Identität und Profil kirchlicher Einrichtungen im Licht europäischer Rechtsprechung
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Identität und Profil kirchlicher Einrichtungen im Licht europäischer Rechtsprechung

  1. 164 Seiten
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Identität und Profil kirchlicher Einrichtungen im Licht europäischer Rechtsprechung

Über dieses Buch

Was genau ist das "Evangelische" bzw. das "Katholische" an kirchlichen Einrichtungen? Diese früher kaum diskutierte Frage erlangt, gerade durch das europäische Diskriminierungsrecht, immer mehr an Bedeutung. Besonders relevant sind in diesem Zusammenhang die Entscheidungen des EuGH in der Rechtssache Egenberger und Chefarzt. Sie werfen die Frage auf, wer unter welchen Anforderungen in kirchlichen Einrichtungen tätig werden darf.Das Buch enthält vor allem Vorträge einer wissenschaftlichen und zugleich praxisbezogenen öffentlichen Fachtagung, die das Institut für Kirchliches Arbeitsrecht gemeinsam mit der Evangelisch-Theologischen, der Katholisch-Theologischen sowie der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt hat. Erstmals konnten so theologische und juristische Gedanken zusammengebracht werden. Zentral ging es darum, was die Identität kirchlicher Einrichtungen ausmacht, mit welchem Profil sie sich in der Gesellschaft behaupten wollen und wie sie den Herausforderungen der neueren Judikatur begegnen können.

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II. DAS KIRCHLICHE SELBSTBESTIMMUNGSRECHT ZWISCHEN GRUNDGESETZ, EMRK UND DEM RECHT DER EUROPÄISCHEN UNION

Prof. Dr. Christian Walter

1. Einleitung

Ende März 2019 hat das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung (EWDE) Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Bundesarbeitsgerichts in der Rechtssache Egenberger eingelegt.1 Der Fall betrifft die Frage der konfessionellen Bindung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in kirchlichen Einrichtungen. Zusammen mit der sog. Chefarzt-Entscheidung,2 bei der über die Kündigung eines in einem katholischen Krankenhaus beschäftigten Chefarztes wegen dessen Wiederheirat nach einer Scheidung gestritten wird, liefert der Fall Egenberger den Stoff für grundsätzliche Auseinandersetzungen auf zwei sehr unterschiedlichen Ebenen. Zum einen geht es um die Ausgestaltung des kirchlichen Individualarbeitsrechts. Welche besonderen Anforderungen darf ein kirchlicher Arbeitgeber legitimerweise wegen seines religiösen Selbstverständisses an seine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stellen? Angesichts der großen Zahl von Beschäftigten im kirchlichen Bereich ist diese Frage von ganz erheblicher praktischer Bedeutung. Sie steht deshalb zu Recht im Mittelpunkt der heutigen Tagung. Daneben gibt es aber die zweite Ebene des anwendbaren Rechts. Das kirchliche Arbeitsrecht steht an einer in vielerlei Hinsicht sensiblen Schnittstelle: Es geht um Umfang und Grenzen des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften und damit um verfassungsrechtliche Garantien des Grundgesetzes. Es geht um Grund- und Menschenrechte der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und um die korporative Religionsfreiheit der Kirchen und damit neben dem Verfassungsrecht auch um internationale Menschenrechtsgarantien, namentlich der Europäischen Menschenrechtskonvention. Und schließlich geht es um eine unterschiedliche Behandlung aus Gründen der religiösen Zugehörigkeit, was wiederum das Antidiskriminierungsrecht der Europäischen Union auf den Plan ruft. Die Sache wird dadurch besonders heikel, dass jede dieser Rechtsschichten über ein eigenes Gericht verfügt: Über das Grundgesetz wacht das Bundesverfassungsgericht, über die Europäische Menschenrechtskonvention der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und über das Recht der Europäischen Union der Europäische Gerichtshof.
„Diakonie braucht Rechtssicherheit“, so lautet der Titel eines Blogeintrags, den der Präsident der EWDE, Ulrich Lilie, aus Anlass der Erhebung der Verfassungsbeschwerde verfasst hat.3 Auf die Forderung nach Rechtssicherheit wird man sich recht schnell einigen können, wenn man unterstellt, dass Rechtssicherheit auch ein Anliegen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in kirchlichen Einrichtungen ist. Aber Rechtssicherheit ist nicht leicht zu erlangen in einem Bereich, in dem so unterschiedliche rechtliche Vorgaben aufeinander abzustimmen und gegebenenfalls in Ausgleich zu bringen sind. Die nachfolgenden Überlegungen versuchen die Probleme zu strukturieren und abzuschichten, indem zunächst die Prägung und institutionelle Eigenlogik von EGMR, Bundesverfassungsgericht und EuGH als den zentralen gerichtlichen Akteuren analysiert wird (2.). Im nächsten Schritt wird vor diesem Hintergrund die neuere Rechtsprechung des EuGH einer kritischen Würdigung unterzogen (3.). Abschließend wird – knapp – die Frage nach den verfassungsrechtlichen Konsequenzen für die Beurteilung der bereits erhobenen Verfassungsbeschwerde in der Rechtssache Egenberger gestellt und ein Überschreiten des verfassungsrechtlichen Rahmens verneint (4.).

