Welche Bildung braucht die Wirtschaft?
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Welche Bildung braucht die Wirtschaft?

Antworten aus Wirtschaft, Pädagogik, Wissenschaft, Spiritualität und Politik

  1. 216 Seiten
  2. German
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Welche Bildung braucht die Wirtschaft?

Antworten aus Wirtschaft, Pädagogik, Wissenschaft, Spiritualität und Politik

Über dieses Buch

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen.Verkürztes Gymnasium, PISA-Rankings, verschultes Studium: Im Namen wirtschaftlicher Effizienz haben Reformen die Freiräume des jugendlichen Engagements stark eingeschränkt. Dient das der Wirtschaft tatsächlich, wenn doch Verantwortung nicht durch Auswendiglernen, sondern durch freiwilliges Engagement erwacht und reift? Und wie verhalten sich die Reformen zur Würde des Menschen und zu seinem guten Leben? Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Fachrichtungen suchen in diesem Tagungsband nach Antworten auf die Frage, wie sich eine menschengerechte Bildung und nachhaltige Wirtschaft vereinbaren lassen.

Häufig gestellte Fragen

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Information

Thomas Philipp
Synthese
»Zu einem Lehrer gehört nicht bloß Talent und Wissen, sondern auch Moralität und Pflichtgefühl, und zum Wissen selbst, wenn es nicht ein auswendig gelerntes sein soll, dessen Schule und Universität besser entrathen, wird die eine und das andere erfordert.«
Wilhelm von Humboldt (1809, 108)
Es ist üblich, ja zur leitenden Vorstellung der Bildungspolitik geworden, das Werden des jungen Menschen am Output zu messen und diesen kleinräumig zu kontrollieren und zu steuern. Damit gerät die menschliche Entwicklung unter beständigen Druck; die wirtschaftsförmige Sprache, die jene der Bildung überschwemmt hat, spricht von Menschen und ihrer Reifung gar nicht mehr.
Ein dreifacher Kulturbruch
Das bedeutet einen dreifachen Bruch mit der westlichen Vorstellung vom Menschen. Erstens, so arbeiten mehrere Beiträge heraus, mit dem Menschenbild der Aufklärung. Der Mensch und sein Werden sind in ihrer Eigendynamik und Selbstbestimmung zu achten. Sie dürfen nicht instrumentalisiert werden, auch nicht für angebliche Sachzwänge.
Dieses Menschenbild geht normativ vor. Menschlich ist man nicht einfach, man wird es durch Arbeit an sich selbst: so Herders grundlegende Bestimmung von Bildung als »Emporbildung zur Humanität«[20]. Dieses Menschenbild verlangt von der Vernunft Mündigkeit durch Selbstbildung. Das Argument Michael Hengartners, schon die mittelalterliche Universität habe vor allem die Bereitstellung von Berufsleuten zum Ziel gehabt, gerät mit dieser Norm in Konflikt. Mit der Aufklärung und den Menschenrechten ist ein neues, ethisch höherstehendes Denken in unsere Geschichte eingetreten, das zu Recht kategorische Geltung beansprucht. An ihm haben sich die Bildungsziele, die eine Universität verfolgt, zu messen.
Diese Norm schließt die Anerkennung des anderen als gleichberechtigten Partner ein und darum die Bereitschaft, von seinen Argumenten zu lernen. Von dieser Norm hängt die Demokratie unmittelbar ab. Letztere gibt es, mit Julian Nida-Rümelin (2013, 220), nicht ohne die verantwortliche Person, die sich am Gemeinwohl orientiert und die fähig ist, »sich vom eigenen Interessenstandpunkt zu distanzieren, auch über Interessengegensätze hinweg zu kooperieren, Kompromisse einzugehen«.
