis“ und „Verzahnung“ im Kontext des dualen Studiums.
Die Begriffe „Theorie“ und „Praxis“ haben keine semantische Übereinstimmung zwischen ihrer allgemeinen Bedeutung und ihrer kontextspezifischen Verwendung im dualen Studium. So beschreibt der Begriff „Theorie“ allgemein ein System logisch miteinander verknüpfter und widerspruchsfreier Aussagen über einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit (GODFREY-SMITH, 2003). Das TPV-Konzept dehnt den Begriff „Theorie“ schlagwortartig auf das bildungswissenschaftliche Konzept des Theoriewissens, d. h. jede Form von akademischem bzw. wissenschaftsbasiertem Wissen, aus (BAUMERT & KUNTER, 2006; PATRY, 2014). Die alltagssprachliche Bedeutung des Theoriebegriffs im Kontext des dualen Studiums umfasst einerseits das Konzept des Theoriewissens und andererseits die Hochschule als akademischen Lernort. Somit hat der Theoriebegriff im TPV-Konzept eine inhaltliche Dimension (Theorie im Sinne des Wissenstypus „akademisches Wissen“) und eine strukturelle Dimension (Theorie als akademischer Lernort bestehend aus den Akteuren, Regeln sowie Lehr- und Lernformaten an der Hochschule).
In seiner allgemeinen Definition beschreibt der Begriff „Praxis“ zielgerichtete, wiederkehrende und geteilte Handlungsmuster von Individuen in einer sozialen Gruppe oder einem bestimmten funktionalen Kontext (GHERARDI, 2009; ROUSE, 2002). Während des praktischen Handelns erwerben Individuen personengebundenes und kontextspezifisches Erfahrungswissen über Inhalte und Sachverhalte, Prozesse, Personen, Netzwerke sowie Ziele und Werte (BÖHLE & SAUER, 2019; ERLACH et al., 2013; SEVSAY-TEGETHOFF, 2007). Das TPV-Konzept begrenzt den Begriff „Praxis“ inhaltlich auf den funktionalen Kontext der Berufswelt. Die alltagssprachliche Bedeutung des Praxisbegriffs im Kontext des dualen Studiums umfasst einerseits das von Studierenden in ihren Praxisfeldern erworbene Erfahrungswissen und andererseits die Betriebe und Einrichtungen als beruflichen Lernort. Somit hat auch der Praxisbegriff im TPV-Konzept eine inhaltliche Dimension (Praxis im Sinne des Wissenstypus „berufliches Erfahrungswissen“) und eine strukturelle Dimension (Praxis als beruflicher Lerno...