2. Unterschiedliche Rollen und Eigenlogiken von EGMR, Bundesverfassungsgericht und EuGH

2.1 Selbstverständnis des EGMR als Hüter einer pan-europäischen Grundrechtsordnung

Der EGMR ist das gerichtliche Überwachungsorgan einer derzeit 47 Mitgliedstaaten umfassenden europäischen Grundrechtsordnung.4 Diese Grundrechtsordnung reicht vom Atlantik bis hinter den Ural. Sie umfasst Staaten mit höchst unterschiedlichen Verfassungs- und Grundrechtstraditionen, die in Bezug auf das Thema „Religion“ ein laizistisches Modell wie das französische ebenso abbilden wie die Church of England oder Staatskirchen und staatskirchenähnliche Strukturen in Skandinavien, Polen, Griechenland oder Irland.5 Der EGMR hat daraus den Schluss gezogen, dass er den Mitgliedstaaten beim Umgang mit Religionsfragen einen weiten Einschätzungsspielraum belässt und diesen nur auf einen gemeinsamen Minimalstandard prüft.6 Mit einem solchen Ansatz hat er das französische Verbot der Gesichtsverhüllung in der Öffentlichkeit ebenso für konventionskonform erklärt7 wie das Anbringen von Kruzifixen in Klassenzimmern in staatlichen italienischen Schulen.8 Außerdem hat er in drei Entscheidungen aus dem Jahr 2010 die Grundstrukturen des kirchlichen Individualarbeitsrechts in Deutschland gebilligt, aber freilich schon damals den Akzent auf die gerichtliche Überprüfung gelegt und damit in einem Fall einen Konventionsverstoß bejaht.9 Dieser besondere Akzent auf der gerichtlichen Überprüfbarkeit ist in einem spanischen Fall im Jahr 2014 nochmals bestätigt, vielleicht sogar noch verstärkt worden.10 Der Fall, in dem es um einen vom spanischen Staat beschäftigten Religionslehrer im Fach katholische Religion ging, der offen gegen das Zölibatsgebot für katholische Priester eintrat und als inzwischen verheirateter (ehemaliger) katholischer Priester auch persönlich betroffen war, wurde mit der äußerst knappen Mehrheit von 9:8 Stimmen zugunsten Spaniens entschieden, obwohl unter dem Gesichtspunkt der Verkündigungsnähe und unter Berücksichtigung der Aufgaben in der schulischen Lehre wenig Zweifel an der Rechtfertigung einer Nichtverlängerung des Beschäftigungsverhältnisses wegen der Art der konkreten Tätigkeit bestehen konnten.11 In den Gründen wird dabei ausdrücklich die Notwendigkeit der gerichtlichen Kontrolle betont, wenn der Gerichtshof zunächst das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften als Grundlage für Loyalitätsobliegenheiten anerkennt, dann aber fortfährt:
„That being said [dass aus dem Selbstbestimmungsrecht Loyalitätsobliegenheiten abgeleitet werden können, C.W.], a mere allegation by a religious community that there is an actual or potential threat to its autonomy is not sufficient to render any interference with its members’ rights to respect for their private or family life compatible with Article 8 of the Convention. In addition, the religious community in question must also show, in the light of the circumstances of the individual case, that the risk alleged is probable and substantial and that the impugned interference with the right to respect for private life does not go beyond what is necessary to eliminate that risk and does not serve any other purpose unrelated to the exercise of the religious community’s autonomy. Neither should it affect the substance of the right to private and family life. The national courts must ensure that these conditions are satisfied, by conducting an in-depth examination of the circumstances of the case and a thorough balancing exercise between the competing interests at stake.“12
In der Gesamtschau ist die Rechtsprechung des EGMR zur korporativen Rechtspositionen von Religionsgemeinschaften nicht zuletzt deshalb besonders bemerkenswert, weil der EGMR – anders als alle mitgliedstaatlichen Gerichte – in Religionsfragen nicht auf eine gewachsene Struktur eines „Religionsrechts“ zurückgreifen kann.13 Solche Rechtstraditionen haben sich in den meisten innerstaatlichen Rechtsordnungen herausgebildet und geben vielfach eine Grundtendenz vor. Die französische Laizität oder auch das deutsche Modell der freundlichen Kooperation sind offensichtliche Beispiele. Der EGMR musste deshalb die kirchliche Rechtsposition in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten überhaupt erst einmal als eine grund- und menschenrechtliche entwickeln, was er in den genannten Entscheidungen (und auf der Basis früherer Rechtsprechung zu ähnlich gelagerten Problemen der korporativen Religionsfreiheit) überzeugend getan hat.14
Insgesamt stellt die EMRK so einen relativ flexiblen Rahmen bereit, in den sich das deutsche kirchliche Arbeitsrecht einfügen lässt. Bei aller Flexibilität muss man allerdings eine wichtige Grenze beto...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. INHALT
  5. VORWORT
  6. I. BEGRÜSSUNG / EINFÜHRUNG
  7. II. DAS KIRCHLICHE SELBSTBESTIMMUNGSRECHT ZWISCHEN GRUNDGESETZ, EMRK UND DEM RECHT DER EUROPÄISCHEN UNION
  8. III. KIRCHLICHKEIT GESTALTEN
  9. IV. ÖFFENTLICHE THEOLOGIE UND KIRCHLICHE IDENTITÄT IN DER ARBEITSWELT
  10. V. EVANGELISCHES PROFIL – HERAUSFORDERUNGEN FÜR KIRCHE UND DIAKONIE DURCH RECHTSPRECHUNG UND PRAXIS
  11. VI. KIRCHE MIT PROFIL
  12. VII. MODERIERTE DISKUSSION
  13. ANLAGE