Zweitens liegt ein Bruch mit der neuhumanistischen Bildung vor. Statt nützliche Fähigkeiten für die Welt strebt sie ein Gegengewicht zu den Zwängen des Nützlichen und Machbaren an. Sie sucht und fördert die Freude am Wahrnehmen und Entdecken, am Schönen und am Gestalten, am Hören und am schöpferischen Ausdruck seiner selbst. Sie zielt auf den Aufbau starker Idealvorstellungen und Haltungen, die den Menschen aufrichten und seinen Charakter formen. In einer Zeit, welche »die Aufmerksamkeit mehr auf Sachen, als auf Menschen, und mehr auf Massen von Menschen, als auf Individuen, mehr auf äussren Werth und Nuzen als auf innere Schönheit und Genuss«[21] richtet, soll die Auseinandersetzung mit der antiken Dichtung, Philosophie und Ethik, mit Musik und Kunst ein Fundament hervorbringen, das den Stürmen des Lebens trotzt. Der Humanismus rechnet mit mächtigen, aber wenig reflektierten Motivationen in Mensch und Welt und erzieht dazu, ihnen gegenüberzutreten, z. B. mit stoischer Distanz. So jedenfalls das Ideal: Das individuelle Werden lässt sich natürlich auch mit altsprachlicher Grammatik ersticken.
Ebenso radikal fällt der Bruch mit den jüdisch-christlichen Werten aus. Der Mensch soll nicht Schöpfungen seiner Hand zum Götzen erheben, soll keinen Tanz um das goldene Kalb veranstalten (Ex 32): Er ist ja selbst das Bild Gottes (Gen 1,26)! »Wisst ihr nicht, dass ihr der Tempel Gottes seid und der Geist Gottes in Euch wohnt? … Gottes Tempel ist heilig, und der seid ihr«, schreibt Paulus, und: »Zur Freiheit hat Euch Christus befreit. Bleibt daher fest und lasst Euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen!« (1Kor 3,16 f.; Gal 5,1). Für das Christentum geht es zuerst um Menschen, erst danach um das, was sie leisten und beitragen können. »Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat« (Mk 2,27). Gewiss ist das Christentum oft genug als Machtanspruch der Priester aufgetreten; so blieb es hinter seinem Niveau zurück. Aber es waren auch oft Christen, die widersprachen, wo Menschen benutzt wurden.
Die Nähe der biblischen zu den kantischen Aussagen fällt ins Auge. Hier wie dort darf der Mensch keinem fremden Ziel unterstellt werden; er darf sich dem fremden Ziel auch selbst nicht unterordnen. Der Humanismus tritt eher auf wie eine Methode zu diesem Ziel: Indem der junge Mensch möglichst lange vom Sog des Verwertbaren ferngehalten wird, kann er sich gemäß seiner eigenen Anlage entwickeln. Dem Protest der Weimarer Klassik gegen den Rationalismus des 18. Jahrhunderts folgend, zog das deutsche 19. Jahrhundert deshalb – nach ausführlicher Debatte! – den Neuhumanismus dem Utilitarismus der Philanthropinisten vor.[22]
Wie kommt es zur Verwirrung der Sprache?
Auch wenn die Konsequenzen unterschiedlich ausfallen, sind sich doch fast alle Autorinnen und Autoren dieses Bandes einig, dass Rechnen, Messen und Zählen nicht ausreichen, um unserem Bildungswesen Richtung zu geben. Das stellt die Frage hinter den Fragen: Wie kommt unsere Zeit eigentlich auf die eigenwillige Idee, die Sprache des Greifbaren derart stark zu machen, wenn sie vom Menschen und vom Ziel seines Werdens spricht? Das Vertrauen auf das Messen, Rechnen und Zählen ist nicht selbstverständlich, auch wenn es – wie jedes Vertrauen – diesen Eindruck zu erwecken sucht. Es handelt sich um ein durchaus eigenartiges Phänomen. Die folgende Skizze sucht in vier Schritten die Verwirrung zu verstehen, die das erstaunliche Vertrauen in die Sprache der Technik und Kontrolle erst möglich und attraktiv macht.
Erstens ist die Zielvorstellung vom Menschen, auf die hin Bildung geschieht, seit Jahrzehnten im Schlingern begriffen. Seine Unfähigkeit, den Hass in Nationalismus und Rassismus zu erkennen und ihm entgegenzuwirken, hatte das allzu unpolitische deutsche Bildungsideal entwertet. So verdrängte das pragmatische amerikanische »Lernen« (J. Dewey) nach dem Krieg »Bildung« als Leitbegriff der Pädagogik. Aber auch Tiere lernen, sogar Computer. Und wer dressiert, wer programmiert sie? Der Bildungsbegriff verlangt, dass das Subjekt, soweit möglich, selbst diese Verantwortung übernimmt; er entspricht der Ethik der Aufklärung klar besser.
