Handlungsableitungen für die Praxis
Bisher haben wir zum einen vorherrschende Kommunikations- und Verhaltensformen in Unternehmen betrachtet und die damit verbundenen Einstellungen, Haltungen und Handlungsweisen der Akteure beschrieben. Wir sind der Frage nachgegangen, wie sich dies auf das psychische Wohlbefinden bzw. Missempfinden der im System arbeitenden Menschen auswirken kann. Deutlich wurde, dass durch die Verhaltens- und Kommunikationsformen in Unternehmen entscheidende Weichen für die Gesundheit der Mitarbeiter gestellt werden. Es können also dadurch wesentliche primärpräventive Zeichen gesetzt werden.
Auf die Situation von psychisch auffälligen Mitarbeitern wurde eingegangen und die Auswirkungen auf die einzelnen Akteure wurden erörtert. Ist es zu Auffälligkeiten gekommen, können nur noch sekundärpräventive Maßnahmen eine Rolle spielen.
Für beide Situationen gibt es unterschiedliche Handlungsstrategien. Da betriebliche Akteure sowohl vor der Herausforderung stehen, psychische Belastungsfaktoren bei der Arbeit frühzeitig zu ermitteln und Maßnahmen zu deren Minimierung zu ergreifen, als auch zunehmend Handlungsstrategien des Umgangs mit Betroffenen umzusetzen, wird dieses Kapitel sowohl primärpräventive als auch sekundärpräventive Handlungsoptionen aufzeigen.
Um in beiden Fällen angemessen agieren zu können, werden im Folgenden Möglichkeiten zur gesundheits- und situationsgerechten Gestaltung von organisationalen und interpersonellen Kommunikationsprozessen vorgestellt.
Gesundheit als Lust vermitteln: Primärpräventive Strategie im Unternehmen
»Es ist an der Zeit, dass wir damit aufhören, uns – neurobiologisch betrachtet – nicht nur dauernd die Lust zu nehmen, sondern uns auch dauernd gegenseitig weh zu tun. Mit Achselzucken und der Bemerkung, das System sei nun mal so, ist nicht geholfen. Wir können es ändern.«
(Spitzer 2008, 371)
Die bisherigen Ausführungen haben verdeutlicht, dass die Durchsetzung von Gesundheitsmaßnahmen widersprüchlich erlebt wird: einerseits als Bedürfnis, andererseits als Pflicht und Last. Damit eine Sache keine notwendige Pflicht bzw. nicht ein lästiges Übel ist, bedarf es einer positiven emotionalen Besetzung und Identifikation – oder anders gesagt: Es bedarf einer Lust. Wann verspüren wir Lust dazu, etwas zu tun, etwas anders zu tun, uns auf Neues einzulassen? In der Regel, wenn wir Spaß haben, neugierig sind, wenn wir das Gefühl haben, dass uns etwas gut tut, dass wir einen Gewinn für uns persönlich verbuchen können und wenn wir uns als Individuum bedeutsam innerhalb einer Gemeinschaft erleben können.
Will man Gesundheit als Lust vermitteln, sind Erkenntnisse der Hirnforschung hilfreich, die sich entsprechend des derzeitigen Erkenntnisstandes im Wesentlichen folgendermaßen zusammenfassen lassen (nachfolgende Aufzählung angelehnt an Hüther 2010; Spitzer 2004/2008 und 2007):
• Positive Stimmungen fördern die kognitiven Leistungen.
• Negative Gefühle behindern das Denken und Lernen.
• Dauerhaft negative Gefühle führen zur dauerhaften Abnahme der kognitiven Leistungsfähigkeit und zu destruktiven Veränderungen der Hirnstrukturen.
• Positive Erfahrungen hingegen fördern die Neuroplastizität, also in konstruktivem Sinne auch neue Hirnstrukturen.
• Der Mensch lernt durch Interaktion mit der Umwelt und durch Gemeinschaft.
• In seinen kognitiven Prozessen verarbeitet er eher neuartige und bedeutsame Informationen dauerhaft.