Die Achtundsechziger setzten Erziehung und Gesamtschule ein, um »gesellschaftlich hergestellte Ungleichheit« (Klafki 1985, passim) zu überwinden. Die Besserung der Gesellschaft wurde wichtiger als die Achtsamkeit für das Wachsen des Einzelnen. Diese Pädagogik unterstellte, wie schon Plato, das individuelle Werden dem besseren Wissen der Erzieher – oder ihrer Ideologie. Gegenüber Humanisten wie Humboldt, Montessori oder Baden Powell ein Niveauverlust: »Look at the boy« bietet dem Werden des Einzelnen mehr Wärme und Raum. Die wirtschaftsförmigen Reformen konnte diese Verzweckung der Bildung übernehmen. Selbst in der politischen Instrumentalisierung der Bildung verfangen, brachte die Linke keinen wirksamen Widerstand zustande.
Im Blick auf die Frage, wer und wie ein Mensch sein solle, herrscht Verwirrung. Sie macht anfällig für kurzschlüssige Ideologien. Symptom dessen sind die zahllosen Reformen, welche die Schulen seit Jahrzehnten heimsuchen. Unsere Zeit stellt sich der Verantwortung nicht, durch Dialog und Auseinandersetzung ein tragfähiges und verbindendes Leitbild des gebildeten Menschen zu finden und es verbindlich festzuhalten. Damit bleibt unsere Epoche hinter dem Niveau zurück, das die Aufklärung ihr aufgibt: ein markantes Ethikdefizit.
Zweitens gilt nach dem Ende der »Großen Erzählungen« der Einsatz für Ideale der Gemeinschaft als unüblich und etwas kurios. Der damalige, 2015 verstorbene Rektor der Universität Bern, Urs Würgler, klopfte mir 2010 nach einem kontroversen Podium auf die Schulter: »No verruggd, wie idjalisdisch Dir sid!« – »Erstaunlich, wie idealistisch Sie auftreten!« Er sei heute dem letzten Idealisten an der Universität Bern begegnet. Die Szene wirkte etwas altväterlich; neben einigem Befremden drückte sie wohl auch Respekt aus.
Den Idealismus des persönlichen Einsatzes, des Herzblutes bezieht unsere Zeit auf die Inszenierung seiner selbst in einer ästhetischen Gestalt – und auf den Raum des Privaten: Kleinfamilie, Freundeskreis, Konsum, Karriere. Als Ideal verfolgt werden zuallererst die Paarbeziehung und die Kinder, was beide häufig überfordert. Dass hingegen die gesellschaftliche Welt vom pragmatischen Gewinnstreben, vom Markt regiert wird, hinterfragt unsere Epoche kaum mehr – selbst wenn, etwa im Blick auf den Besitz an Grund und Boden, historisch ­bewährte genossenschaftliche Organisationsformen bereitstünden und menschlichere Verhältnisse versprächen. In gesellschaftlichen Fragen zeigt man keinen Idealismus, lieber gibt man sich desillusioniert. Der gemeinschaftliche Einsatz in Verein, Gewerkschaft und Kirche ist einem langfristigen Abwärtstrend gefangen. Den Einsatz misst man am zu erwartenden Ertrag; wer mit wenig Einsatz durchkommt, gilt als clever.
Nicht selten pflegen Idealisten ein unversöhntes Verhältnis zu Wirklichkeit. Idealismus kann Hass verbergen. Der leuchtende Entwurf, die Identifikation mit ihm kann die Auseinandersetzung mit hässlichem Scheitern ersetzen. Nationalismus, Kommunismus und Faschismus dachten hoch idealistisch, sie wollten einer ungenügenden Wirklichkeit etwas Besseres entgegen- und kämpferisch durchsetzen. In der Magersucht wirkt ein idealisiertes Selbstbild autoaggressiv. Ja: Idealismus ist gefährlich. Es gibt starke Gründe für eine pragmatische Ethik, die den Ball flach zu halten sucht.
Aber ohne Idealismus gibt es auch die Liebe nicht. Zahlreiche Filme – etwa Monsieur Mathieu und seine Kinder, The Mission, Schindler’s list oder Der Club der toten Dichter zeichnen in geradezu messianischem Licht Einzelne, die Idealen folgen. Inmitten finsterer Verhältnisse gibt ihr Idealismus der Menschlichkeit Raum zu keimen und sich selbstständig zu entfalten. Unter Einsatz ihrer Existenz schützen die Helden sie vor äußerem Druck, vor Verletzung und Vernichtung. Unser marktförmiger Pragmatismus stellt diese Figuren in unwirkliches Licht – wenn die Helden sich nicht, wie Frodo Beutlin, Gandalf der Graue oder Harry Potter, von vornherein genötigt sehen, in einen phantastischen Raum auszuweichen.
Ohne Idealismus gibt es auch keine Ethik. Im pragmatischen Gewurstel findet der Lebensprozess kein Gegenüber. Das Maß geht verloren. Es beginnt zu wuchern. Irgendwelche Mächtige setzen ihre Interessen durch. Da griffige Kriterien fehlen, fällt das kaum auf, alles bleibt im Schatten, ist einfach so. Ganz normal. Irgendjemand profitiert immer davon, dass es so ist, wie es ist, auch dann, wenn die Bedingungen eigentlich für alle ungünstig sind. Idealismus ist auch ein Schlüssel, ein Werkzeug der Selbsterkenntnis. Der Mensch ohne Ideale ist blind für die Machtverhältnisse, in denen er lebt. Die Abrichtung der Jugend zu Pragmatismus, Effizienz, Anpassung und Flexibilität dient Machtinteressen.
Der Pragmatismus gibt nur dem äußeren Menschen Form, seinem Streben nach sozialer Anerkennung und Weltbeherrschung. Den inneren Menschen aber, die Dynamik von Sehnsucht, Hoffnung und Hingabe lässt der ergebnisorientierte Pragmatismus und Utilitarismus orientierungslos. Er lässt ihn umstandslos ins Leere gehen.
Das Ideal ist die Form des inneren Menschen. Es schließt objektive Ziele ein, etwa hervorragende Forschung – und geht über sie hinaus. Es bietet der formlosen menschlichen Freiheit eine Gestalt, mit der sie sich identifizieren und dadurch stabilisieren kann. In diesem Sinn nennt der Rektor der Universität Bern, Christian Leumann (2016b, 5), die wissenschaftlichen Integrität das kostbarste akademische Gut, das es bedingungslos zu bewahren gelte: auch gegenüber dem Versuch, Wissenschaft auf Wettbewerb, Konkurrenz oder Erfolg zu reduzieren.
Das bloß Ideale, im engen Sinn Idealistische, ignoriert die materielle und soziale Welt, die bleibend auf den Kompromiss angewiesen ist und damit das Ideale bricht. Demgegenüber rechnet ein humaner Idealismus damit, gebrochen zu werden. Und steht immer wieder auf oder lässt sich wieder aufrichten. Sein Innerstes lässt sich in der sozialen Welt nie ganz realisieren. Wo er sich zeigt, verbirgt er sich auch.
Eine humane Gestalt hat, je neu, beide Elemente, Innen und Außen, Ideal und Pragmatismus, in eine lebendige und verantwortliche Synthese zu fassen. Dabei müssen beide Elemente in ihrer Eigenart respektiert werden. Sie müssen zugleich bewahrt, gebrochen und auf eine höhere Stufe gehoben, also im dreifachen Hegel’schen Sinne aufgehoben werden. Es ist also getrennt zu fragen, welche Ideale man verfolgen möchte, und was die soziale Welt erfordert. Erst auf dieser Basis lässt sich eine lebendige, humane Gestalt finden.
Darum trifft das Argument Michael Hengartners nicht, die Humboldt’sche Universität sei bloßes Ideal geblieben, sei ja nie realisiert worden. Ideale lassen sich nur im Raum des Idealen kritisieren, durch bessere Ideale, aber nie unmittelbar durch eine gegebene Realität. Die Menschenrechte sind ein Ideal, das noch nie voll verwirklicht worden ist. Und kein Rechtssystem erreicht das Ideal der Gerechtigkeit. Es wäre keine gute Idee, deshalb aufzuhören, auf der Geltung dieser Ideale zu bestehen. Ebenso sind die Bildungsideale Rousseaus oder Humboldts nie voll verwirklicht worden, verlangen aber dennoch zu Recht kategorische Geltung. Solange wir ein demokratische und aufgeklärte Kultur bleiben wollen, sind sie unser Schicksal.