• Emotionen sind für das Lernen und die Veränderung persönlicher Ziele von Bedeutung.
• Innere Bilder entstehen durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt und sich selbst.
• Durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt können vorhandene innere Bilder verändert und dadurch Denken, Fühlen und Handeln beeinflusst werden.
• Denken, Fühlen und Handeln wirken prägend und damit für den Menschen lebensbegleitend und lebensgestaltend.
Was heißt das für den Umgang mit gesundheitsrelevanten Themen allgemein und der Thematik der psychischen Belastungen und Störungen insbesondere?
Positive Stimmungen lassen sich durch die Ermöglichung von Interaktion der Individuen in der Gemeinschaft erreichen, das Schaffen von inneren dialogischen Zwischenräumen in allen Hierarchieebenen einer Organisation, eine gute Fehlerkultur – kurz gesagt durch eine gesundheitsförderliche Unternehmenskultur. Das ist nicht neu. Diese Elemente beschreiben die Hygienefaktoren für Arbeit und stammen aus den Modellen von Herzberg (1967) sowie Hackman / Oldham (1976/1980). Die hierarchieübergreifende Beziehungsgestaltung der Interaktionspartner ist als Schlüsselelement einer gesundheitsförderlichen Unternehmenskultur anzusehen. Eine »Einweg-dimensionierte« Kommunikationskultur zwischen direkten Vorgesetzten und Mitarbeitern, wie sie mitunter in Empfehlungen für Führungsverhalten dargestellt wird, reicht nicht aus. Führungskräfte als eine Mischung von Kümmerern und die Kommunikation mit ihren Mitarbeitern steuernde und gestaltende Kraft zu beschreiben, die sich für die Belange der ihnen anvertrauten Personen interessieren, sie in Entscheidungen einbeziehen und wertschätzend mit ihnen umgehen sollen, greift zu kurz. Kommunikation ist mehrdimensional und wird durch die Vielfalt der inneren und äußeren Bedingungen der Interaktionspartner bestimmt. Vielmehr sollte deshalb eine Unternehmens- und Kommunikationskultur auf Augenhöhe, und nach den Grundsätzen Antonovskys nach Verstehbarkeit, Erklärbarkeit, Sinnhaftigkeit, Handhabbarkeit angestrebt werden, die eine Gewissheit auf Rückgriffmöglichkeiten von Ressourcenwissen ermöglicht und das über alle Hierarchieebenen hinweg. Gerade der Rückgriff auf Ressourcenwissen kann Lust auf Beteiligung, Aktivität und Kreativität für gemeinschaftliche Aktionen erzeugen, weil hier das Bedürfnis nach Interaktion in der Gemeinschaft, Selbstentfaltung und Sinnhaftigkeit des Handelns zum eigenen und zum Wohle aller erfüllt werden kann. Lust entsteht aus eigenem Antrieb, nicht nach Vorschrift oder Angebot. Unternehmen würden sehr viel erreichen, wenn ihre Organisationseinheiten in Eigenverantwortung und mit eigenem Budget ihre sie bewegenden Gesundheitsthemen platzieren, organisieren und durchführen könnten.
Eine solche Kultur erfordert ein radikales Umdenken bezüglich Organisationsstrukturen und Kommunikationsformen, das Gewähren von Raum und Zeit für Reflexion und damit verbundener Achtsamkeit dem Selbst jedes einzelnen und der Organisation gegenüber.
Reflexionsphasen in Meetings einbauen: Zwei Beispiele
Kommunikation so zu gestalten, dass sie Reflexion und einen achtsamen Umgang mit den eigenen Bedürfnissen, Werten und Haltungen in Formen der Personalkommunikation integriert, soll im Folgenden am Beispiel einer Arbeitsschutzausschusssitzung und projektbegleitender Meetings aufgezeigt werden.
Wie könnte das beispielsweise in Verbindung mit dem Thema Gesundheitsquote in einem Großunternehmen erfolgen?
Das Thema Gesundheitsquote löst nach unseren Erfahrungen oft kontroverse Diskussionen in den Unternehmen aus. Grund dafür ist weniger der Umgang mit der Veröffentlichung der Ergebnisse, sondern vielmehr die mangelnde Beschäftigung mit den Ergebnissen nach der Veröffentlichung. In den Arbeitsschutzausschüssen (ASA), die das Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) vorschreibt, und in den Arbeitskreisen Gesundheit sind in der Regel dieselben betrieblichen Akteure des Arbeits- und Gesundheitsschutzes nicht selten in Personalunion vertreten. Beispielsweise regelt das ASiG die Zusammensetzung des ASA folgendermaßen (vgl. § 11 ASiG):
– Arbeitgeber oder ein von ihm Beauftragter,
– zwei Betriebsräte,
– Betriebsärzte,
– Fachkräfte für Arbeitssicherheit,
– Sicherheitsbeauftragte.
Für die Diskussion des Themas Gesundheitsquote wäre es sinnvoll, eine gemeinsame Sitzung von Arbeitskreis Gesundheit und ASA einzuberufen, zumal beide Gremien in den Unternehmen häufig durch dieselben Akteure besetzt werden. Im Mittelpunkt sollte die Erarbeitung einer Strategie für den Umgang mit dem Thema Gesundheitsquote stehen.
Um die Kommunikation zwischen den Beteiligten wirklich zu fördern, bedarf es des Zugangs zu den »Innerungen« (Erfahrungen, Gedanken, Gefühle) der Beteiligten. Eine wertschätzende, lösungsorientierte gesundheitsgerechte Kommunikation, gesundheitsgerecht in der Sache und in der Beziehungsgestaltung, kann durch folgende Vorgehensweise erreicht werden:
– Versendung der Ergebnisse der Gesundheitsquoten mit der Einladung rechtzeitig vor der Sitzung,
– unerwarteter Einstieg in die Sitzung durch Durchführung einer Aufstellung (vgl. Besser 2010, 83–87) der Anwesenden zu folgenden möglichen Fragestellungen unter Vorgabe eines Kontinuums zwischen »gar kein«/ »gar nicht« und »groß«/»sehr«: 1. Welchen Nutzen hat die Ermittlung einer Gesundheitsquote für unser Unternehmen? 2. Wie zufrieden sind Sie mit der Kommunikation der Ergebnisse?
– Reflexionsphase zu den Aufstellungen,
– Einwandbehandlung (vgl. ebd., 60–70) des Für und Wider eines veränderten Umgangs mit der Kommunikation der Erhebungsergebnisse der Gesundheitsquote, Aufdecken der positiven Absichten bzw. des versteckten Nutzens der Einwände (vgl. ebd., 64),
– Generieren von Ideen,
– Eingrenzen von Ideen,
– Ableiten von Schlussfolgerungen für die weitere Vorgehensweise mit dem Thema Gesundheit, Erarbeiten von Reflexionsfragen für die Zeit ›danach‹,
– Vereinbarung eines Rückschautermins mit Bearbeitung der vereinbarten Reflexionsfragen nach beispielsweise einem viertel Jahr (in der Folgesitzung), um die Wirksamkeit der getroffenen Vereinbarungen zu prüfen.
Vorteile dieser Herangehensweise aus Sicht der Erkenntnisse der Kommunikationspsychologie und der Neurobiologie sind:
• Durch die Aufstellung wird ein Meinungsbild visualisiert, das verbal selten den wirklichen Zustand des Umgangs mit der Thematik so transparent darlegen würde. Das äußere Bild entsteht durch einen zunächst vollzogenen inneren Dialog jedes Einzelnen mit sich selbst und auf das Kernthema fokussiert. Durch die Bewegung im Raum werden die unbewussten kognitiven Inhalte der Individuen genutzt und gleichzeitig der innere Zustand der Organisation äußerlich verdeutlicht. Die anschließenden moderierten Reflexionsphasen ermöglichen den äußeren Dialog. Die Einheit von Denken, Fühlen, Empfinden und Handeln kann durch die Aufstellung gefördert und erlebt werden.