Indem es die Universität heute unterlässt, ein Ideal des gebildeten Menschen zu formulieren und die damit verbundenen Spannungen auszutragen, lässt sie den werdenden jungen Menschen allein. Überlässt ihn einer schier undurchdringlichen Orientierungslosigkeit. Die wenigen, die sich ihr entziehen können, stehen in starken familiären oder religiösen Beziehungen. Die große Mehrheit findet sich als Jemand, als Subjekt entmutigt und geschwächt, gegenüber einer massiven Front, die soziale Anpassung fordert und fördert. Für das menschliche und ethische Wachsen und Reifen sind das sehr ungünstige Bedingungen. Die innere Entwicklung kommt, hierin genau wie die Kompetenzen der dinghaften und die Qualitäten der sozialen Welt, ohne ausdrückliches Hinschauen, ohne Auseinandersetzung und Arbeit, ausdauernde Arbeit an sich selbst nicht voran. Ohne Ziele, ohne wenigstens vage Auseinandersetzung damit, wer und was für ein Mensch der jugendliche Jemand sein sollte und möchte; ohne Sprache der Identitätsbildung wächst die Person nicht. Hier liegt eine vordergründige Anpassung derart nah, dass sich das Studium an der Bologna-Universität, mit den Worten einer klugen Psychologiestudentin, wie eine »Anleitung zur Selbstausbeutung« anfühlt. Es sei gar kein Problem, mit den vorgegebenen Stoffpensen umzugehen – solange man den Stoff nicht mit den eigenen Fragen konfrontiere, nicht zu zweifeln beginne, kurz: keinen Bildungsprozess zulasse.
Die vorsichtige Zurückhaltung gegenüber einem großräumigen Engagement zeigt ein geschwächtes, entmutigtes Subjekt, das an sich, an der Möglichkeit tragfähiger Ideale und der Hingabe an sie verzweifelt. Diese Spaltung zwischen Idealismus und politischen Raum zeigt wiederum die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen: ein Ethikdefizit.
Drittens prägt die subjektive Selbstwahrnehmung heute Bewusstsein und Handeln mit. Der Pluralismus erfordert von einem jedem eine psychologische Sprache. Denn um sich in der Flut der Möglichkeiten überhaupt orientieren zu können, muss der Mensch wenigstens vage wissen, welches Selbst er verwirklichen möchte. So prägt er sich individueller aus, muss aber auch mehr Einsamkeit aushalten, ist schärfer mit sich selbst konfrontiert. Viele ringen mit Depressionen, machen Psychotherapien, befassen sich mit Esoterik. Sie halten sich an Imperative wie: »Sei mit dem Jetzt in Kontakt! Spüre deine Lebendigkeit! Verhalte dich so, dass sie erfahrbar wächst!« Auch die etablierte Präsenz der Frauen im öffentlichen Leben trägt zur achtsameren Wahrnehmung emotionaler Zustände bei.
Die Kleinkindforschung lehrt, dass geteilte Emotionen der Ursprung allen menschlichen Werdens sind. »Das Kognitive nimmt seinen Ausgangspunkt in geteilten Emotionen, da die Interpretation des anderen emotionale Gemeinsamkeiten voraussetzt.«[23] Der Austausch von Intentionen, die lebendige, glückende Beziehung findet in einem vorsprachlichen Raum empfundener Qualitäten statt. Die Fähigkeit, sich in Gefühle, in Zustände des Anderen hineinzuversetzen, ist darum Grundlage jeder gebildeten Praxis.
Die Empathie ist ein wichtiger Zugang zum Menschen geworden. Er ist mit der Aufklärung und ihrer Sprache nicht leicht zu vermitteln, weil er nicht nur Inhalte, sondern auch Erkenntnistheorie und Selbstverständnis der Vernunft betrifft. Die aufgeklärte Vernunft versteht sich, auch noch als ästhetische, durchweg als aktiv und beurteilend. Empathie hingegen bedeutet Hören und Entgegennehmen. Sie konfrontiert in Selbst- und Fremdwahrnehmung mit Grenzen, mit dem, was erlitten wird. Empathie schließt die Annahme des Fremden, Widerständigen und Schmerzenden ein. Sie ist schon etymologisch ein passiver Vollzug, etwas ganz anderes als Aufklärung. Kant, der Meister der Kritik, war gegen Ende seines Lebens kaum mehr imstande, sich mit seinen Mitmenschen zu verständigen.