• Durch das Aufbrechen eines typischen Sitzungssettings (meist in U-Form mit Präsidium für den Besprechungsleiter) wird der Fokus der Kommunikation weg von einer einwegorientierten hin zu einer vernetzten Kommunikation aller Akteure gelenkt. Der Austausch kann auf Augenhöhe, sowohl verbal, als auch nonverbal erfolgen.
• Die Einwandbehandlung ermöglicht den Teilnehmenden Einblicke in die Gedankenwelt eines »vermeintlichen Gegners«. Sie nimmt die vielleicht durchaus berechtigten Überlegungen des Gesprächspartners ernst und bezieht sie in Lösungsansätze ein. Das verhindert übergestülpte Maßnahmen in den Umsetzungsphasen.
• Das gemeinsame Ableiten von Schlussfolgerungen ermöglicht gegenseitiges Feedback.
• Gemeinsam erarbeitete Reflexionsfragen für die Zeit danach befördern die Übernahme von Verantwortung durch die Beteiligten für den Prozess.
Die vorgeschlagene Vorgehensweise eröffnet nicht nur den Weg für eine Kommunikation auf der Erwachsenen-Ich-Ebene und ist neurobiologisch begründet, sie trägt ebenfalls zum Erleben von Selbstwirksamkeit der beteiligten Akteure bei und leistet dadurch einen Beitrag im Sinne des Salutogeneseansatzes mit den Komponenten Sinnhaftigkeit, Erklärbarkeit, Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Nutzung von Ressourcenwissen.
Der Aspekt Selbstreflexion soll auch im Zusammenhang mit der Prozessgestaltung unternehmerischer Projekte betrachtet werden. Dabei geht es um eine selbstverständliche Integration gesundheitsrelevanter Fragestellungen in das Projektgeschehen, ohne dabei das Thema Gesundheit aufzusetzen. Vielmehr geht es um die Ermöglichung einer ganzheitlichen Prozessbetrachtung während der Umsetzung eines Projekts. Eine Reihe von Gesundheitstagen, Trainings oder andere Aktionen werden durch die Zielgruppen aus unserer Erfahrung aufgrund der allgemeinen Arbeitssituation und unternehmenskulturellen Bedingungen häufig als unpassend oder wirkungsarm erlebt. Sie könnten eingespart werden, wenn kurze Reflexionsphasen für Teams oder für deren Mitglieder im Rahmen der Erfüllung ihrer Projekte angeregt und ermöglicht würden. Deshalb wäre es beispielsweise im Rahmen des Controllings bei Projektumsetzungen sinnvoll, nicht nur auf die Einhaltung von Zeitfenstern und Kennzahlen zu schauen, sondern ebenso Reflexionsfragen unter dem Thema ›Was & Wie‹ einzubauen:
– Was ist in der zurückliegenden Projektphase passiert?
– Wie habe ich die Projektgruppe während der zurückliegenden Projektphase erlebt?
– Was ist mit mir passiert?
– Wie habe ich mich erlebt?
– Wovon will ich in der kommenden Phase mehr erleben?
– Was will ich nicht noch einmal erleben?
Die Durchführung könnte entweder als Schreibgespräch mit anschließender Austauschphase oder als Gruppengespräch mit Installation eines »Metaphernohres« (vgl. Besser 2010, 12–15) erfolgen. Das Schreibgespräch ist eine Methode in der Erwachsenenbildung, bei der den Teilnehmenden im schriftsprachlichen Austausch, auch durch das Aufzeichnen von Symbolen, der selbstreflexive Umgang mit bestimmten Fragestellungen ermöglicht wird. Dem Gruppengespräch mit Metaphernohr kann je nach Größe der Gruppe eine fünfminütige paarweise Austauschphase zu den Fragestellungen vorgeschaltet sein...