Diese Entwicklung stellt hohe Anforderungen an das Subjekt. Es dient nicht, vor ihnen die Augen zu verschließen. Der Schüler, der die kritische Vernunft entwickeln soll, lebt bei seiner esoterischen Mutter, die Yoga unterrichtet. Die Schülerin in der Effizienzmaschine Gymnasium erlebt die Scheidung der Eltern. Sie ist ganz woanders: Sie weiß nicht, wohin sie gehört, auf welche Beziehungen sie bauen kann. Natürlich sind beide überfordert, die Spannungen zusammenzuhalten. Sie erleben eine zerrissene Welt. Die Menschlichkeit verlangt, dass die Bildungspolitik Verantwortung übernimmt, statt die Jugend alleinzulassen. Sie soll dem Wachsen des ganzen Menschen, nicht nur seines Denkens, dienen.
Es ist leicht nachzufühlen, dass die Hinwendung zu den eigenen Zuständen den Zusammenhalt der Vernunft bedrohen kann: wenn all die inneren, reichlich chaotischen Wahrnehmungen auf einmal Hausrecht im Raum der Vernunft bekommen – werden sie nicht einfach alles überschwemmen? Ist es dann überhaupt noch möglich, einen klaren Gedanken zu fassen und sich auf ihn zu verständigen? Dass namentlich Männer da freie Räume verschließen, die Zügel anziehen und sich am greifbar Nützlichen festhalten, liegt nahe. So betrachtet, liegen Attraktivität und Macht des wirtschaftsförmigen Sprache im Wunsch, die Achtsamkeit für den Zustand der Freiheit abzuwehren, sich die Mühe der Auseinandersetzung mit sich selbst zu sparen: die Sprache der Machbarkeit als Epiphänomen einer weggeschobenen Verantwortung. Wieder zeigt sich ein markantes Zurückbleiben hinter dem Niveau, das die eigene Geschichte dem Westen aufgibt, ein Ethikdefizit.
Ignatius von Loyola hat zu Beginn der Neuzeit ein Leitbild der hörenden Vernunft entwickelt, die das Eigene achtsam wahrnimmt, verkostet, kritisch befragt und im ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Welche Bildung braucht die Wirtschaft?
  2. Inhalt
  3. Niklaus Brantschen: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht
  4. Thomas Philipp: Wonach wir fragen
  5. Wirtschaftliche Stimmen
  6. Thomas Sattelberger: Bildung neu denken – Kreation und Transformation statt Ökonomisierung und Anpassung
  7. Annette Winkler: Fähigkeit zum Widerspruch in großen Hierarchien?
  8. Michael Heim: Reifen, Leisten, Leben – Erfahrungen mit Bologna-Absolventinnen und -Absolventen
  9. Ulrich Jakob Looser: Welche Bildung braucht die Wirtschaft?
  10. Eberhard von Kuenheim: Wider die Ökonomisierung der Bildung
  11. Studentische Stimmen
  12. Tobias Fissler: Bologna als Freiheit zur Unfreiheit – ein Plädoyer für mehr Nüchternheit
  13. Sandro Christensen: Bologna darf bleiben – die Debatte muss bleiben
  14. Mara-Magdalena Häusler: Haben wir vergessen, was wir wollen?
  15. Gabriel S. Zimmerer: Über die Traurigkeit der Bildung und den Trost des inneren Raumes
  16. Adriana Hofer: Stützräder
  17. Selina Abächerli: Wissen – oder meine Fragen finden?
  18. Jonathan Gardy: »Ist das prüfungsrelevant?«
  19. Philosophische und pädagogische Stimmen
  20. Helmut Geiselhart: Offener, spontaner, kreativer: unterwegs zu einem neuen Menschenbild
  21. Carl Bossard: Bildung lebt von Beziehung
  22. Klaus Mertes: Menschenbild und Bildung
  23. Thomas Philipp: Fünf Thesen zur Bildungsethik
  24. Bildungspolitische Stimmen
  25. Michael Hengartner und Anna Däppen-Fellmann: Bologna und/oder Bildung?
  26. Josef Widmer: Folgerungen für die (Bildungs-)Politik – ein systemischer Blick auf die Bildungslandschaft Schweiz
  27. Hans Ambühl: Bildung, Institution und Steuerung
  28. Ausblick
  29. Thomas Philipp: Synthese
  30. Tobias Karcher: Ein Ausblick auf die Arbeit des Lassalle-Institutes
  31. Literatur